Mythos Gotthard

Von Burkhard Müller-Ullrich · 14.10.2010
Wenn morgen die Tunnelbohrmaschine ‚Sissi’ mit fast 5000 PS den letzten Meter Fels wegfräst und die Arbeiter von beiden Seiten der Röhre einander nach dem Durchstich in die Arme fallen, wenn zweieinhalb Kilometer unter der Oberfläche des Gotthard-Massivs der längste Eisenbahntunnel der Welt entstanden sein wird, dann kann man dieses gigantische Verkehrsprojekt schon von den Kosten her nur mit der Raumfahrt vergleichen.
Der Vergleich enthält aber noch mehr Wahrheit: Denn wie die Astronauten auf dem Mond, so betreten die Tunnelbauer mit jedem Meter unter Tag ein Neuland, das noch kein Mensch vor ihnen betreten hat. Jeder Stein, der zum Vorschein kommt, wurde noch von keines Menschen Hand berührt.

Zahllose Dichter und Denker beschrieben die Reise über den Gotthard als eine Art existentiellen Übergang; der Pass war für sie mehr als ein Pass – er verkörperte den mediterranen Traum, das Versprechen eines anderen, sonnigeren Lebens. "Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn?", dichtete Goethe und charakterisierte in der letzten Strophe genau den Gotthardpass: "Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? / Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg…"

Eigentlich gibt es gar keinen Berg namens Gotthard. Das, was alle Welt als Gotthard kennt, ist ein Massiv mit vielen Gipfeln. Nichts Spektakuläres, keine unverwechselbare Form wie das Matterhorn, kein atemberaubendes Panorama. Ein Gebirge, umgeben von anderen Gebirgen. Doch in dieser zentralen Lage besteht seine Bedeutung. Wer Gotthard sagt, meint Mitte: Mitte der Schweiz, Mitte der Alpen, Mitte Europas. Von hier fließt das Wasser in alle Richtungen ab: die Rhône, die sich ins Mittelmeer ergießt, und der Rhein, der zur Nordsee strömt.

Der Mythos der Mitte war für die Schweiz auch von politischer Bedeutung. Der Bundesstaat, der 1848 nach einem kleinen Bürgerkrieg entstanden war, brauchte und entwickelte eine ganz eigene Integrations-Semantik, denn im Grunde war und ist die Eidgenossenschaft mit ihren verschiedenen Völkern, Sprachen, Religionen und Kulturen eine unmögliche, zumindest eine prekäre Nation.

Wie sehr der Gotthard als geistiger Fluchtpunkt diente, zeigte sich dann im Zweiten Weltkrieg, als er zum realen Fluchtraum werden sollte. Nach den Plänen des Schweizer Generals Guisan wäre die Alpenfestung des Gotthard zum letzten Rückzugsgebiet, dem sogenannten "Réduit", der Armee geworden, falls Hitler das Land angegriffen hätte.

Doch bekanntlich war für Hitler ein funktionierender Gotthardtunnel wichtiger. In verplombten Wagen rollten die Rüstungsgüter der Achsenmächte durch den Berg. Dieser vor bald 130 Jahren eröffnete Schienenweg war nicht nur eine ingenieurale Meisterleistung, sondern auch ein früher Beitrag zur Abschaffung des Raumgefühls beim Reisen, denn um Höhe zu gewinnen, schraubt sich die Bahn in mehreren Kehrtunnels empor, was zum Beispiel dazu führt, dass man die Dorfkirche von Wassen dreimal sieht: zweimal auf der einen Zugseite, einmal auf der anderen – und immer in verschiedenen Höhen.

Um diese zeitraubende Kurverei zu sparen, wurde vor 15 Jahren der Bau einer Flachbahn in Angriff genommen, die viel weiter unten verläuft - so tief, dass die Urangst vieler Menschen vor der unterirdischen Sphäre gründlich angestachelt wird. Nur die ebenso tiefsitzende Süd-Sehnsucht vermag diese Höllenangst in Schach zu halten. Es stellt sich aber die Frage, ob Norden und Süden irgendwann zu einer globalisierten Gleichzeitigkeit verschmelzen. Wenn die Hochgeschwindigkeits-Fahrt von Zürich nach Lugano demnächst nur noch eine Stunde und 20 Minuten dauert, verschiebt sich jedenfalls die ganze mentale Geographie der Schweiz – und damit auch diejenige Europas.

Vielleicht jedoch nicht so sehr, wie von vielen befürchtet. Der Europatunnel unter dem Ärmelkanal hatte bei seiner Eröffnung ähnliche Kommentare ausgelöst, aber England ist kein bisschen kontinentaler geworden. Das Meer ist noch da, und der Berg wird ebenfalls bestehen bleiben: der Berg des guten Herzens – was die wörtliche Bedeutung von "Gotthard" ist.


Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.
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