Mystik, Meditation und das Mentale
"Fange damit an, dass du über dich selbst nachdenkst, damit du dich nicht selbstvergessen nach anderem ausstreckst", schrieb der Zisterzienser-Abt Bernhard von Clairvaux, um den Weg zu mystischen Erfahrung, zur Kontemplation zu weisen. Meditation und Mystik ist also keineswegs nur Bestandteil fernöstlicher Religionen, sondern Teil jedes Glaubens. Der Weg zur mystischen Erfahrung ist jedoch schwer zu begehen.
"Es gibt eine Erkenntnisebene, die das Mentale, das Rationale übersteigt. Und wir haben sie in uns. Was uns daran hindert ist das Ich-Bewusstsein, das etwas absolut Positives ist. Es macht uns zu Menschen, was aber gleichzeitig eine Eingrenzung ist, ja. Wir - das sagt uns die Naturwissenschaft - kreieren die Welt."
Willigis Jäger, Benediktiner-Pater, Zen-Meister und einer der bekanntesten christlichen Mystiker der Neuzeit.
"Die Wirklichkeit ist etwas ganz anderes als wir meinen, dass sie ist. Und diese wirkliche Wirklichkeit, das was hinter diesem Vordergründigen steht, ist die Erfahrung der Mystik."
Die mystische Form der Kontemplation findet sich laut Jäger in allen Religionen. Die bekannteste Übung im Christentum ist in der Ostkirche das Jesusgebet und in die Westkirche das Herzensgebet. Willigis Jäger hat in Japan den Zen kennen gelernt, praktiziert und lehrt seitdem den mystischen Weg. Auf der Erfahrungsebene, sagt Jäger, sind alle mystischen Wege gleichwertig. Trotz seines Lehrverbots, das ihm vom Vatikan auferlegt wurde, fühlt sich der 82-jährige Benediktiner-Pater dazu berufen, den Menschen den Weg der Mystik zu weisen. Auch mittels seiner Bücher.
"Diese ganze Wirklichkeit ist da. Gott ist eigentlich immer voll und ganz da. Dieses absolute Bewusstsein, nicht begreifen, das ist immer voll und ganz da. Aber wir Menschen können es nicht begreifen, darum sagt ja Meister Eckhart: Deine Empfänglichkeitsanlage muss größer werden, damit du mehr begreifst, von dem was Wirklichkeit ist."
Viele sind auf der Suche nach spirituellen Erfahrungen. Wolfgang Lenk ist Pastor und ehemaliger Meditationsbeauftragter der Nordelbischen Kirche (NEK) in Hamburg. Er meditiert seit Mitte der sechziger Jahre und begleitet Übende in der Meditation.
"Und viele Menschen machen erst mal Erfahrungen mit Zen mit allem möglichen anderen, merken aber, je tiefer sie in einen religiösen Übungsweg eintreten, desto mehr bekommen sie es auch mit den tiefen Schichten ihrer eigenen Person zu tun. Und die sind nicht nur individuell geprägt, sondern wir leben eben in einem Kulturkreis, der bis tief in die Tiefen unserer Seele hinein unser Wesen prägt. Und manche merken dann, sie können eigentlich nur weiter vertiefen, indem sie einen bewussten Bruch mit dem Christentum vollziehen, aus dem sie herkommen, oder den Bruch noch einmal vertiefen."
Doch nur von wenigen christlichen Mystikern sind exakte Anweisungen und Übungswege überliefert.
"Es war eine ziemliche Recherchearbeit, diese Stellen überhaupt zu finden, weil die Mystiker sich doch in der Regel auf ihre eigenen Erlebnisse stützen. Das heißt, ihre Ekstaseerlebnisse schildern und weniger den Weg beschreiben, wie sie dahin gelangen."
Der Autor und Germanist Richard Reschika hat über die Praxis christlicher Mystik ein Buch geschrieben, in dem er nicht weniger als 80 Übungen aus der christlichen spirituellen Überlieferung vorstellt. Von den Wüstenvätern, über Franz von Assisi, Mechthild von Magdeburg bis in die Neuzeit hinein.
"Auf der einen Seite handelt es sich um Erlebnisse, die Jenseits des Diskursiven, des logischen Denkens stattgefunden haben und für die sie auch keine Sprache gefunden haben. Das Dilemma war, die Möglichkeit entweder darüber in Schweigen zu verfallen oder zu versuchen, diese Erlebnisse zu artikulieren, zu kommunizieren, sie anderen mitzuteilen. Dabei griffen die Mystiker zum Teil auf alle möglichen Tricks - sag ich mal - auf Paradoxien, auf Antithesen zurück, im glücklichsten Falle sind die Mystiker dabei ja auch zu großartigen Dichtern geworden, um sozusagen das Unaussprechliche wenigsten Andeutungsweise fassen zu können."
Bernhard von Clairvaux war bis zu seinem Tod im Jahr 1153 Zisterzienser-Abt in dem gleichnamigen Kloster in Frankreich und hatte sich als Prediger einen Namen in ganz Europa gemacht. Von ihm stammt zum Beispiel folgende Empfehlung:
"Fange damit an, dass du über dich selbst nachdenkst, damit du dich nicht selbstvergessen nach anderem ausstreckst. Was nützt es dir, wenn du die ganze Welt gewinnst und einzig dich verlierst? Denn wärest du auch weise, so würde dir doch etwas zur Weisheit fehlen, solange du dich nicht selbst in der Hand hast. Wie viel dir fehlen würde? Meiner Ansicht nach alles. Du könntest alle Geheimnisse kennen, du könntest die Weiten der Erde kennen, die Höhen des Himmels, die Tiefen des Meeres. Wenn du sich selbst nicht kennen würdest, glichst du jemandem, der ein Gebäude ohne Fundament aufrichtet, der eine Ruine, kein Bauwerk aufstellt. Alles, was du außerhalb deiner selbst aufbaust, wird wie ein Staubhaufen sein, der jedem Wind preisgegeben ist."
So bildhaft beschreibt Bernhard von Clairvaux vor achteinhalb Jahrhunderten den mystischen Weg, der über die Erkenntnis des eigenen Wesens führt. Auch der Straßburger Dominikanermönch Johannes Tauler, ein Schüler Meister Eckharts, betonte zwei Jahrhunderte später die Selbsterkenntnis als Weg zu Gott. Selbsterkenntnis und Selbstannahme sind auch in der modernen Psychologie wichtige Faktoren der Daseinsbejahung. Richard Reschika noch einmal:
"Auf den ersten Blick mag es paradox anmuten, dass die christlichen Mystiker gerade auf die Selbstannahme des Ichs pochen. Weil es ja bei vielen Übungen gerade darum geht, das Ich oder das Selbst loszulassen. Aber die Mystiker haben natürlich sehr klar und scharf gesehen, dass der Mensch sich annehmen muss, um auch andere lieben zu können. Das heißt dann auch in die Welt zu gehen und tätig zu werden, dass also die Ich-Annahme eine Grundvoraussetzung ist."
"Ich denke, letztlich zielt jede Meditation auf ein tiefes Einverstanden sein. Also ich stelle mich ein - theologisch gesprochen auf die Ursprungssituation - und Gott sah an, alles was er geschaffen hatte, siehe es war sehr gut. Ich stelle mich ein auf diese große Zustimmung, das große Ja Gottes."
Wolfgang Lenk, Meditationslehrer.
"Trotz alledem was da an Nicht-bejahenswertem Auftauchen mag. Also an der Stelle hat mich der Weg der Meditation auch immer stärker an eine Auseinandersetzung mit dem Grundansatz vieler theologischer Strömungen geführt, die erstmal davon ausgeht, der Mensch ist Sünder. Nein, der Mensch ist Gottes geliebtes Geschöpf und er hat auch grundlegend die Anlage zu verfehlen, am Leben, an Gott, an sich selbst vorbei zu leben. In diesem Sinne ist er auch Sünder. Aber das Tragende, Grundlegende ist: Ja, du bist Gottes geliebtes Geschöpf. Wo ich mich darauf einstelle in der Meditation wächst unweigerlich auch das Ja zu meinem eigenen Leben. Aber das geht dann oft nur durch Krisen durch. Das heißt, in dem Augenblick, wo ich mein Leben auf Gott hin ausrichte, nehme ich auch selbst in meinem Leben, in seinen ganzen Abgründen wahr. Und das führt dann manchmal auch durch Phasen der Verzweiflung und das ist der Grund weshalb alle großen Meditationstraditionen sagen: Bitte nicht allein, sondern such dir einen Menschen, der dich begleiten kann, der dir an Erfahrung voraus ist. Du wirst auf dem Weg der Meditation auch in Untiefen geraten."
Diese Krisen sind von vielen Mystikern überliefert und werden oft als spirituelle Reinigungsprozesse betrachtet. Von Ignatius von Loyola, dem Begründer des Jesuiten-Ordens, wird berichtet, dass ihm eine eindringliche Schau zufiel, dass er die ganze Welt verwandelt sah, nicht mehr Bilder der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst, den Grund der Dinge. Auf Ignatius geht auch eine Atempraxis beim Beten in seinen geistlichen Übungen zurück. Zwischen jedem Atemzug spricht man ein Wort aus dem Vaterunser oder einem anderen Gebet.
"Also, ich selber habe diese Vater-unser-Atemkombination nicht gemacht. Ich bin da vom betrachtenden Gebet zum Herzensgebet tatsächlich auch gekommen, das ist meine bis heute tragende Übungsweise. Ich bin selbst wenn ich das Herzensgebet unterrichte vorsichtig mit der Kombination von Atem und Gebetswort, weil für viele Menschen in unserer Zivilisation sehr schnell die Atemwahrnehmung zur Atemmanipulation wird und das ist nicht gesund. Von daher, die klassische Gebetstradition des Herzensgebet beginnt überhaupt nicht mit einer Kombination mit Körperfunktion, sondern schlicht mit dem rosenkranzmäßigen Wiederholen des Gebetswortes. Es wird immer wieder, wieder gesprochen und irgendwann stellt sich mehr oder weniger von alleine ein Zusammenklang mit Körperrhythmen und dem Gebetswort ein."
Letztlich kann neben der Formel "Herr, erbarme dich meiner" auch jedes andere Bibelwort zu einem Gebetswort verdichtet werden.
"Aber dabei geht es nicht primär darum, das Wort zu wiederholen, sondern in eine Haltung liebender Aufmerksamkeit zu finden, zu diesem kontemplativen Element, ich sehe auf Gott, er sieht auf mich und wir sind zusammen glücklich."
Meister Eckhart gilt als einer der größten Mystiker des Mittelalters. Der Dominikanermönch aus Erfurt lehrte in Paris und Köln. Seine Predigten und Traktate richteten sich an Nonnen, Mitbrüder und Laien gleichermaßen und er schrieb auf Deutsch. In folgender Übung von Meister Eckhart geht es um das innere Leerwerden, das Ausblenden von Bildern, Gefühlen und Gedanken, als Voraussetzungen für die Unio mystica.
"Wer sich vorbereitet zum Erwachen seines inneren Menschen und zur Erkenntnis von Gottes Wesen, sollte ungestört an ruhiger Stätte sein. Der Körper soll ausgeruht sein von allem Tun, nicht nur der Hände, auch der Zunge und aller andern Sinne. Sein Inneres nimmt man am Besten schweigend wahr. Soll das Herz recht bereitet werden, muss es sich ins reine Nichts versenken. Nimm hierfür ein Gleichnis aus dem Leben: Will ich auf einer Tafel schreiben, und darauf steht schon etwas - es mag noch so schön sein - beirrt mich das. Will ich etwas schreiben, muss ich zuvor tilgen, was auf der Tafel steht. Zum Schreiben eignet sich eine Tafel nur, wenn nichts drauf steht. Was empfangen will, muss zuvor leer sein. Das Nicht-Haben, das Ausgeleert-Sein kehrt die Natur um: Ein luftleerer Raum macht Wasser bergauf steigen. Je mehr der Mensch sich entfernt von aller äußerer Geschäftigkeit, umso mehr eilt Gott ihm zu."
"Das heißt der Versuch, nichts von dem Aufzunehmen, was vor dem inneren Auge auftaucht. Vielmehr lässt man alles an sich vorbei ziehen, wird gleichsam zu einem Spiegel, der zwar alles reflektiert, der sich aber letzten Endes mit nichts identifiziert und so Raum für das einströmende Absolute schafft mit dem man sich dann verbinden kann."
"Meister Eckhart spricht ja sehr paradox, gegen den Anschein und sie werden auch merken, die religiöse Sprache kommt ohne die Paradoxien nicht aus."
Pater Thomas Krauth, Dominikanermönch und Prior des Klosters in Hamburg-Barmbek
"Wichtig ist, dass man, oder dass ich - und das tue ich auch - mich nicht einschüchtern lasse von den Dingen, die sich nicht verstehe, sondern wo ich ein Gespür dafür entwickel, einen Sensus dafür entwickel, was mir etwas gibt und wo ich glaube, wo es langgeht. Es gibt überall Möglichkeiten sich auf das göttliche Geheimnis einzulassen."
Tatsächlich gehört Eckhart nicht nur zu den berühmtesten Mystikern, sondern auch zu denjenigen, die am schwersten zu verstehen sind. Prior Thomas Krauth sagt, dass der Übende am Ende alle Bilder und Vorstellungen loslassen muss.
"Es geht um Präsenz, auch um Lassen-können, auch von schönen Erfahrungen. Das ist ja ganz wichtig bei Meister Eckhart, das sich lösen und das sich binden an Gott. Und nur der Mensch, der freieste Mensch ist der, der sich bindet, der die Liebe ist, der das Ja zu jedem Menschen ist, ob er es weiß oder nicht. Ob er es fühlt oder nicht. Bei Eckhart ist Gott nicht der Gott des Gefühls. Viele Menschen meinen, wenn sie keine Empfindungen haben, dann ist Gott weg. Nein. Das ist ein Kriterium, dass sie dem Gott des Gefühls huldigen."
Auch Willigis Jäger kennt das Loslassen, das man einüben kann. Das gelingt jedoch nicht in einem Schritt oder gar mit Absicht.
"Sie können nicht mit Absicht Violine spielen lernen. Wir müssen einfach üben. Es bilden sich dann im Gehirn neue Synapsen, neue Neuronen-Ströme. Es geschieht also etwas im ganzen Menschen, wenn sie einen solchen Übungsweg gehen und genauso ist es mit diesem mystischen Weg, ja. Es ist ein Weg der den Menschen von innen her verändert, ja. Verwandelt! Bis jetzt bekamen wir immer gesagt du sollst, du kannst, du darfst nicht –-das hat nicht viel genützt! Und dieser Weg verwandelt den Menschen von Innen."
Willigis Jäger sagt, dass die Kirchen sich vom ganzen Ballast ihrer Tradition befreien müssten, um Platz für eine weitere Entwicklung zu geben. Es sieht so aus, als müsste auch der einzelne diese Entwicklung durchmachen.
"Die Mystik setzt in dem Moment an, wo der einzelne merkt, diese kollektiven Glaubensinhalte sind schön und haben mich eine Zeitlang getragen, aber ich merke plötzlich, sie führen mich nicht weiter. Und genau das ist der Punkt, an dem ich einzelne entweder die christliche Tradition kippen müssen, weil sie weitergehen müssen, oder aber wo sie entdecken, ja es gibt auch innerhalb der christlichen Tradition Übungswege, die mich mehr in die Tiefe führen."
Es gibt sicher Gründe, warum es bislang noch keinen Lehrstuhl für Mystik an den kirchlichen Fakultäten der Hochschulen gibt. Mystiker kümmern sich nicht um Hierarchien oder stellen sie sogar in Frage. Nach dem Tode der spanischen Mystikerin Theresa von Avila im Jahr 1582 fand man einen Zettel in ihrem Gebetbuch, darauf stand: Solo dios basta – Gott allein genügt.
Willigis Jäger, Benediktiner-Pater, Zen-Meister und einer der bekanntesten christlichen Mystiker der Neuzeit.
"Die Wirklichkeit ist etwas ganz anderes als wir meinen, dass sie ist. Und diese wirkliche Wirklichkeit, das was hinter diesem Vordergründigen steht, ist die Erfahrung der Mystik."
Die mystische Form der Kontemplation findet sich laut Jäger in allen Religionen. Die bekannteste Übung im Christentum ist in der Ostkirche das Jesusgebet und in die Westkirche das Herzensgebet. Willigis Jäger hat in Japan den Zen kennen gelernt, praktiziert und lehrt seitdem den mystischen Weg. Auf der Erfahrungsebene, sagt Jäger, sind alle mystischen Wege gleichwertig. Trotz seines Lehrverbots, das ihm vom Vatikan auferlegt wurde, fühlt sich der 82-jährige Benediktiner-Pater dazu berufen, den Menschen den Weg der Mystik zu weisen. Auch mittels seiner Bücher.
"Diese ganze Wirklichkeit ist da. Gott ist eigentlich immer voll und ganz da. Dieses absolute Bewusstsein, nicht begreifen, das ist immer voll und ganz da. Aber wir Menschen können es nicht begreifen, darum sagt ja Meister Eckhart: Deine Empfänglichkeitsanlage muss größer werden, damit du mehr begreifst, von dem was Wirklichkeit ist."
Viele sind auf der Suche nach spirituellen Erfahrungen. Wolfgang Lenk ist Pastor und ehemaliger Meditationsbeauftragter der Nordelbischen Kirche (NEK) in Hamburg. Er meditiert seit Mitte der sechziger Jahre und begleitet Übende in der Meditation.
"Und viele Menschen machen erst mal Erfahrungen mit Zen mit allem möglichen anderen, merken aber, je tiefer sie in einen religiösen Übungsweg eintreten, desto mehr bekommen sie es auch mit den tiefen Schichten ihrer eigenen Person zu tun. Und die sind nicht nur individuell geprägt, sondern wir leben eben in einem Kulturkreis, der bis tief in die Tiefen unserer Seele hinein unser Wesen prägt. Und manche merken dann, sie können eigentlich nur weiter vertiefen, indem sie einen bewussten Bruch mit dem Christentum vollziehen, aus dem sie herkommen, oder den Bruch noch einmal vertiefen."
Doch nur von wenigen christlichen Mystikern sind exakte Anweisungen und Übungswege überliefert.
"Es war eine ziemliche Recherchearbeit, diese Stellen überhaupt zu finden, weil die Mystiker sich doch in der Regel auf ihre eigenen Erlebnisse stützen. Das heißt, ihre Ekstaseerlebnisse schildern und weniger den Weg beschreiben, wie sie dahin gelangen."
Der Autor und Germanist Richard Reschika hat über die Praxis christlicher Mystik ein Buch geschrieben, in dem er nicht weniger als 80 Übungen aus der christlichen spirituellen Überlieferung vorstellt. Von den Wüstenvätern, über Franz von Assisi, Mechthild von Magdeburg bis in die Neuzeit hinein.
"Auf der einen Seite handelt es sich um Erlebnisse, die Jenseits des Diskursiven, des logischen Denkens stattgefunden haben und für die sie auch keine Sprache gefunden haben. Das Dilemma war, die Möglichkeit entweder darüber in Schweigen zu verfallen oder zu versuchen, diese Erlebnisse zu artikulieren, zu kommunizieren, sie anderen mitzuteilen. Dabei griffen die Mystiker zum Teil auf alle möglichen Tricks - sag ich mal - auf Paradoxien, auf Antithesen zurück, im glücklichsten Falle sind die Mystiker dabei ja auch zu großartigen Dichtern geworden, um sozusagen das Unaussprechliche wenigsten Andeutungsweise fassen zu können."
Bernhard von Clairvaux war bis zu seinem Tod im Jahr 1153 Zisterzienser-Abt in dem gleichnamigen Kloster in Frankreich und hatte sich als Prediger einen Namen in ganz Europa gemacht. Von ihm stammt zum Beispiel folgende Empfehlung:
"Fange damit an, dass du über dich selbst nachdenkst, damit du dich nicht selbstvergessen nach anderem ausstreckst. Was nützt es dir, wenn du die ganze Welt gewinnst und einzig dich verlierst? Denn wärest du auch weise, so würde dir doch etwas zur Weisheit fehlen, solange du dich nicht selbst in der Hand hast. Wie viel dir fehlen würde? Meiner Ansicht nach alles. Du könntest alle Geheimnisse kennen, du könntest die Weiten der Erde kennen, die Höhen des Himmels, die Tiefen des Meeres. Wenn du sich selbst nicht kennen würdest, glichst du jemandem, der ein Gebäude ohne Fundament aufrichtet, der eine Ruine, kein Bauwerk aufstellt. Alles, was du außerhalb deiner selbst aufbaust, wird wie ein Staubhaufen sein, der jedem Wind preisgegeben ist."
So bildhaft beschreibt Bernhard von Clairvaux vor achteinhalb Jahrhunderten den mystischen Weg, der über die Erkenntnis des eigenen Wesens führt. Auch der Straßburger Dominikanermönch Johannes Tauler, ein Schüler Meister Eckharts, betonte zwei Jahrhunderte später die Selbsterkenntnis als Weg zu Gott. Selbsterkenntnis und Selbstannahme sind auch in der modernen Psychologie wichtige Faktoren der Daseinsbejahung. Richard Reschika noch einmal:
"Auf den ersten Blick mag es paradox anmuten, dass die christlichen Mystiker gerade auf die Selbstannahme des Ichs pochen. Weil es ja bei vielen Übungen gerade darum geht, das Ich oder das Selbst loszulassen. Aber die Mystiker haben natürlich sehr klar und scharf gesehen, dass der Mensch sich annehmen muss, um auch andere lieben zu können. Das heißt dann auch in die Welt zu gehen und tätig zu werden, dass also die Ich-Annahme eine Grundvoraussetzung ist."
"Ich denke, letztlich zielt jede Meditation auf ein tiefes Einverstanden sein. Also ich stelle mich ein - theologisch gesprochen auf die Ursprungssituation - und Gott sah an, alles was er geschaffen hatte, siehe es war sehr gut. Ich stelle mich ein auf diese große Zustimmung, das große Ja Gottes."
Wolfgang Lenk, Meditationslehrer.
"Trotz alledem was da an Nicht-bejahenswertem Auftauchen mag. Also an der Stelle hat mich der Weg der Meditation auch immer stärker an eine Auseinandersetzung mit dem Grundansatz vieler theologischer Strömungen geführt, die erstmal davon ausgeht, der Mensch ist Sünder. Nein, der Mensch ist Gottes geliebtes Geschöpf und er hat auch grundlegend die Anlage zu verfehlen, am Leben, an Gott, an sich selbst vorbei zu leben. In diesem Sinne ist er auch Sünder. Aber das Tragende, Grundlegende ist: Ja, du bist Gottes geliebtes Geschöpf. Wo ich mich darauf einstelle in der Meditation wächst unweigerlich auch das Ja zu meinem eigenen Leben. Aber das geht dann oft nur durch Krisen durch. Das heißt, in dem Augenblick, wo ich mein Leben auf Gott hin ausrichte, nehme ich auch selbst in meinem Leben, in seinen ganzen Abgründen wahr. Und das führt dann manchmal auch durch Phasen der Verzweiflung und das ist der Grund weshalb alle großen Meditationstraditionen sagen: Bitte nicht allein, sondern such dir einen Menschen, der dich begleiten kann, der dir an Erfahrung voraus ist. Du wirst auf dem Weg der Meditation auch in Untiefen geraten."
Diese Krisen sind von vielen Mystikern überliefert und werden oft als spirituelle Reinigungsprozesse betrachtet. Von Ignatius von Loyola, dem Begründer des Jesuiten-Ordens, wird berichtet, dass ihm eine eindringliche Schau zufiel, dass er die ganze Welt verwandelt sah, nicht mehr Bilder der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst, den Grund der Dinge. Auf Ignatius geht auch eine Atempraxis beim Beten in seinen geistlichen Übungen zurück. Zwischen jedem Atemzug spricht man ein Wort aus dem Vaterunser oder einem anderen Gebet.
"Also, ich selber habe diese Vater-unser-Atemkombination nicht gemacht. Ich bin da vom betrachtenden Gebet zum Herzensgebet tatsächlich auch gekommen, das ist meine bis heute tragende Übungsweise. Ich bin selbst wenn ich das Herzensgebet unterrichte vorsichtig mit der Kombination von Atem und Gebetswort, weil für viele Menschen in unserer Zivilisation sehr schnell die Atemwahrnehmung zur Atemmanipulation wird und das ist nicht gesund. Von daher, die klassische Gebetstradition des Herzensgebet beginnt überhaupt nicht mit einer Kombination mit Körperfunktion, sondern schlicht mit dem rosenkranzmäßigen Wiederholen des Gebetswortes. Es wird immer wieder, wieder gesprochen und irgendwann stellt sich mehr oder weniger von alleine ein Zusammenklang mit Körperrhythmen und dem Gebetswort ein."
Letztlich kann neben der Formel "Herr, erbarme dich meiner" auch jedes andere Bibelwort zu einem Gebetswort verdichtet werden.
"Aber dabei geht es nicht primär darum, das Wort zu wiederholen, sondern in eine Haltung liebender Aufmerksamkeit zu finden, zu diesem kontemplativen Element, ich sehe auf Gott, er sieht auf mich und wir sind zusammen glücklich."
Meister Eckhart gilt als einer der größten Mystiker des Mittelalters. Der Dominikanermönch aus Erfurt lehrte in Paris und Köln. Seine Predigten und Traktate richteten sich an Nonnen, Mitbrüder und Laien gleichermaßen und er schrieb auf Deutsch. In folgender Übung von Meister Eckhart geht es um das innere Leerwerden, das Ausblenden von Bildern, Gefühlen und Gedanken, als Voraussetzungen für die Unio mystica.
"Wer sich vorbereitet zum Erwachen seines inneren Menschen und zur Erkenntnis von Gottes Wesen, sollte ungestört an ruhiger Stätte sein. Der Körper soll ausgeruht sein von allem Tun, nicht nur der Hände, auch der Zunge und aller andern Sinne. Sein Inneres nimmt man am Besten schweigend wahr. Soll das Herz recht bereitet werden, muss es sich ins reine Nichts versenken. Nimm hierfür ein Gleichnis aus dem Leben: Will ich auf einer Tafel schreiben, und darauf steht schon etwas - es mag noch so schön sein - beirrt mich das. Will ich etwas schreiben, muss ich zuvor tilgen, was auf der Tafel steht. Zum Schreiben eignet sich eine Tafel nur, wenn nichts drauf steht. Was empfangen will, muss zuvor leer sein. Das Nicht-Haben, das Ausgeleert-Sein kehrt die Natur um: Ein luftleerer Raum macht Wasser bergauf steigen. Je mehr der Mensch sich entfernt von aller äußerer Geschäftigkeit, umso mehr eilt Gott ihm zu."
"Das heißt der Versuch, nichts von dem Aufzunehmen, was vor dem inneren Auge auftaucht. Vielmehr lässt man alles an sich vorbei ziehen, wird gleichsam zu einem Spiegel, der zwar alles reflektiert, der sich aber letzten Endes mit nichts identifiziert und so Raum für das einströmende Absolute schafft mit dem man sich dann verbinden kann."
"Meister Eckhart spricht ja sehr paradox, gegen den Anschein und sie werden auch merken, die religiöse Sprache kommt ohne die Paradoxien nicht aus."
Pater Thomas Krauth, Dominikanermönch und Prior des Klosters in Hamburg-Barmbek
"Wichtig ist, dass man, oder dass ich - und das tue ich auch - mich nicht einschüchtern lasse von den Dingen, die sich nicht verstehe, sondern wo ich ein Gespür dafür entwickel, einen Sensus dafür entwickel, was mir etwas gibt und wo ich glaube, wo es langgeht. Es gibt überall Möglichkeiten sich auf das göttliche Geheimnis einzulassen."
Tatsächlich gehört Eckhart nicht nur zu den berühmtesten Mystikern, sondern auch zu denjenigen, die am schwersten zu verstehen sind. Prior Thomas Krauth sagt, dass der Übende am Ende alle Bilder und Vorstellungen loslassen muss.
"Es geht um Präsenz, auch um Lassen-können, auch von schönen Erfahrungen. Das ist ja ganz wichtig bei Meister Eckhart, das sich lösen und das sich binden an Gott. Und nur der Mensch, der freieste Mensch ist der, der sich bindet, der die Liebe ist, der das Ja zu jedem Menschen ist, ob er es weiß oder nicht. Ob er es fühlt oder nicht. Bei Eckhart ist Gott nicht der Gott des Gefühls. Viele Menschen meinen, wenn sie keine Empfindungen haben, dann ist Gott weg. Nein. Das ist ein Kriterium, dass sie dem Gott des Gefühls huldigen."
Auch Willigis Jäger kennt das Loslassen, das man einüben kann. Das gelingt jedoch nicht in einem Schritt oder gar mit Absicht.
"Sie können nicht mit Absicht Violine spielen lernen. Wir müssen einfach üben. Es bilden sich dann im Gehirn neue Synapsen, neue Neuronen-Ströme. Es geschieht also etwas im ganzen Menschen, wenn sie einen solchen Übungsweg gehen und genauso ist es mit diesem mystischen Weg, ja. Es ist ein Weg der den Menschen von innen her verändert, ja. Verwandelt! Bis jetzt bekamen wir immer gesagt du sollst, du kannst, du darfst nicht –-das hat nicht viel genützt! Und dieser Weg verwandelt den Menschen von Innen."
Willigis Jäger sagt, dass die Kirchen sich vom ganzen Ballast ihrer Tradition befreien müssten, um Platz für eine weitere Entwicklung zu geben. Es sieht so aus, als müsste auch der einzelne diese Entwicklung durchmachen.
"Die Mystik setzt in dem Moment an, wo der einzelne merkt, diese kollektiven Glaubensinhalte sind schön und haben mich eine Zeitlang getragen, aber ich merke plötzlich, sie führen mich nicht weiter. Und genau das ist der Punkt, an dem ich einzelne entweder die christliche Tradition kippen müssen, weil sie weitergehen müssen, oder aber wo sie entdecken, ja es gibt auch innerhalb der christlichen Tradition Übungswege, die mich mehr in die Tiefe führen."
Es gibt sicher Gründe, warum es bislang noch keinen Lehrstuhl für Mystik an den kirchlichen Fakultäten der Hochschulen gibt. Mystiker kümmern sich nicht um Hierarchien oder stellen sie sogar in Frage. Nach dem Tode der spanischen Mystikerin Theresa von Avila im Jahr 1582 fand man einen Zettel in ihrem Gebetbuch, darauf stand: Solo dios basta – Gott allein genügt.