"Lebensarbeitszeit deutlich verlängern"
Eine Überalterung Deutschlands wird sich nicht durch den Zuzug von Flüchtlingen stoppen lassen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar. Um den demografischen Wandel zu bewältigen, müsse die Lebensarbeitszeit deutlich verlängert werden.
Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar, bis 2014 Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), sieht im demografischen Wandel in Deutschland auch Chancen.
Straubhaar sagte, wenn man beispielsweise die Lebensarbeitszeit deutlich verlängere, könne die Gesellschaft mit der demografischen Alterung "durchaus positiv" leben. Eine solche Anhebung des Renteneintrittsalters sei kein Abbau von sozialen Rechten, sondern trage den neuen Gegebenheiten Rechnung.
"Wir werden einfach 20 Jahre später alt und pflegefällig, als das vor 20, 30, 40 Jahren der Fall gewesen ist", betonte der Wirtschaftswissenschaftler, dessen neues Buch "Der Untergang ist abgesagt: Wider die Mythen des demografischen Wandels" heute in Berlin vorgestellt wird.
Fachkräftemangel ist eine "Fata Morgana"
Hoffnungen, der Flüchtlingszuzug könne die Alterung Deutschlands aufhalten, erteilte der frühere HWWI-Direktor eine Absage. Bei einer Bevölkerung von 80 Millionen könne der Zuzug von einer Million Menschen weder für alle Probleme verantwortlich sein noch alle Probleme lösen.
"Deshalb ist meine Botschaft ganz klar: Versucht nicht, Zuwanderung zu instrumentalisieren, um die Themen des demografischen Wandels zu lösen!" Man müsse vielmehr bessere Voraussetzungen dafür schaffen, dass Frauen, Ältere und bereits hier lebende Menschen mit Migrationshintergrund entsprechend ihren Fähigkeiten erwerbstätig sein könnten.
Auch solle man die Vorteile der Digitalisierung für einen arbeitssparenden Fortschritt nutzen. "Dann erweist sich das Fachkräfteproblem als Fata Morgana, als Problem, das nicht gottgegeben ist, sondern unternehmensgemacht", betonte Straubhaar.
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Es gibt ganze Landstriche, die sind von Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Überalterung geprägt, Regionen, in denen der demografische Wandel sichtbar schneller vonstattengeht als im ohnehin alternden Deutschland, in denen nicht nur Plattenbauten abgerissen wurden und werden, sondern auch die kommunale und sonstige Infrastruktur immer dürftiger wird, weil einfach zu wenig Menschen dort leben. Wir kennen das: demografischer Wandel nennt sich das.
Nun indes erhebt ein VWLer seine vor Optimismus nur so strotzende Stimme und behauptet in seinem neuen Buch, der Untergang sei abgesagt, und schreibt an wider die Mythen des demografischen Wandels. Nicht irgendein Volkswirt, sondern Thomas Straubhaar, Professor an der Universität Hamburg und bis 2014 Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts.
Der demografische Wandel – ein Mythos? Darüber habe ich vor der Sendung mit ihm gesprochen, weil er eben jetzt unterwegs zur Vorstellung seines Buches ist. Herr Straubhaar, Sie argumentieren, der demografische Wandel vollziehe sich viel langsamer als befürchtet und es ergäben sich daraus auch viele neue Chancen. Wie das?
Thomas Straubhaar: Das hat mich selber bei der Abfassung des Manuskripts überrascht, festzustellen eben, wie oft Prognosen des demografischen Wandels in der Vergangenheit nicht eingetroffen sind. Denken Sie nur beispielsweise für Deutschland an die Wiedervereinigung, die komplett alle demografischen Voraussagen für Westdeutschland beispielsweise über den Haufen geworfen hat.
Kritik an der Großen Koalition: "Kniefall" vor den Älteren
von Billerbeck: Trotzdem ist es ja so, dass wir jetzt eine Generation von jungen Leuten haben, also ich sage mal: die 20- bis 30-Jährigen, die sich auf niedrige Renten vorbereiten müssen und hohe Pflegekosten. Ist denn deren Angst völlig unbegründet?
Straubhaar: Nein, ich denke, die ist nicht unbegründet, wenn wir genauso weitermachen, wie wir das in der Vergangenheit getan haben, dann kann der demografische Wandel tatsächlich zu einem großen Problem werden. Und genau deshalb, denke ich, ist es wichtig, diese Mythen zu widerlegen: dass es eben nicht gottgegeben ist, was auf uns zukommt, sondern menschgemacht, und dass wir auch mit der demografischen Alterung durchaus positiv werden leben können, wenn wir eben beispielsweise – um auf Ihre Frage zurückzukommen – das Renteneintrittsalter nicht heruntersetzen, wie das die Große Koalition in einem Kniefall vor der älter werdenden Generation getan hat. Sondern wenn wir ganz im Gegenteil die Lebensarbeitszeit deutlich nach oben weiter verlängern. Was auch nicht ein Abbau von Sozialrechten ist, sondern ganz im Gegenteil, was eben diesen neuen Gegebenheiten Rechnung tragen wird.
Wir müssen unser Bild vom Alt-Sein korrigieren
von Billerbeck: Was können wir denn konkret tun, um dem demografischen Wandel etwas entgegenzuhalten?
Straubhaar: Erstens, denke ich, ist ganz wichtig zu erkennen, dass wir das Bild, das wir im Kopf mit uns herumtragen bezüglich des Altseins korrigieren. Wir werden einfach 20 Jahre später alt und pflegefällig, als das vor 20, 30, 40 Jahren der Fall gewesen ist bei unsren Eltern und Großeltern.
Was wichtig ist, ist, dass uns technologisch heute viel mehr Möglichkeiten gottlob auch offenstehen, sodass wir länger gesund bleiben. Und dann ist es mehr eine Frage, was von dem, was technisch-medizinisch machbar ist, sollen alle kriegen. Das ist aber eine andere Frage als die Frage des demografischen Wandels.
von Billerbeck: Nun haben wir ja eine Diskussion in Deutschland, die Sie in der "nzz" als völlig überzogen und aggressiv bezeichnet haben, nämlich die Diskussion um die vielen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen. In Ihrem Buch argumentieren Sie auch, die Flüchtlinge würden dazu beitragen, dass der demografische Wandel in Deutschland abgebremst wird.
Und die demografische Lage – Sie haben ja schon auf die Geschichte verwiesen – habe sich 2016 radikal verändert, Hunderttausende Flüchtlinge lassen die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen ansteigen. Trotzdem bedeutet ja auch das eine, na, eine ganze Menge Überraschungen und Ungewissheiten, um Sie selbst mal wieder zu zitieren! Ist also der hohe Flüchtlingszuzug für Deutschland per se ein Glück?
Flüchtlinge lösen das demografische Problem nicht
Straubhaar: Im Prinzip ist das, was mit Zuwanderung und auch der Flüchtlingszuwanderung geschieht, ein vergleichsweise bescheidenes Thema. Wir sind 81 Millionen Menschen in Deutschland und wenn da eine Million dazukommt, ist das gut, ein Prozent. Das kann weder alle Probleme verursachen, noch kann es alle Probleme lösen.
Und deshalb ist meine Botschaft ganz klar: Versucht nicht, Zuwanderung zu instrumentalisieren, um die Themen des demografischen Wandels zu lösen, das müssen wir selber schaffen, indem wir für Frauen, für Ältere, für Menschen mit Migrationshintergrund, die schon hier leben in Deutschland, wesentlich bessere Voraussetzungen schaffen, damit sie auch entsprechend ihren Fähigkeiten erwerbstätig sein können.
Und dass wir die Vorteile, die mit der Digitalisierung kommen werden, richtig nutzen für einen arbeitssparenden Fortschritt, dann erweist sich das Fachkräfteproblem als Fata Morgana, als Problem, das nicht gottgegeben ist, sondern unternehmensgemacht wird, wenn sie eben diesen Herausforderungen nicht gerecht werden.
Plädoyer für Generationengerechtigkeit
von Billerbeck: Einer der Mythen, die Sie in Ihrem Buch auch versuchen zu widerlegen, lautet ja: Mehr Vielfalt ist besser. Und Sie warnen vor zu großer Heterogenität, weil sie Kommunikation und Verständigung in Zukunft erschwert. Nun gibt es ja Studien, die sagen, dass Diversität – also beispielsweise in Unternehmensführungen – durchaus gut ist und auch das Unternehmen profitabel macht. Geht das nicht auch für eine Gesellschaft?
Straubhaar: Absolut. Was ich sage, ist, dass es nicht ein Maximum, sondern ein Optimum gibt. Das hat nicht nur mit Zuwanderung zu tun. Sicher auch, aber eben nicht nur mit Zuwanderung, sondern ganz generell wird die deutsche Gesellschaft in diesem 21. Jahrhundert heterogener werden, weil wir länger und gesünder leben werden, wird die Spanne vom Neugeborenen bis zum sehr alten Menschen, die sehr häufig sein werden, umso größer. Und das sind sehr heterogene, sehr unterschiedliche Interessen.
Und meine Sorge ist, dass in einer alternden Gesellschaft dann die Älteren, die die Mehrheit bilden werden, den Jüngeren diese Entscheidung aufzwingen können und in der Tendenz eben das Renteneintrittsalter eher abgesenkt als angehoben werden kann. Und die Frage ist dann, wie lange die Jungen bereit sind, sich diesem Diktat der Älteren zu beugen. Und das ist meine Warnung, dass eben wir lieber früher als später entsprechend Vorkehrungen treffen sollten, damit nicht diese Heterogenität, diese Vielfalt, diese älter werdende Gesellschaft dann aus individuellen Interessen beginnt, der gesamten Wirtschaft zu schaden.
von Billerbeck: Thomas Straubhaar war das. Das Buch des Volkswirtschaftlers wird heute vorgestellt, "Der Untergang ist abgesagt. Wider die Mythen des demografischen Wandels", das ist bei der Edition Körber erschienen. Herr Professor Straubhaar, ich danke Ihnen!
Straubhaar: Gern geschehen!
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