Matthias Zschokke: "Die strengen Frauen von Rosa Salva"
Wallstein Verlag, Göttingen 2014,
414 Seiten, 22,90 Euro
Venedig, wie es nur Rilke gesehen hat
Literarische Größen wie Thomas Mann und Donna Leon haben den Mythos um Venedig geprägt. Kann man da noch etwas hinzufügen? Das neue Buch des Schweizers Matthias Zschokke beweist: Ja, und wie!
Wer als Tourist nach Venedig reist, wird Venedig als Tourist erleben. Markusplatz, Rialto, Lido und Canal Grande - die Eindrücke sind immer dieselben. Dann gibt es die Schriftsteller: Sie porträtieren "Die Durchlauchigste".
Vieles von dem, was über Venedig geschrieben wurde, prägt die Wahrnehmung der Stadt. Ob Thomas Mann, Patricia Highsmith, Joseph Brodsky, Harold Brodkey oder Donna Leon - sie alle trugen bei zum Mythos Venedig.
Kann man da überhaupt noch unbefangen über Venedig schreiben? Eine klare Antwort gibt das neue Buch des Schweizers Matthias Zschokke. Ja, und wie! Der in Berlin lebende Autor - der sich in seinem literarischen Tagebuch "Lieber Niels" bitterlich über steigende Mieten in der deutschen Hauptstadt beklagt hatte - residierte von Juni 2012 bis Januar 2013, von einer Kulturstiftung eingeladen, in einer venezianischen Wohnung.
Literarische Quadratur des Kreises
"Die strengen Frauen von Rosa Salva" sind seine motivisch wohlkomponierte Sammlung von E-Mails und Nachrichten, die er während dieser Zeit an Freunde, Verwandte, die Haushälterin, seinen Verleger und andere Repräsentanten des Literaturbetriebs geschrieben hat.
In ihnen geht es um die Idee, ein Hauskonzert zu veranstalten, es geht um Zschokke - seine Befindlichkeit, seine Reflexionen und Aktivitäten - und um Venedig, so wie es Zschokke begegnet. Und das ist eine literarische Quadratur des Kreises. Denn wiederholt betont der Autor, in Venedig könne er gar nichts schreiben, die Stadt wolle doch erlebt und eben nicht beschrieben sein.
"Die Stadt ist phantastischer, als man es sich in den kühnsten Träumen auszumalen vermag. Man kommt an und denkt, das kenne man alles von Ansichtskarten. Dann besteigt man einen Vaporetto, und kaum legt er ab, beginnt das Glück in einem hochzusteigen."
In einer literarischen TraditionM
Literatur entsteht bekanntlich ja eher aus Unglück, aus Verwicklungen, Hemmnissen. Von alldem gibt es - abgesehen von rutschigen Treppenstufen und einem defekten Fernseher - in Zschokkes Buch nichts. Und dennoch ist es hinreißende Literatur. Der Autor bestaunt neugierig alles Vorhandene, auch Klischees und Fragwürdiges, die Vorgänge in der Heimat, die Kunst und Künstlichkeit Venedigs, den Alltag der Stadt, ihren Gestank, die Touristenströme.
Er tut das aber zur Unterhaltung des Lesers unvergleichlich charmant und boshaft. Touristen sind ihm, der kaum Gäste in seiner Wohnung aushält, unverzichtbar: "Sich am Rialto tagsüber ein Viertelstündchen frottieren zu gehen an den pudrig weißen Japanerinnen oder an den rotgesichtigen Russen, das ist ein Genuss."
Der Autor weiß, dass er in einer literarischen Tradition steht. Statt sich an ihr zu messen, spielt er mit ihr, setzt eigene Maßstäbe: die kleine Beobachtung, seine mitunter fast hypochondrische Empfindsamkeit, eine widerwillige Fähigkeit zum Glück, radikale Subjektivität - auch in der Beurteilung von Schriftstellerkollegen. Er beansprucht für sich einen unschuldigen Blick und das Recht, Venedig jenseits bildungsbürgerlicher Vorgaben zu entdecken.
Venedig so sehen, wie es nur Rilke gesehen hat
Damit schenkt er dem Leser tatsächlich die Freiheit, Venedig so zu sehen, wie es vielleicht nur Rilke gesehen hat:
"Eines Morgens ist das andere da, das wirkliche, wache, bis zum Zerspringen spröde, durchaus nicht erträumte: das mitten im Nichts auf versenkten Wäldern gewollte, erzwungene und endlich so durch und durch vorhandene Venedig."
Dafür hat sich Matthias Zschokke sämtliche Zabaione-Röllchen aus der venezianischen Meisterpatisserie Rosa Salva verdient.