Mythen als neue Sinnstiftung

Linus Hauser im Gespräch mit Kirsten Dietrich |
Im Gefolge des 11. September blühen die Verschwörungstheorien. Der Professor für katholische Theologie Linus Hauser meint, dass diese Theorien in eine Lücke oder in eine Funktion treten, die früher vielleicht die Religionen übernommen haben.
Kirsten Dietrich: Die Anschläge vom 11. September 2001 haben nicht nur den Islam stark berührt und verändert – wir haben gerade davon gehört. Die Anschläge waren auch Nährboden für eine ganz eigene Form von Sinnstiftung, für eine quasireligiöse Weltdeutung, nämlich für Verschwörungstheorien. Der amerikanische Geheimdienst CIA habe die Anschläge auf das eigene Land inszeniert, so raunt es in westlichen wie in islamischen Kreisen, oder auch der israelische Geheimdienst. Dass diese Verschwörungsmythen mehr sein können als harmlose Gedankenspiele, haben erst vor knapp zwei Monaten die Anschläge in Norwegen gezeigt.

Der Attentäter verstand sein Handeln in einer geheimen Tradition angeblicher Tempelritter. 76 Menschen starben. Die Verschwörungsspekulationen blühen seitdem vor allem in den entsprechenden Internetforen. Woher nehmen solche Verschwörungstheorien ihre Kraft? Linus Hauser ist Professor für katholische Theologie an der Universität Gießen und forscht unter anderem über sogenannte Neo-Mythen und moderne Religiosität. Ich wollte von ihm wissen, warum gerade der 11. September so viel Stoff für Verschwörungstheorien bietet.

Linus Hauser: Politisch betrachtet natürlich, weil es eine Zäsur in der Zeitgeschichte ist, aber medial betrachtet noch viel interessanter dadurch, dass das zweite Flugzeug in den zweiten Tower später flog und alles medial dokumentiert werden konnte. Dadurch hat es natürlich weltweit Aufsehen erregen können und war in der Lage, zur Projektionsfolie für alle Legenden und Mythen zu werden, die sich irgendwie da andocken können.

Dietrich: Aber eigentlich müsste man dann doch meinen, gerade weil das so einmalig gut dokumentiert ist, damit müssten alle Fragen ausgeschaltet sein, man hat doch alles gesehen.

Hauser: Ja, sehen kann man viel, aber deuten kann man noch viel mehr. Und ich habe zum Beispiel bei der Vorbereitung auf dieses Interview mir gesagt: Ich kümmere mich gar nicht um die verschiedenen Deutungen, ich kann das viel besser. Und zwar deswegen, weil es da so ein Schema F gibt, und so eine innere Eigenlogik von solchen Deutungen, die dann auf solche Verschwörungshypothesen hinauslaufen.

Dietrich: Das heißt, man braucht eigentlich gar keine unbedingt harten Fakten, um sich eine eigene Theorie zu stricken. Warum haben diese Verschwörungstheorien dann trotzdem Kraft, wenn sie so eigentlich ja relativ losgelöst vom konkreten Ereignis sind?

Hauser: Wichtig sind die Bilder, wichtig ist die öffentliche Bedeutsamkeit dieses Ereignisses, und dann wird folgendes in Gang gesetzt bei demjenigen, der also eine Verschwörungstheorie für sich erarbeiten will oder aufgreifen will. Denken Sie mal an einen Karl-May-Roman. Karl May wurde früher gelesen in Heftchenform, als Kolportage-Literatur, das heißt, das gab es alle 14 Tage oder vier Wochen mit der Post. Und die Kolportage-Romane bestehen darin, dass auf allen Kontinenten, in allen Bevölkerungskreisen vom Kaiser bis zum Bettelmann alles miteinander in Beziehung gesetzt wird und am Anfang ein ganz großes Chaos und ein ganz großes Geheimnis herrscht. Und diesen Kolportage-Gesichtspunkt, den übernimmt die Verschwörungstheorie und sagt sich: Auf einmal habe ich hier ein zentrales Ereignis, welches das Symbol ist für alle diese seltsamen Verstrickungen, die es in unserer spannungsreichen und undurchsichtigen Welt gibt.

Und anhand einer Vorstellung, wer dahinterstecken könnte – Opus Dei, die amerikanische Regierung, die Jesuiten, die Freimaurer –, das ist alles also beliebig einsetzbar. Je nachdem, wer dahintersteckt, der hat das Spiel der Weltgeschichte in der Hand. Und jetzt komme ich ins Spiel und kann sagen: Ich durchschaue das. Ich durchschaue das und habe dadurch eine Sonderposition. Und vielleicht gibt es dann sogar noch irgendeine Gruppierung, die ganz, ganz geheim ist, die merkt, dass ich das durchschaue, und dann bin ich eine ganz abenteuerliche Figur, nämlich ich werde verfolgt und vielleicht auch von einer Geheimgesellschaft unterstützt. Also, die Welt wird einfach und abenteuerlich zugleich.

Dietrich: Wer bedient sich solcher Verschwörungstheorien? Für wen sind die plausibel?

Hauser: Wenn man es wissenssoziologisch beschreiben wollte – wissenssoziologisch heißt also: Welche Gruppen interessieren sich für welche Gesichtspunkte und Theorien? –, wenn man es also wissenssoziologisch beschreiben wollte, dann hieße das, die Klientel ist wohl aus dreierlei Gruppierungen zu suchen.

Nämlich die breiteste Schicht sind die Menschen, die sich für Theorien interessieren, die ein bisschen lesen, die eine mittlere Bildung haben und das Gefühl haben, dass sie von der Macht ausgeschlossen sind. Die interessieren sich für Verschwörungstheorien. Die zweite Gruppierung sind möglicherweise Elitekreise, die in irgendwelchen Dunstglocken von Realität leben. Die dritte Gruppierung kommt hier nicht infrage, die ist möglicherweise dann in islamistischen Kreisen zu finden, nämlich ungebildete Menschen, denen man alles erzählen kann, wenn man es ihnen medial aufbereitet.

Aber für unsere Zwecke ist es wohl eher die Gruppierung derjenigen, die das Gefühl haben, sie haben keine Macht, sie können sich nicht durchsetzen, aber sie wollen doch irgendwie mitreden. Und die greifen dann nach diesem Instrument der Welterklärung.

Dietrich: Das heißt, die Verschwörungstheorie hilft auch bei der Sinnstiftung, bei der Erklärung der verwirrenden Welt. Tritt sie damit in eine Lücke oder in eine Funktion, die früher vielleicht die Religionen übernommen haben?

Hauser: Mit Sicherheit. Und zwar der Ausgangspunkt der Religion ist das Bedürfnis des Menschen, irgendwie mit seiner Endlichkeit mildernd umzugehen. Die Geneigtheit, nicht begrenzt zu sein, nicht endlich zu sein, nicht seine Grenzen so zu verspüren. Also, die Hochreligionen geben darauf die Antwort, das, was dann also erlöst, das Nirvanische, Allah, Gott, Jahwe, das ist das ganz andere, das unsere Maßstäbe sprengt. Und diese neo-mythischen Verschwörungstheorien, die haben das an sich, dass sie auch diese Endlichkeit, dieses ausgeschlossen sein von der Macht, dieses gedrängt sein von der Frage, woher komme ich, wohin gehe ich, wer bin ich, was soll ich, dass die auch Antworten geben, aber auf der Ebene des auch beherrschen Könnens. Dann bin ich ja der Wissende.

Dietrich: Das heißt, sie sind plausibler als Religionen?

Hauser: Sie erscheinen für Menschen, die ein großes Geltungsbedürfnis haben und andererseits das Gefühl haben, dass sie also nichts ausrichten können, als sehr, sehr plausibel.

Dietrich: Wie kommt es, dass so oft gerade religiöse Themen, religiöse Gegenstände, religiöse Gruppen Gegenstand von Verschwörungstheorien sind, eben vom Opus Dei bis zu – ganz unappetitliche Geschichte – den angeblichen Hostienschändungen durch jüdische Gruppen? Warum diese Faszination mit Religiösem?

Hauser: Das hängt sicherlich damit zusammen, dass die Religionen Heilsversprechen geben, die auch enttäuscht werden, da sie weiterhin es an sich haben, dass sie sehr, sehr altehrwürdig sind. Wenn man sich – also, ich bin jetzt als katholischer Theologe da jetzt mal beim Vatikan –, wenn man sich vorstellt, Rom und der Papst werden identifiziert mit einer 2.000 Jahre alten Tradition, mit Kellergewölben, die seit 2.000 Jahren gefüllt werden mit wer weiß was alles. Und da muss doch etwas liegen, was ich nutzen kann, beziehungsweise die haben doch etwas zu verbergen.

Und hinzu kommt noch der Bezug auf Rituale, auf Sprachen, die man nicht mehr versteht, auf Symbole, an die man gebunden ist auf der einen Seite, und auf der anderen Seite will man sich von ihnen abgrenzen. Und aus diesem Mischmasch entsteht dann diese Annäherung an die Religion, zumal man ja auch auf grundlegende Lebensfragen als Verschwörungstheoretiker die Antwort gibt, nämlich: Was soll ich kleiner Mensch in dieser großen, unübersichtlichen Welt? Ich soll einer von den Geheimen mit dem ganz großen Wissen sein.

Dietrich: Das kann ja ganz charmant und unterhaltsam sein – ich meine, immerhin sind da auch viele Romane draus entstanden. Haben Verschwörungstheorien auch eine gefährliche Seite?

Hauser: Die haben mit Sicherheit eine gefährliche Seite. Verschwörungstheoretiker muss eigentlich – also sagen wir mal, nicht die Welt, aber die Menschheit – einteilen in drei Gruppen oder vielleicht vier, nämlich in die eine Gruppe, der er angehört, vielleicht ist er sogar der Einzige, der es weiß, nämlich die Gruppe der Wissenden, die alles durchschauen. Dann gibt es die bemitleidenswerte Gruppe der großen Mehrheit, die wie die Schafe sich treiben lässt und dann gehört es zu einer anständigen Verschwörungstheorie natürlich auch noch dazu, es gibt dann die böse Gruppierung, und die muss bekämpft werden. Und je mehr sich einer oder eine Gruppe hineinsteigert in so eine Verschwörungstheorie, desto eher kann es passieren, dass man dann die Bösen auch identifiziert. Letzten Endes alle die, die es nicht verstehen wollen.

Dietrich: Kann man das dann wieder auffangen, diese Verschwörungstheorien, kann man das irgendwie wieder auflösen und zum Beispiel auf andere Art und Weise, auf eine vielleicht nicht ganz so gegen andere Menschen oder Gruppen gerichtete Weise auffangen, dieses Bedürfnis nach Sinnstiftung?

Hauser: Also, dieses Bedürfnis nach Sinnstiftung ist kein schlimmes Bedürfnis, und auch das Bedürfnis, die Welt sich etwas geheimnisvoll auszumalen, ist kein schlimmes Bedürfnis. Deswegen sind auch Romane oder Filme zum Thema kein solches Problem, weil da diese Bedürfnislage dann ins Ästhetische hinein verlegt wird. Zum Problem wird es, wenn jemand das zu ernst nimmt. Und da gibt es, glaube ich, auch keine Therapie dafür, denn jemand, der glauben will, glaubt jeden Mist bis zum Teufel komm raus.

Dietrich: Wie Verschwörungstheorien die Welt einfacher und sinnerfüllter machen – jedenfalls für die, die an sie glauben. Darüber habe ich vor der Sendung mit Linus Hauser gesprochen, Professor für katholische Theologie in Gießen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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