Das Elend der Geflüchteten auf Lesbos
23:24 Minuten
Ohne Heizung und warmes Wasser, weggesperrt hinter Stacheldraht: 7500 Menschen leben im Lager Kara Tepe auf Lesbos, darunter 37 Prozent Kinder. Sie leiden am meisten unter der Situation. 50 von ihnen versuchten im letzten Jahr, sich zu töten.
Naiem Mohammadi schließt die Fensterläden im Kulturzentrum Mosaik auf Lesbos. Die Polizei soll nicht erfahren, dass eine Journalistin die beiden Geflüchteten um den Plastiktisch interviewt, sonst müssen alle eine Strafe von 300 Euro zahlen.
Griechenland befindet sich in einem strengen Lockdown. Deshalb bin ich per Whatsapp-Video zugeschaltet, Mohammadi übersetzt.
"Wir schliefen auf dem Boden"
Der Mann neben ihm, ein Afghane, lebt seit eineinhalb Jahren mit seinen beiden Kleinkindern und seiner Frau auf Lesbos – und seit Oktober im Übergangslager Kara Tepe, das nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria in der Nacht zum 9. September eilig aus dem Boden gestampft worden war.
"Bis vor einem Monat hatten wir nicht mal Paletten, wir schliefen auf dem Boden. Wir leben im Zelt. Wenn es regnete, wurde es mit Wasser überschwemmt."
Zum ersten Mal seit Wochen durfte er das Lager verlassen, um die 60-jährige Afghanin neben ihm ins städtische Krankenhaus zu begleiten. Wie einen Schatz presst sie die Plastiktüte mit dem frischen Fladen aus der Bäckerei an ihren Tschador. Seit der Coronakrise können die meisten Geflüchteten nur noch mit einem Termin das Lager verlassen.
"Im Lager gibt es keine Sicherheit"
Die Frau leidet unter Diabetes, Inkontinenz und Schmerzen in Rücken und Knie. Mitten im Winter teilt sie sich mit acht anderen Frauen ein Zelt.
"Wir waschen uns im Korridor unseres Zeltes mit kaltem Wasser. Wir haben keine Heizung. Deshalb sind wir die ganze Nacht wach. Es gibt keinen Strom, nur einen Generator, den wir eine Stunde pro Tag benutzen.
Sonst haben wir nichts, wir sind immer in der Kälte. Die Toiletten sind weit weg und nachts muss ich drei- bis viermal aufs Klo. Ich habe Angst, überfallen zu werden, im Lager gibt es keine Sicherheit. Ich weiß nicht, was noch mit uns geschehen wird, was sie uns noch antun werden. Ich warte ab."
Es leben hier knapp 7500 Menschen auf einem windigen, nasskalten ehemaligen Schießübungsplatz des Militärs. Gefährdung durch alte Munition und Bleivergiftung inklusive. Direkt am Meer, weggesperrt hinter Stacheldraht. Mehr als die Hälfte sind Frauen und Kinder.
Illegale Pushbacks von Flüchtlingsbooten
Die griechische Regierung konzentriert sich auf die Abschreckung von Geflüchteten, statt sie ordentlich unterzubringen und zu versorgen. Sie betreibt die Lager auf den Inseln. Aber auch die Europäische Union hat ihren Anteil.
Deren Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex macht laut Human Rights Watch bei den illegalen Pushbacks von Flüchtlingsbooten mit. Von 2015 bis 2020 zahlte die Kommission 2,77 Milliarden Euro für Geflüchtete an Griechenland – kein Land der Welt bekommt dafür proportional so viel Geld. Trotzdem schlafen die Menschen inmitten einer Pandemie immer noch im Zelt.
"Das ist wirklich eine Schande für die EU. Das verhöhnt die Menschenwürde, die Rechte von Geflüchteten, die europäische Verfassung. Wir sehen aber nicht, dass diese Gesetze in Kara Tepe angewandt werden", sagt der Übersetzer Naiem Mohammadi, ein Mann, der seine Wut mit Kung-Fu und einem herzhaften Lachen vertreibt.
Er ist einer der Wenigen, der sich in die griechische Gesellschaft integriert hat und beide Welten versteht: die der Geflüchteten und die der Insulaner.
Mit einem Schlauchboot auf Lesbos gestrandet
Vor 18 Jahren strandete der Afghane mit einem Schlauchboot auf Lesbos. 2006 erhielt er eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung. Seitdem übersetzt er für Anwälte und Ärzte und beerdigt die Leichen von Bootsflüchtigen für die griechische Flüchtlingsorganisation RSA. Er hätte genauso gut mit seinen drei Kindern und seiner Frau in ein anderes Land gehen und ein neues Leben starten können. Aber er kann, er will sich nicht von seiner Vergangenheit verabschieden:
"Meine Aufgabe macht mich glücklich, ruhig und gibt mir das Gefühl, für all die Geflüchteten, die kommen und Hilfe brauchen, nützlich zu sein."
Dass ich überhaupt mit den Geflüchteten sprechen kann, liegt an ihm. Er hat Zugang zum Camp und zehn Bekannte für ein Interview gewonnen, von denen nur zwei innerhalb von zwei Wochen die Genehmigung erhielten, das Lager zu verlassen.
Zustände wie in einem Entwicklungsland
Journalisten dürfen das Lager nicht betreten und Aufnahmegeräte werden am Eingang konfisziert. Deshalb erzählt Mohammadi, wie das Lager auf ihn wirkt:
"Wenn du reingehst, siehst du überall Zelte, wie in den Camps des UNHCR im Sudan, Somalia, Khartoum, Libanon, in einigen Orten in Afghanistan. Lauter Zelte ohne Freizeit- oder Sporteinrichtungen, ohne fließendes Wasser, ohne Heizsystem.
Die Menschen stehen Schlange ums Essen und vor den Toiletten. Die Toiletten sind nicht sauber. Man denkt, man sei in einem Entwicklungsland, bevor man begreift, dass man eigentlich in einem der zivilisiertesten Länder der Welt ist."
Einer Studie des International Rescue Commitees IRC vom Dezember zufolge ist die Zahl der Flüchtlingspatienten mit Psychosen auf den griechischen Inseln in den letzten zwei Jahren von 14 auf 24 Prozent gestiegen.
Statt knapp der Hälfte der Menschen leiden derzeit fast zwei Drittel unter Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung PTBS. 15 statt wie zuvor 9 Prozent der Menschen verletzen sich selbst. Mohammadi fürchtet, dass viele die Zustände, in die sie die europäischen Behörden zwingen, nicht mehr lange verkraften:
"Ich habe Angst wegen der elendigen Lebensbedingungen. In Moria konnten mehr Menschen Feuer machen und sich aufwärmen. Hier gibt es nicht mal Heizmöglichkeiten.
In Moria starben Menschen wegen der Kälte und ich habe Angst, dass wir diesen Winter wieder Leben verlieren. Und ich sorge mich um die Kinder: Das Lager liegt direkt am Meer und Kinder kann man nicht immer kontrollieren. Ich habe Angst, dass sie ertrinken."
Einem krebskranken Kind wird nicht geholfen
"Es gibt Diabetiker, die kriegen ihre Medizin nicht. Es gibt ein Kind, von dem ich gestern gehört habe, das hat Krebs und man kann hier auf der Insel diesen Zustand nicht behandeln. Aber es lebt immer noch in einem Zelt im Matsch in Europa, und es ist wie gesagt ganz unverständlich, dass wir das zulassen", sagt die Kinderpsychologin Katrin Glatz-Brubakk. Die Norwegerin ist gerade für Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos – zum neunten Mal in den letzten Jahren. Am Abend nach ihrer Schicht, als ich sie per Skype interviewe, zeichnen sich Schatten unter ihren Augen ab.
Aber wenn sie über die Jungs und Mädchen im Lager spricht, leuchten ihre Augen hellwach.
"Die Kinder erzählen mir, dass sie sich sehr viel fürchten, vor dem Dunkeln, weil es keine Lichter gibt, möchten sie abends nicht zur Toilette gehen. Sie fürchten sich, wenn der Wind die Zelte zum Flattern bringt. Sie fürchten sich, weil es wirklich nirgends im Lager irgendwie ein sicheres Areal gibt, wo sie entspannen können, wo sie spielen können.
Sie sind eben immer gestresst. Und was neu ist, was ich früher nicht gesehen hab, ist eben, dass Kinder jetzt angefangen haben zu schlafwandeln. Das ist nach dem Feuer entstanden, weil sie träumen, dass das Feuer wieder zurück ist und dass sie flüchten müssen.
Für manche Kinder ist das so schlimm, dass sie mehrmals nachts weglaufen und zum Teil auch zum Wasser, so dass die Eltern sie jetzt am Handgelenk festbinden, damit sie sie sicher halten können."
Immer wieder werden Kinder sexuell missbraucht
Kurz vor Weihnachten machte eine Schreckensnachricht Schlagzeilen: Eine Dreijährige soll in Kara Tepe brutal vergewaltigt worden sein. Was so klingt, als sei es ein Einzelfall, ist laut der Kinderpsychologin eher die Regel. Immer wieder würden auch Kinder sexuell missbraucht, obwohl seit der Coronapandemie viel mehr Polizisten das Lager überwachen. Aber das Lager sei eben viel zu unübersichtlich und groß.
"Und die Kinder hören diese Geschichten und fürchten sich dann umso mehr, dass auch sie nachts jemand erwischen könnte oder dass sie eben nicht von den Eltern weggehen können. Und auf lange Sicht bewirkt das bei den Kindern, dass wir sehr viele Panikattacken sehen, Kinder total aufgelöst sind vor Angst.
Manche Kinder hören auf zu reden und ziehen sich ganz zurück. Und für manche ist es einfach so schlimm, dass sie sich selbst schädigen oder auch versuchen, sich das Leben zu nehmen."
Im letzten Jahr 50 Selbstmordversuche von Kindern
Allein im vergangenen Jahr gab es 50 Selbstmordversuche von Kindern. Manche waren gerade einmal acht Jahre alt. Die Studie des International Rescue Commitees macht auch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie für die zunehmenden psychischen Probleme auf den griechischen Inseln verantwortlich.
Das Infektionsgeschehen hält sich zwar in Grenzen: Derzeit ist Kara Tepe laut der WHO coronafrei, insgesamt gab es unter den Geflüchteten gerade einmal 404 Fälle. Aber die Menschen leiden unter den Ausgangssperren und den Maßnahmen gegen das Virus.
Wer positiv getestet wird, muss in eines der 22 Quarantänezelte direkt am Meer, in die der Wind noch feuchtkalter peitscht als in anderen Teilen des Lagers.
"Wir hören, dass Menschen sich weigern, zum Arzt zu gehen, um getestet zu werden, weil sie dann wissen, dass sie in diesem großen Zelt, eben im Isolationsareal leben müssen, wo die Bedingungen sehr schlecht sind und auch von der Familie ganz abgesondert sind. Und so fürchten wir natürlich, dass es mehr Fälle sind als die, die man entdeckt hat."
Die EU müsste das Lager evakuieren
Laut Katrin Glatz-Brubakk müsste die EU das Lager evakuieren. Zu Beginn der Pandemie versprach die EU-Kommission, zumindest 5000 von insgesamt 150.000 Geflüchteten aus Griechenland in 16 andere europäische Länder umzusiedeln. Aber das hat gerade mal bei 2050 geklappt.
Deutschland hat seit April rund 1500 Menschen aufgenommen. Weil sich manche EU-Mitgliedsländer weigerten, lehnte Bundesinnenminister Seehofer eine höhere Zahl ab. Der übliche Weg, aus Lesbos wegzukommen, ist mittels der Zusammenführung von Familien.
Familienzusammenführung schwieriger wegen Corona
Doch dieses Prozedere sei wegen des Virus enorm verlangsamt, sagt der britische Anwalt Phil Worthington, Leiter der Gesellschaft European Lawyers in Lesvos ELIL. Seit 2016 bereitet er die Geflüchteten auf ihre Interviews mit den Behörden vor.
"Zuvor wurden unbegleitete Jugendliche umgehend umgesiedelt, wenn die Zugehörigkeit zu einer Familie bewiesen werden konnte. Jetzt muss das übergeordnete Interesse geprüft werden und ein DNA-Test gemacht werden.
Ein Familienmitglied muss ein Memorandum unterzeichnen und Interviews müssen geführt werden. Was sehr wichtig ist für einen robusten Prozess. Aber es verlangsamt das Prozedere und macht es viel schwieriger. Zugleich lehnen diverse europäische Länder immer mehr Fälle von Familienzusammenführung ab."
Im Schnitt dauert es auf Lesbos etwa zwei Jahre, bis endgültig über den Fall eines Asylbewerbers entschieden wird. Seit Anfang des Jahres hat Griechenland die Verfahren zwar enorm beschleunigt: Derzeit laufen rund 60 Erstinterviews pro Tag. Das bedeute aber nicht, dass der Prozess insgesamt schneller abgeschlossen sei, so Worthington, denn jeder Fall müsse durch mehrere Instanzen.
"Der Schwerpunkt liegt auf der Geschwindigkeit"
Meistens erfahren die Asylbewerber erst am Vorabend oder wenige Stunden zuvor von ihrem Termin. Deshalb befürchtet Worthington, dass die beschleunigten Verfahren die gemeinsamen Mindeststandards der EU verletzen. Denen zufolge hat jeder Asylbewerber Recht auf anwaltlichen Rat. Doch auf Lesbos gibt es gerade einmal 20 bis 25 Asylrechtsanwälte.
"Angesichts der Tatsache, dass die Menschen das Lager nicht so einfach verlassen können und sie extrem kurzfristig benachrichtigt werden, entsteht eine Situation, in der es für die Menschen sehr schwierig ist, mit einem Anwalt zu sprechen. Der Schwerpunkt liegt auf der Geschwindigkeit. Dadurch riskieren die Behörden die Integrität des Prozesses und untergraben die Rechtsstaatlichkeit."
Nach dem Brand in Moria hofften viele, die Menschen würden evakuiert und die Lager geschlossen.
"Das neue Lager ist wie ein Gefängnis"
Doch genau das Gegenteil soll jetzt passieren: bis September wollen Griechenland und die EU auf Lesbos ein neues Flüchtlingszentrum errichten, das ähnlich funktionieren soll wie die umstrittenen Ankerzentren in Deutschland. Im Dezember wurde die Absichtserklärung unterzeichnet.
"Die Kinder hier sind vor dem Krieg geflüchtet. Und es ist ein Menschenrecht, um Asyl zu bitten. Man soll dafür nicht ins Gefängnis kommen und im Prinzip ist das neue geschlossene Lager wie ein Gefängnis, weil alles so begrenzt ist.
Es kann sein, dass die Wohnbedingungen etwas besser werden, aber die Unsicherheit, dieses Gefühl, ich habe keine Zukunft, dieses Gefühl, wann fängt mein Leben eigentlich wieder an, das wird bei den Kindern bestehen."