Nicola Schubert ist Schauspielerin und freie Autorin. Sie begann bei den "Ruhr Nachrichten" und Radio 91,2 in Dortmund und mit einem Theater- und Medienwissenschaftsstudium. Zurzeit ist sie, nach Schauspieldiplom in Frankfurt am Main und Erstengagement in Ostwestfalen, am Theater Ulm engagiert.
Wollen wir wirklich alles zurückhaben?
04:06 Minuten
Mit sinkenden Coronazahlen erhalten wir Freiheiten zurück. Ein Hauch von Normalität macht sich breit und damit wohl auch wieder drängelnde Mitmenschen und distanzlose Berührungen. Wollen wir das wirklich, fragt die Autorin Nicola Schubert.
Es soll bitte wieder alles normal werden. Dieser Wunsch ist in den vergangenen Monaten nicht nur von weiten Teilen der Bevölkerung formuliert worden, die AfD hat einen ganzen Parteitag unter ein solches Motto gestellt. Was den Begriff der Normalität umso suspekter macht.
Natürlich war er schmerzhaft: der Verzicht auf Nähe, Kultur, Gastronomie, Bildung, Urlaub und anderes mehr. Dieser Verzicht scheint nun weitgehend vorüber, jene viel zitierte Normalität einigermaßen wiederhergestellt. Die Straßen sind voll, ebenso Außengastronomie und Geschäfte – Einschränkungen auf dem Papier hin und her, niemand nimmt es mehr so genau bei Inzidenzen, die in den Keller sausen.
Rücksichtnahme und Respekt
Ist das nur gut? Ist diese wiedergewonnene Freiheit im Sinne aller? Und: Wollen wir alles zurückhaben? Menschen, die beim Einkaufen so dicht hinter einem stehen, dass man ihren Einkaufswagen in die Fersen geschoben bekommt? Angerempelt werden? Ungefragt angefasst werden, von der distanzlosen Kollegin oder einem völlig Fremden? Von Männern und Frauen, die beim Vorübergehen im dichten Gedränge einer Party noch unbedingt die Taille berühren müssen?
Die physische Distanzierung voneinander hatte nicht nur Nachteile. Es lagen auch Rücksichtnahme und Respekt in den Abständen, die an öffentlichen Orten voneinander eingehalten wurden. Weniger Möglichkeit für die kleinen Übergriffigkeiten des Alltags, weniger Überschreitungen der persönlichen Raumgrenzen. Das gegenseitige Raumgeben ist nicht unwesentlich für das buchstäbliche Gefühl, Platz in der Welt haben zu dürfen und anderen diesen Platz ebenso zuzugestehen.
Die Proxemik ist das wissenschaftliche Gebiet, das die sogenannten Distanzzonen untersucht. Sie richten sich danach, wie nah uns eine Person steht. Werden bestimmte Zonen unterschritten, zum Beispiel von Fremden, kann dies als bedrohlich empfunden werden und psychische Reaktionen auslösen. Diese Distanzzonen sind abhängig vom Kulturkreis. Was durch die Pandemie alle Kulturkreise teilen, ist sicher, dass sich die Distanzzonen verändert haben und größer geworden sind. Gewohnheiten sind veränderlich. Eine neue war, mehr Platz um sich zu haben.
Entfaltung und Platz
Das Raumgeben scheint aber nun wieder vom konkurrenzbehaftetem Raumnehmen abgelöst zu werden. Drängeln, Eile – vorbei die Zeit der Geduld. Was verständlich ist: Wer monatelang in einer Art Käfig hin und her tapert, braucht jetzt Entfaltung, eben Platz. Klar, dass da auch mal etwas aggressivere Stimmung herrscht: Jede und jeder will endlich wieder uneingeschränkt losziehen.
Doch gilt das wirklich für alle? Eine Studie aus den USA benennt eine ganz andere Folge der Pandemie: das sogenannte Cave-Syndrom, auf Deutsch: Höhlensyndrom. Wer an diesem leidet, hat Angst vor der alten Normalität, und zwar unabhängig vom Impfstatus: 49 Prozent der Geimpften rechnen laut der Studie der American Psychologial Association damit, sich in sozialen Interaktionen unwohl zu fühlen. 44 Prozent fühlen sich nicht gut bei dem Gedanken, denselben Lebensstil wie vor der Pandemie zu pflegen. Das Cave-Syndrom kann sich auch wieder zurückentwickeln. Doch zeigt die Studie zumindest: Von 0 auf 100 scheint es nicht für alle zu gehen.
Warum auch sollte über ein Jahr Pandemie nicht Spuren hinterlassen haben? Dabei gibt es sicher viele Abstufungen. Es muss nicht gleich pathologisch sein, dass es eine gewisse Skepsis gegenüber Nähe gibt. Was ja auch nicht völlig unvernünftig ist: Schließlich ist weder die Pandemie vorbei, noch wissen wir, was die kommende Zeit bringt: impfresistente Varianten, nachlassender Impfschutz – wer kann das schon genau voraussehen. Doch auch unabhängig davon dürfte eine Gewohnheit meinetwegen gerne bleiben: respektvoller Abstand statt Sich-auf-die-Füße-Treten.
Doch gilt das wirklich für alle? Eine Studie aus den USA benennt eine ganz andere Folge der Pandemie: das sogenannte Cave-Syndrom, auf Deutsch: Höhlensyndrom. Wer an diesem leidet, hat Angst vor der alten Normalität, und zwar unabhängig vom Impfstatus: 49 Prozent der Geimpften rechnen laut der Studie der American Psychologial Association damit, sich in sozialen Interaktionen unwohl zu fühlen. 44 Prozent fühlen sich nicht gut bei dem Gedanken, denselben Lebensstil wie vor der Pandemie zu pflegen. Das Cave-Syndrom kann sich auch wieder zurückentwickeln. Doch zeigt die Studie zumindest: Von 0 auf 100 scheint es nicht für alle zu gehen.
Warum auch sollte über ein Jahr Pandemie nicht Spuren hinterlassen haben? Dabei gibt es sicher viele Abstufungen. Es muss nicht gleich pathologisch sein, dass es eine gewisse Skepsis gegenüber Nähe gibt. Was ja auch nicht völlig unvernünftig ist: Schließlich ist weder die Pandemie vorbei, noch wissen wir, was die kommende Zeit bringt: impfresistente Varianten, nachlassender Impfschutz – wer kann das schon genau voraussehen. Doch auch unabhängig davon dürfte eine Gewohnheit meinetwegen gerne bleiben: respektvoller Abstand statt Sich-auf-die-Füße-Treten.