Mythos der Zerstörung

Von Evelyn Bartolmai |
Im Jahr 70 nach Christus wurde der große Tempel in Jerusalem zertrümmert. Der erhaltene Rest wird heute als Klagemauer bezeichnet. Neben der populären Theorie, dass die Römer den Tempel zerstörten, hält sich eine talmudische Geschichte, derzufolge die Kultstätte wegen des grundlosen Hasses unter den Juden brannte.
Auch wenn im Jahre 1977 der damalige Ministerpräsident Menachem Begin vorschlug, der sechs Millionen in der Shoa ermordeten Juden am traditionellen Trauertag Tischa be'Av zu gedenken, konnte er sich damit doch nicht durchsetzen. Und so blieb es dabei, dass am 9. des Monats Av, auf Hebräisch eben tischa be'av, um die zweifache Zerstörung des Tempels in Jerusalem getrauert, geweint und geklagt wird. Zwar nicht im Hebräischen, aber im Deutschen heißt der einzige Rest des von den Römern im Jahre 70 zerstörten Tempels Klagemauer. Juden nennen sie einfach kotel hamaaravi - Westmauer, in den Synagogen jedoch werden die kinot - die Klagelieder gelesen. Fragt man etwas genauer nach den Gründen, warum das Heiligtum in Schutt und Asche sank, entdeckt man neben der historisch verbürgten Tatsache, dass die Römer Jerusalem eroberten, auch eine kleine talmudische Geschichte, derzufolge der Tempel wegen des grundlosen Hasses unter den Juden brannte.

Von zwei Männern, Kamza und Bar-Kamza wird da berichtet, der eine der Freund, der andere der Feind eines reichen Jerusalemiten, der eines Tages ein Fest geben wollte. Dazu, erzählt Ofer Gabbay, ein Banker, der seit seiner Jugend Talmud studiert, zu diesem Fest nun sollte der Diener die Freunde des Hauses einladen:

"Aber irrtümlicherweise lud der Diener nicht Kamza, sondern Bar-Kamza ein, der zu den Feinden des Hausherrn gehörte. Bar-Kamza verstand zwar nicht, warum er eingeladen war, aber er ging dennoch zu dem Fest, denn er dachte, nun, vielleicht will er sich mit mir versöhnen."

Doch anstatt sich zu versöhnen, wurde der Hausherr sehr wütend auf den unerwünschten Gast und hieß ihn zu gehen. Bar-Kamza, dem das sehr unangenehm war und dessen Name auf Hebräisch ironischerweise auch noch 'der Geizige' bedeutet, bot an, sein Essen, ja sogar das ganze Fest zu bezahlen, wenn er nur bleiben dürfe. Aber es half nichts, es kam sogar zu Handgreiflichkeiten, und Bar-Kamza wurde aus dem Haus geworfen. Er schäumte vor Wut und schwor Rache für diese Demütigung:

"Er ging zum römischen Kaiser und sagte ihm, dass die Juden gegen ihn rebellierten. Um dem Kaiser dies zu beweisen, schlug Bar-Kamza vor, den Juden ein Tier zu schicken, das sie im Tempel opfern sollten. Und er sagte dem Kaiser, dass die Juden das Tier garantiert nicht annehmen würden, weil sie ja gegen Rom rebellierten."

Gesagt - getan, der Kaiser schickte einen Jungstier, der prompt von den Juden zurückgewiesen wurde. Denn Bar-Kamza hatte das Tier heimlich verletzt, wodurch es rituell unrein wurde und nicht mehr als Opfer taugte. Die Römer hatten den Beweis für die angebliche Rebellion der Juden, ihr Feldzug gen Jerusalem begann und endete in der bekannten Katastrophe.

"Aus grundlosem Hass eigentlich, denn man hätte Bar-Kamza im Haus akzeptieren und sich beherrschen können, auch die Gäste hätten den Streit schlichten und den Rauswurf verhindern können. Aber sie taten es aus kleinlichen Gründen nicht, und deshalb wurde die Stadt zerstört."

Die Weisen haben daraus den Schluss gezogen, dass der Tempel nur aus bedingungsloser Liebe wieder aufgebaut werden kann, also genau dem Gegenteil dessen, was zu seiner Zerstörung geführt hat.