David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Schwelgen im Schnee von gestern
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Wieder kein Schnee zu Weihnachten, so die Vorhersagen. Früher hingegen... war es genauso, sagt der Deutsche Wetterdienst: Die "weiße Weihnacht" ist ein Mythos. Er behauptet eine bessere Vergangenheit, die es nie gab, kommentiert David Lauer.
Alle Jahre wieder kommt der Deutsche Wetterdienst und verkündet, dass Deutschland auch in diesem Jahr keinen Schnee an den Weihnachtstagen zu erwarten habe. Alle Jahre wieder erhebt sich darüber ein sentimentales Klagen: Ach, die weiße Weihnacht! Wann wird's mal wieder richtig schneien? Rudi Carrell mit Zipfelmütze sozusagen. Früher war mehr Lametta, und früher war immer Schnee an Weihnachten. Nicht wahr? Ist doch so. Falsch, sagt der Deutsche Wetterdienst. Ist nicht so.
Weiße Weihnachten waren immer die Ausnahme
Statistisch gesehen sind weiße Weihnachten im Land der Weihnachtsmärkte immer die Ausnahme gewesen. In Berlin gab es Derartiges seit 1951 achtmal. Und der unvermeidliche Schlager, in dem Bing Crosby darüber knödelt, dass die Christmas doch endlich einmal wieder so white werden möge, wie sie es früher war, der stammt aus dem Jahr 1942. Schon das sollte einem zu denken geben. Offensichtlich ist die Vergangenheit auch nicht mehr, was sie einmal war – und ist es nie gewesen.
Weil nun der Deutsche Wetterdienst auch diese Fakten alle Jahre wieder verkündet, kann man jedes Jahr irgendwo die Überschrift lesen, die weiße Weihnacht sei ein Mythos. Gemeint ist, dass die nostalgische Erinnerung an regelmäßige nächtliche Spaziergänge zur Christmette im Schnee eben trügerisch ist. Die weiße Weihnacht ist jedoch ein Mythos in dem noch viel tiefer gehenden Sinn, den Roland Barthes in den fünfziger Jahren in seinen "Mythen des Alltags" umrissen hat.
Der Mythos bestätigt, was man ohnehin für wahr hält
Der Mythos, so Barthes, ist ein Zeichensystem zweiter Ordnung. Er bedient sich eines etablierten Zeichens, beispielsweise des sprachlichen Ausdrucks "Schnee an Weihnachten". Der bringt einen ganz gewöhnlichen Sachverhalt zum Ausdruck, nämlich dass es an Weihnachten schneit, nicht mehr und nicht weniger. Der Mythos kapert dieses alltägliche Zeichen als Vehikel, in das er eine neue Bedeutung einschmuggelt: die mythische Bedeutung. In unserem Fall: dass Weihnachten früher irgendwie noch so war, wie es sich gehört.
Die mythische Bedeutung zehrt von der Gewöhnlichkeit des ursprünglichen Zeichensinns und kann sich dadurch als Selbstverständlichkeit tarnen. Barthes hat das einmal die Gewaltsamkeit des "Das-versteht-sich-doch-von-selbst" genannt. So erlaubt der Mythos die scheinbar ewige Wiederbestätigung dessen, was man eh immer schon für wahr gehalten hat.
Vorlage für rechte wie linke Nostalgie
Entlastet von jeder Reflexionsanstrengung nickt man sich im Gefühl fragloser Verbundenheit verständnisvoll zu: Jaja, früher – da hatte alles noch seine Ordnung, nicht wahr? Die Weihnacht war weiß, das Nürnberger Christkindlkind auch und der Weihnachtsmann garantiert heterosexuell. Das alles muss gar nicht ausgesprochen werden. Die Dinge, so sagt Barthes, "machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein".
Allerdings muss der Mythos nicht unbedingt das Instrument einer rechtsgerichteten Weltanschauung sein – anders, als Barthes glaubte. Der Mythos der weißen Weihnacht beschwört eine imaginäre Vergangenheit, ja. Aber er kann die Gestalt rechten wie linken Kitsches annehmen, der reaktionären Sehnsucht nach einem gesellschaftlichen Biedermeier ebenso Ausdruck verleihen wie dem kapitalismuskritischen Unbehagen an Kommerzdelirium und Jingle-Bells-Terror ab Oktober. Die weiße Weihnacht, das ist eben auch die Weihnacht, in der Kinderaugen noch ganz allein von Äpfeln, Nuss und Mandelkern zum Strahlen gebracht wurden.
Packt die Gummistiefel aus!
Letztlich könnte sich sogar die Klimabewegung des Mythos bedienen, dass es früher mehr geschneit hat. Nicht, dass sie dergleichen nötig hätte. Aber ein Mythos, der für so vieles nützlich sein kann, wird nicht dadurch verschwinden, dass er jedes Jahr erneut widerlegt wird. Wir werden ihn nicht so bald loswerden. Aber wir können ihm auf der Nase herumtanzen. Darum die Gummistiefel an und durch die Pfützen gesprungen: Bald ist Weihnachten!