Aufstehen, besser machen, Europa!
"Aufstehen, Kleider abklopfen, besser machen!", könnte man nach dem Brexit raten, wenn da nicht genug Populisten wären, die nach dem Ergebnis die gesamte Europäische Gemeinschaft in Frage stellen. Hans Dieter Heimendahl meint, die Krise gilt es für einen Neustart zu nutzen.
Das Votum der Briten zum Austritt aus der EU ist ein politisches Beben, das die Fundamente der Europäischen Union in Straßburg und Brüssel erzittern lässt. Lange galt die EU als einer der exklusivsten Wohlstandsclubs der Welt, der neben ökonomischer Prosperität auch gesellschaftlich und politisch eine zwingende Entwicklung bis zu fast schon paradiesischen Zuständen zu verheißen schien und in dem Mitglied zu sein für die osteuropäischen Staaten lange zentrales Ziel ihrer Politik war.
Nun sieht eine Mehrheit der Briten die EU nur noch als eine Zwangsvereinigung, die ihre Mitglieder entmündigt und in die Schraubzwinge grenzen- und sinnloser Bürokratie einspannt und wirft das Privileg weg. Die verspiegelten Fassaden der Kommission in Brüssel haben Risse bekommen. Wie konnte es soweit kommen?
Die Gemeinschaft als Friedensprojekt
In Deutschland ist der Prozess der Europäischen Einigung immer als ein Friedensprojekt verstanden worden, mit dem nach den Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts die europäischen Nationen ihre Zukunft gemeinsam gestalten wollten. Gemeinsam würde man nicht nur ökonomisch besser da stehen, sondern überhaupt erst in die Lage geraten, Probleme zu lösen, die in zunehmendem Maße international sind, von der Globalisierung bis zum Klimawandel.
Das war in Deutschland sicher auch deshalb plausibel, weil uns der Prozess europäischer Einigung seit der deutschen Einigung im 19. Jahrhundert historisch vertraut ist.
Die pragmatischen Briten sind für politische Schwärmerei auf dem Kontinent wenig empfänglich. Die Brexit-Debatte hat die Frage nach der EU auf die nach dem ökonomischen Vorteil runter gekocht. Und alle, die sich als ökonomische Verlierer der Globalisierung sehen, haben gegen Brüssel gestimmt.
Suche nach Verantwortlichen
Man kann dafür britische Politiker verantwortlich machen, allen voran David Cameron und seine Partei, die britischen Konservativen, die so lange auf die EU als Sündenbock eingeschlagen haben. Auch die Arbeiterklasse, die sich offenbar von der Freizügigkeit der Menschen innerhalb Europas bedroht fühlt. Und natürlich auch die Europapolitiker in Brüssel, die bisweilen wenig achtsam mit jenen umgehen, die von ihren Gesetzen betroffen sind.
Aber das führt nicht weiter. Es hilft auch nichts, nun den Egoismus oder die Entsolidarisierung der EU-Kritiker anzuprangern, denn wenn die Europäischen Staaten nur aus Philanthropie zusammen blieben, wären die Tage der Union erst recht gezählt. Im Kern müssen wir konstatieren: Europa wird nicht verstanden. Das ist nicht nur ein britisches Thema.
Von Geerd Wilders bis zu Marine Le Pen und Beatrix von Storch frohlocken nun die Rechtspopulisten und fordern weitere Referenden. Sie alle unterstellen, dass Nationen Probleme besser lösen können als ein Staatenbund. Belege dafür gibt es natürlich keine, dagegen aber leider auch nur wenige.
Polemik gegen das Establishment
Die Propaganda gegen Europa ist im Grunde nur ein Spezialfall der Polemik gegen das Establishment und die Komplexität der Welt – dem eigentlichen politischen Geschäft der Rechtspopulisten. Nicht Europa ist in einer Krise, die Politik ist in einer Krise – und nicht nur die, die in Brüssel gemacht wird.
Und nun? "Never waste a crisis", raten Therapeuten in einer solchen Situation. Den Briten zu grollen, sie zu quälen mit brutalstmöglichen Austrittsverhandlungen, um Nachahmern den Schneid abzukaufen, ist kein Weg. Als Zwangsveranstaltung hat die EU keine Zukunft. Demokratie kann nur demokratisch funktionieren, sonst protestiert sie – beispielsweise mit einem Brexit.
Es hilft also alles nichts. Aufstehen, Kleider abklopfen, besser machen. Wer politische Verantwortung trägt, muss besser erklären, warum welche Maßnahmen getroffen werden. Und er muss vorher besser zuhören, worum es den Menschen geht. Und wenn er keine Antworten hat, darf er die Fragen trotzdem nicht ignorieren. Sonst nimmt die Demokratie früher oder später Rache.