Mythos Bern 1954

Moderation: Holger Hettinger |
Anlässlich des Kongresses "Fußball und Nation" hat der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit der These widersprochen, der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 sei die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Dem Ereignis werde zu viel Bedeutung zugemessen, es werde mythologisiert, betonte Theweleit.
Hettinger: Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit ist nun am Telefon. Herr Theweleit, warum wird denn ausgerechnet Fußball immer wieder als Seismograph gesellschaftlicher Befindlichkeiten gewertet?

Theweleit: Wird er das wirklich?

Hettinger: Ich würde mal sagen schon. Es gibt ja viele Parallelen, die sagen, dass gerade im Fußball unheimlich viel von dem aufbewahrt wird, was in der Normalität unserer Gesellschaft scheitert: Heldentum, feiern können, Konzentration auf Idole, unbedingte Hingabe.

Theweleit: Das passiert gegenüber bestimmten Popidolen ja auch, in ähnlich großem oder größerem Umfang. Fußball eignet sich sehr als Projektionsfläche, das stimmt natürlich, weil er im Grunde sehr einfach ist. Einfache Regeln, überschaubar und kann Emotionen mobilisieren und ist auf dieser Ebene, ich würde mal sagen, bestens ausschlachtbar. Das liegt nicht einfach nur am Fußball sondern auch an Medieninteressen, die so etwas brauchen. So etwas ist schlagzeilenträchtig, daran lassen sich Sachen aufhängen. Man hat nun mal den Fußball ausgewählt dafür. Es ist ja beinahe so, dass man sagen kann, dass auf dieser Ebene bestimmte Medien den Besitz des Fußballs für sich reklamieren, noch mehr als die Fans. Die Fans kämpfen ja beinahe ein bisschen hilflos dagegen an.

Hettinger: Eine Sportart also im Spannungsfeld zwischen Medieninteressen, Konsum und ganz normalen Interessen der Fans. Es gibt aber auch diese Theorie, dass es zum Beispiel gut für eine amtierende Regierung ist, wenn die Fußballnationalmannschaft gewinnt. Wie funktioniert denn so was? So was ist ja bei Musik, bei Rap zum Beispiel nicht machbar.

Theweleit: Das ist bei Musik nicht machbar, nein. Die Stars, die sich in Wahlen für einen bestimmten Präsidenten oder Kandidaten aussprechen, in den USA besonders, das kann eine Rolle spielen, muss aber nicht, wie die letzte Wahl gezeigt hat. Bush ist trotzdem gewählt worden, obwohl die meisten bekannten Topleute sich gegen ihn ausgesprochen haben. Dass es eine Rolle spielt, gut es spielt, wenn Jan Ullrich die Tour de France gewinnt, kann das eine ähnliche Rolle spielen, wenn das im richtigen Moment passiert vor einer Wahl. Ein Teil der Leute wählt nach solchen Hochstimmungen und erfahrungsgemäß fällt das dann aus für diejenigen, die gerade dran sind. Das muss aber nicht so sein, das kann sich auch für eine Opposition niederschlagen. Es ist manipulierbar und hat im Grunde mit dem Fußball selber nichts zu tun.

Hettinger: Eine andere Theorie lautet, dass das "Wunder von Bern", also der unverhoffte Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland war. Wird da einem 90-minütigen Spiel, bei dem der Ball rollt, nicht ein bisschen viel Bedeutung zugemessen?

Theweleit: Bedeutung zugemessen ist ganz richtig, weil das eine nachträgliche Konstruktion ist oder man kann beinahe sagen Mythisierung, Mythologisierung. Es gibt viele solcher Geburtsstunden des Nachkriegsdeutschlands, der Bundesrepublik. Für manche ist es die Landung der Alliierten in der Normandie 1944, die Verfassung et cetera, Wege der Demokratisierung. Fußball, für einige Leute mag das so gewesen sein 1954, aber ein anderer Mythos war zu der Zeit viel ausschlaggebender, nämlich der der fleißigen, wiederaufbauenden Nation. Dem hingen fast alle Deutschen, eine große Mehrheit an. Ich war damals zwölf Jahre und habe das auch so von den Erwachsenen erlebt. Fußball spielte erst in zweiter oder dritter Linie bei denen eine Rolle. Das mag für die Leute, die am Weg jetzt von Bern nach München, auf diesem Siegesweg gewohnt haben und die dann jubelnd an den Zügen standen, anders ausgesehen haben, für die mag das stimmen. Sonst ist das in Jubiläumsfeiern immer wieder gesagt und behauptet worden, aber wirklich nachträglich im Moment 54 war der deutsche Fleiß, der Wiederaufbau und wie geht man mit dem Nazismus um, nämlich wie decken wir unsere eigenen Mordtaten zu, viel wichtiger. Nachträglich wurde das Fußballspiel dafür benutzt, wenn man sich das in einem Punkt mal klar macht, für das Ausland. Für welches Land unserer umliegenden Länder Europas, die besetzt waren oder die mit den Deutschen, wie Italien am Anfang, verbündet waren, könnte ein Fußballspiel, ein Weltmeisterschaftssieg, Tatsachen wie den Holocaust, die Kriegsführung und alles das ausgelöscht haben, das ist vollkommen absurd. Dadurch wurde Deutschland nicht wieder in den Kreis der so genannten anständigen Nationen zurückgebracht, sondern das war ein langer Prozess der Westintegration, Wiederaufrüstung, et cetera, Einbau in die Westsysteme, Akzeptanz auf dieser Ebene als dann auch demokratisches Land. Das ist etwas vollkommen anderes und so etwas passiert nie durch ein Fußballspiel, das ist ein Mythos.

Hettinger: Also eine nachträgliche Hineindeutung. Wenn man sich den Fußball in unserer Zeit anschaut, wir leben ja eigentlich im Zeitalter des Individualismus, jeder ist in seiner Loslösung aus gesellschaftlichen Verpflichtungen eigentlich ziemlich vorne dabei, wie kommt das eigentlich, dass hier das Phänomen der Masse, dass das Fußballpublikum ja auch ausmacht, dabei so freudig in Kauf genommen wird?

Theweleit: Massenbildung ist an sich ein politischer Vorgang, aber steht nicht im Widerspruch zu der individuellen Entwicklung. Wenn man sich die Theorien der Masse von Canetti ansieht, der versucht zu beschreiben, dass es geradezu eine Voraussetzung zur Bildung von Individualitäten ist, dass man ein Massenteil, ein Massenmitglied so zusagen gewesen ist, weil die Masse eine der wenigen Formationen gewesen ist, in der man seinen Körper verändern kann durch Kontakt mit anderen, durch Auflösung von Körpergrenzen. Das sind alles Vorbedingungen zu solchen Wachstumsstufen oder auch Körperverwandlungen, die zur Individualität führen. Also passt zusammen, gehört zusammen.

Hettinger: Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit über die Bedeutung des Fußballs für die gesellschaftliche Befindlichkeit.