Mythen neu erzählt
Christoph Hein ist mit seinen vielen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken zu einem Chronisten der Gegenwart geworden. So wird er zumindest gerne genannt. Mit seinem neusten Buch verlässt er die Gegenwart aber scheinbar und geht ganz weit zurück.
Im Mythos liegt ein Geheimnis verborgen, das erzählend entdeckt werden will. Dabei erscheinen die Götter- und Heroengeschichten von Odysseus, Prometheus, Zeus, Apollon, Achill oder Jason fiktiv und doch real, fern und manchmal verdammt nah. Christoph Hein befindet sich mit seinen Mythen-"Korrekturen" in einer literarischen Tradition, die in ständiger Bewegung ist. Eine Urform des Mythos gibt es nicht.
Es existieren Namen, Gestalten, Ereignisse, Attribute und ein bestimmtes Konfliktpotential, das flexibel genug ist, um immer neue, zeitgemäße Versionen zu produzieren. Die Idee, einen bestimmten Mythos im Vorgang des Erzählens zu verändern, scheint damit seinem Wesen zu entsprechen und erweist sich als äußerst produktiv.
Zum tiefsinnigen Gleichnis wird bei Hein die Geschichte von Asklepios, dem Gott der Heilkunst. Er wird von Hades gehasst, da er die Gabe hat, "die Toten von Charons Nachen" wieder ins Leben zurückzuholen. Als Hades’ Geduld am Ende ist, fordert er den Tod des Heilers. Doch auch der tote Asklepios stört, da er sich nun mit den Verstorbenen unterhält, "um das letzte Geheimnis, den Tod, zu erforschen". Erst als Hades ihn auf den "Stuhl des Vergessens" verbannt, werden sein Gedächtnis und die Erinnerungen endgültig ausgelöscht.
In "Das goldene Vlies" konzentriert sich der Autor auf die Geschichte des Königsohnes Phrixos. Seine vollkommene Schönheit und erotische Ausstrahlung machen ihn zum Objekt des Begehrens, aber auch zum Opfer von Verleumdung und Gewalt. Er flieht, um am Leben zu bleiben und landet bei Goldwäschern, die ihn ebenfalls missbrauchen.
Von ihnen stiehlt er schließlich ein Fell, das mit Goldkörnern übersät ist und gelangt - wie Ahasver "müde der Wanderschaft und Flucht" - nach Kolchis, wo er dem König das goldene Vlies "als ein Geschenk des Zeus" überreicht. Damit ist Phrixos zwar gerettet, doch für Kolchis ist es der Anfang vom Ende.
Heins Begriff der "Korrektur" klingt nach Rotstift und Strenge, so als müssten Fehler im mythischen Material unbedingt berichtigt werden. Umso mehr überrascht die Leichtigkeit, mit der er seine 25 Mythenversionen zeitnah präsentiert. Geschickt hantiert er mit den Fakten, ohne Gewalt und Brutalität zu beschönigen. Wenn Hera schelmisch verkündet, Zeus war nicht der "gefürchtetste Liebhaber", sondern die Verführung sein eigentliches Ziel, dann verleiht er dem Gott menschliche Züge und sieht in ihm eine ewig alte/neue Version des Don Juan.
In den Kapiteln "Die Geburt der Demokratie" und "Die Bibliotheke des Apollodor" verhandelt Hein augenzwinkernd auch das eigene Schreibamt. Die Allmacht des Chronisten wird mit der ungeklärten Autorschaft der "Bibliotheke", die eine reiche Quelle der griechischen Mythologie darstellt, thematisiert. Denn unklar bleibt, welcher der drei Männer namens Apollodor "der wahre Verfasser des makellosen Werkes" ist.
Besprochen von Carola Wiemers
Es existieren Namen, Gestalten, Ereignisse, Attribute und ein bestimmtes Konfliktpotential, das flexibel genug ist, um immer neue, zeitgemäße Versionen zu produzieren. Die Idee, einen bestimmten Mythos im Vorgang des Erzählens zu verändern, scheint damit seinem Wesen zu entsprechen und erweist sich als äußerst produktiv.
Zum tiefsinnigen Gleichnis wird bei Hein die Geschichte von Asklepios, dem Gott der Heilkunst. Er wird von Hades gehasst, da er die Gabe hat, "die Toten von Charons Nachen" wieder ins Leben zurückzuholen. Als Hades’ Geduld am Ende ist, fordert er den Tod des Heilers. Doch auch der tote Asklepios stört, da er sich nun mit den Verstorbenen unterhält, "um das letzte Geheimnis, den Tod, zu erforschen". Erst als Hades ihn auf den "Stuhl des Vergessens" verbannt, werden sein Gedächtnis und die Erinnerungen endgültig ausgelöscht.
In "Das goldene Vlies" konzentriert sich der Autor auf die Geschichte des Königsohnes Phrixos. Seine vollkommene Schönheit und erotische Ausstrahlung machen ihn zum Objekt des Begehrens, aber auch zum Opfer von Verleumdung und Gewalt. Er flieht, um am Leben zu bleiben und landet bei Goldwäschern, die ihn ebenfalls missbrauchen.
Von ihnen stiehlt er schließlich ein Fell, das mit Goldkörnern übersät ist und gelangt - wie Ahasver "müde der Wanderschaft und Flucht" - nach Kolchis, wo er dem König das goldene Vlies "als ein Geschenk des Zeus" überreicht. Damit ist Phrixos zwar gerettet, doch für Kolchis ist es der Anfang vom Ende.
Heins Begriff der "Korrektur" klingt nach Rotstift und Strenge, so als müssten Fehler im mythischen Material unbedingt berichtigt werden. Umso mehr überrascht die Leichtigkeit, mit der er seine 25 Mythenversionen zeitnah präsentiert. Geschickt hantiert er mit den Fakten, ohne Gewalt und Brutalität zu beschönigen. Wenn Hera schelmisch verkündet, Zeus war nicht der "gefürchtetste Liebhaber", sondern die Verführung sein eigentliches Ziel, dann verleiht er dem Gott menschliche Züge und sieht in ihm eine ewig alte/neue Version des Don Juan.
In den Kapiteln "Die Geburt der Demokratie" und "Die Bibliotheke des Apollodor" verhandelt Hein augenzwinkernd auch das eigene Schreibamt. Die Allmacht des Chronisten wird mit der ungeklärten Autorschaft der "Bibliotheke", die eine reiche Quelle der griechischen Mythologie darstellt, thematisiert. Denn unklar bleibt, welcher der drei Männer namens Apollodor "der wahre Verfasser des makellosen Werkes" ist.
Besprochen von Carola Wiemers
Christoph Hein: "Vor der Zeit - Korrekturen"
Insel Verlag, Berlin 2013
189 Seiten, 19,95 Euro
Insel Verlag, Berlin 2013
189 Seiten, 19,95 Euro