Nach dem Brexit

Ernüchternde Freiheit

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson streicht sich erschöpft durch sein Haar.
Premierminister Boris Johnson ist als britischer Wappenlöwe aufgesprungen und nun in Europa als Stubenkater gelandet, meint Journalist Paul Stänner. © picture alliance / empics / PA Wire / Daniel Liel
Ein Kommentar von Paul Stänner · 14.02.2022
Vor einem guten Jahr verließ Großbritannien die EU. Mit der neuen Eigenständigkeit lief es seitdem nicht gerade glänzend. Man könnte das Ganze auch als ein von Populisten angezetteltes Debakel bezeichnen, meint der Journalist Paul Stänner.
Zum Jahreswechsel veröffentlichte das britischen Meinungsforschungsinstitut Opinium eine Umfrage, nach der mehr als 60 Prozent der Briten den Brexit, also den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union, als negativ bewertet haben. Sogar von den Briten, die den Brexit herbeigesehnt hatten, waren 16 Prozent der Meinung, die Trennung von Europa sei noch schlimmer verlaufen, als sie erwartet hatten. Noch schlimmer, als sie erwartet hatten?

Nationalisten im Brexit-Rausch

Ich denke mir, dass man als Nationalist schon sehr rauschhaft gestimmt sein muss, um eine Politik zu wählen, die alles schlimmer macht. Mit normalem Alkohol lässt sich das kaum erklären. Die Begeisterung vieler Insulaner über diesen flammend inszenierten Akt stolzer Souveränität scheint der sehr ausgenüchterten Enttäuschung darüber gewichen zu sein, dass die Sache selbst ziemlich versaubeutelt wurde.
Noch vor dem Brexit besuchte ich im Jahr 2018 den Hafen von Brixham, einem Fischerort an der Südküste. Dort dümpelte ein Fischkutter vor sich hin, an dessen Mast ein großes Brexit-Banner wehte. Die Flagge der Loslösung knatterte im Seewind wie Kleinkalibersalven.
Die Brexit-Kampagne hatte volle Fahrt aufgenommen. Nigel Farage und Boris Johnson jubilierten und versprachen, das Land würde nun endlich wieder die Kontrolle über seine Grenzen erlangen. Die Küsten würden wieder der Ort Britanniens werden, an dem sich jede Invasion totlaufen würde, seien es Nazi-Soldaten, polnische Klempner, rumänische LKW-Fahrer oder syrische Flüchtlinge.

Bitten an Frankreich und Deutschland

Die Brexiteers von Brixham hatten – wohl aus Sparsamkeit – ihre Flagge auf einem Kahn aufgezogen, der von Rost zerfressen an der Kaimauer lag. Was für ein unglückliches Symbol! Der Brexit wurde vollzogen, das Land kam ins Stocken und setzte Rost an. Die Regale in den Supermärkten blieben leer. Die Tankstellen wurden nicht mehr beliefert. Es fehlte an LKW-Fahrern, weil man die Ausländer vor die Tür gesetzt hatte.
Ausgerechnet die im Land verbliebenen Deutschen mit ihren umfassenden Führerscheinen musste Boris Johnson bitten, sich doch – please, meine Damen und Herren – hinter das Lenkrad zu setzen. "Deutsche ans Steuer" – was für eine demütigende Parole für jemanden, der die EU verlassen hat, um der angeblichen deutschen Vorherrschaft zu entkommen! Please, Gentleman. Und Ladies auch.
Ungeachtet des Austritts landeten damals wie heute Flüchtlinge aus politischen und wirtschaftlichen Motiven an den Klippen von Dover. Damit ist genau das geschehen, was Farage, Johnson und die Brexiteers – auch die, die ahnten, dass es schlecht laufen würde – versprochen hatten zu verhindern. Also musste London in Paris vorstellig werden und höflich darum ersuchen, die Franzosen möchten doch bitte schön – please, Mesdames et Messieurs – ihre Küsten abriegeln, weil Britannien die seinen nicht verteidigen kann. Wie peinlich: die Franzosen bitten!

Johnson erst Wappenlöwe, dann Stubenkater

Boris Johnson, der mit Gebrüll als britischer Wappenlöwe aufgesprungen war, mittlerweile als Partylöwe das Genre gewechselt hat, ist in Europa als Stubenkater gelandet.
Viele von uns werden sich noch an die Szene erinnern, als 2019 die Abgeordneten der Brexit-Partei dem EU-Parlament im Rausch der bevorstehenden Trennung ihre Kehrseiten zuwandten, während die Europa-Hymne gespielt wurde. Waren es wirklich die Kehrseiten? Oder vielleicht: die wahren Gesichter? Dumm gelaufen, Gentlemen!

Populisten bringen nur Lärm und Geschrei

Als Europäer hat man es nicht leicht, ein guter Mensch zu bleiben, der niedere Genugtuungen wie Häme oder Schadenfreude verachtet. Wir sehen uns zu Recht als Gewinner, als Erkenntnisgewinner: Es wurde vorgeführt, dass von Populisten außer Lärm und Geschrei nichts zu erwarten ist. Und es wurde vorgeführt, dass Europa immerhin eine Stärke ausspielen kann: die Stärke des Zusammenhalts. So long, Boris. Und: Danke für die lehrreiche Geschichte!

Paul Stänner wurde in Ahlen in Westfalen geboren, hat in Berlin Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte studiert. Er arbeitet als Rundfunkjournalist und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Agatha Christie in Greenway House" im Verlag Klaus Wagenbach.

Paul Stänner im Porträt
© Deutschlandradio / Paul Stänner
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