Im Podcast der Weltzeit erklärt Kate Connolly, Korrespondentin der britischen Zeitung "The Guardian", wie sich das Vereinigte Königreich durch den Brexit verändern wird. Wie realistisch ist die Ankündigung der konservativen Regierung unter Premier Boris Johnson vom "goldenen Zeitalter"?
Das Königreich will zurück zum Empire
31:01 Minuten
Ab Februar sind die Briten raus aus der EU. Noch verändert sich bis Jahresende fast nichts, aber viele Verhandlungen starten: mit Brüssel, den alten Kolonien, den Schotten, den Nordiren, den Hochschulen - und der Hoffnung auf alte Größe.
Ab 2021 soll die Unsicherheit für britische Firmen vorbei sein. Sie hoffen auf ein lukratives Freihandelsabkommen mit der EU und möglichst viele Abkommen mit neuen Partnern. Zum Bespiel auch beim Kunsthandel, der hohe Zollschranken nicht gebrauchen kann.
Die Londoner Logistikfirma "Gander and White" hat die größte Anlieferhalle für Kunst in Europa. Zwei ganze Container passen nebeneinander durch die Tore. Überall stehen Holzkisten und verpackte Skulpturen.
"Wir verschicken viel nach New York", erzählt Alexander Bradford. "Großbritannien-USA ist unsere Hauptroute. Aber es geht auch viel nach Hongkong."
Alexander Bradford ist bei "Gander and White" für Kundenbeziehungen zuständig. Bewaffnet mit Schlüsseln und Schließkarten führt er durch die Hallen. Die Anlage ist so sicher wie Fort Knox.
London ist neben New York und Peking einer der größten Umschlagplätze für Kunst. Der Kunstmarkt in London profitiert unter anderem von der niedrigsten Mehrwertsteuer auf Kunst in Europa.
"Derzeit bringen viele Kunsthändler und -sammler ihr Kunst aus dem Ausland über das Vereinigte Königreich nach Europa", sagt Alexander Bradford. "Hier bezahlen sie beim Import nur fünf Prozent Mehrwertsteuer. Innerhalb der Zollunion der EU kann die Kunst dann weiter verschickt werden, ohne dass weiter Zölle und Steuern anfallen."
Erst mit der EU verhandeln, dann mit den USA
All das kann sich mit dem Brexit ändern. Großbritannien will den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Firmen im ganzen Land fürchten deswegen ab nächstem Jahr zusätzliche Zölle, Bürokratie und Wartezeiten an der Grenze. Die Briten könnten eine Verlängerung der Übergangsphase beantragen, aber dafür tickt die Uhr schon, sagt Dennis Novy, Wirtschaftsprofessor an der University of Warwick.
"Falls es eine Verlängerung geben sollte, dann müsste das bis Mitte des Jahres entschieden werden", sagt er. "Und so einen Zeitdruck gibt es natürlich bei anderen Ländern, zum Beispiel den Vereinigten Staaten, nicht."
Es gibt Stimmen in der britischen Regierung, die gerne gleichzeitig mit den USA und der EU über neue Handelsabkommen verhandeln würde. Aber es kursieren auch Zweifel, ob das Verhandlungsteam der Briten dafür überhaupt groß genug ist.
Handelsexperte Novy würde den Briten deswegen raten, sich zunächst auf die Gespräche mit der EU zu konzentrieren. "Handelspartner Nummer eins mit riesigem Abstand ist die EU. Und dementsprechend macht es aus ökonomischer Sicht Sinn, sich mit der EU zu beschäftigen. Und zwar in erster Linie und im Detail. Handelspartner Nummer zwei, aber mit deutlichem Abstand hinter der EU, sind die Vereinigten Staaten."
Möglicher Beitritt zu Pazifik-Abkommen CPTPP
Neben den USA muss die britische Regierung auch ihre Handelsbeziehungen mit vielen anderen Drittländern neu verhandeln. Südafrika, Chile, Mexiko. All diese Länder haben Freihandelsabkommen mit der EU, die nun nicht mehr für Großbritannien gelten.
Manche Kommentatoren empfehlen der Regierung in London deswegen mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Das Königreich solle bereits bestehenden Handelsabkommen beitreten. Zum Beispiel dem Pazifik-Abkommen CPTPP – zu dem Länder wie Australien, Japan, Kanada und Vietnam gehören. Ein Binnenmarkt mit knapp 500 Millionen Menschen.
"Das würde allerdings in der Praxis bedeuten, dass Großbritannien wenig Einfluss haben wird", sagt Dennis Novy. "Denn die Substanz dieser Abkommen ist ja schon da. Diese Abkommen bestehen bereits. Er wird also nicht großartig, alles abgeändert und maßgeschneidert, nur weil jetzt noch ein Land dazukommt."
Und dann sei da noch ein Problem, so Novy, die Distanz: "Der Pazifik ist sehr weit weg von Großbritannien. Entfernungen spielen im internationalen Handel eine ganz entscheidende Rolle. Es wird einfach viel weniger gehandelt mit Staaten, die weit weg sind, zum Beispiel Australien, obwohl es sehr starke historische Beziehungen gibt zwischen Großbritannien und Australien. Was die Handelsvolumen angeht, die sind eher gering."
Spricht die britische Regierung über neue Handelsabkommen, fallen immer wieder die Namen der alten Kolonien: Kanada, Australien, Neuseeland, Indien. Aber Handelsexperte Novy glaubt nicht, dass Großbritanniens Unterhändler dort sehnsüchtig erwartet werden.
"Da muss man auch nicht großartig raten, sondern man kann sich einfach anhören, was die Regierungen sagen in Delhi oder in Canberra", erklärt er. "Die sagen: Ja, klar, wir sind im Prinzip an Handelsabkommen interessiert. Aber! Und dann kommen ihre Bedingungen, zum Beispiel Einwanderung, ein großes Thema. Die indische Regierung möchte es viel einfacher haben, für indische Staatsbürger nach Großbritannien einzureisen."
Britische Firmen profitieren von Niederlassung in der EU
Solche Details verhandelt man nicht über Nacht. Gespräche für ein Freihandelsabkommen dauern drei bis sechs Jahre, so Novy. Die Folgen des Brexit werden das Land also noch eine Weile beschäftigen.
Alexander Bradford vom Kunst-Logistiker "Gander and White" wirkt jedoch entspannt. Schon vor dem Brexit hat die Firma die Zollschranken in die eigene Lagerhalle verlegt. Der Grund war damals der Kunsthandel mit der Schweiz.
"Wir können die Zollabfertigung hier erledigen", sagt er. "Sollte es also zu langen Staus am Grenzübergang in Dover kommen, müssen wir dort nicht warten, sondern können alles hier verzollen."
Und auch für den kommenden Steuerwettkampf zwischen dem Königreich und den EU-Staaten fühlt sich Bradford gerüstet. Frankreich hat seine Mehrwertsteuer auf Kunst vor einiger Zeit gesenkt und hofft nun, vom Brexit zu profitieren. Bradford sieht das als Chance, weil die Firma bereits einen Standort in Paris hat.
EU-Studierende werden vorerst wie Engländer behandelt
Unmittelbar betroffen von den Folgen des Brexit sind auch die etwa drei Millionen EU-Bürger im Vereinigten Königreich. Darunter Wissenschaftler und Studierende, wie Emily Fehlermann. Sie hat sich zwischen Latein und Alter Geschichte gerade eine vegane Teigtasche bestellt, den "Vegan Steak Bake". Dieses vegane Gericht ist seit ein paar Wochen der Renner in einer britischen Sandwichkette.
Die Düsseldorferin studiert seit September am renommierten University College London. "Ich habe in meinem Uni-Umfeld noch nie jemanden getroffen, der für den Brexit ist", sagt sie.
Wie es für Emily und die anderen Studierenden vom Festland weitergeht, hängt nun von den Verhandlungen der britischen Regierung mit der EU ab.
Sicher ist auf jeden Fall: Wer jetzt schon ein Studium hier angefangen hat oder noch bis September 2020 anfängt, darf es auch hier beenden und wird genau so behandelt wie ein Engländer. Vorausgesetzt, er stellt einen Antrag auf den so genannten "pre-settled status", eine Aufenthaltserlaubnis, die jeder bekommen soll, der vor dem Ende der Übergangsperiode, bis Ende 2020, noch ins Vereinigte Königreich kommt.
Emily wurde von ihrer Uni dringend empfohlen, den Antrag schon jetzt zu stellen: "Also das erste Problem war erstmal: Die App, auf der man seine Dokumente und so einscannen kann, gab es ja gar nicht für mein Handy. Dann brauchte ich noch ein Dokument, was meinen Wohnsitz bestätigt, das musste ich natürlich noch finden. Und jetzt muss ich mal warten auf die Antwort, wie lange das jetzt dauert, keine Ahnung."
Die zweite wichtige Frage: Werden die Studiengebühren jetzt noch höher? Emily zahlt in London wie ihre britischen Kommilitonen derzeit schon 9000 Pfund im Jahr, etwa 11.000 Euro. Muss sie künftig doppelt so viel zahlen – wie Studierende von außerhalb der EU - zum Beispiel aus China, Indien oder Pakistan?
"Wir haben uns natürlich ein bisschen informiert über die Studiengebühren, dass wir relativ sicher sein können, dass die jetzt nicht mitten im Studium plötzlich erhöht werden", erzählt sie.
Briten waren größter Profiteur der EU-Forschungsgelder
Vivienne Stern, die Beauftragte für Internationale Fragen bei "Universities UK", so etwas wie der britischen Hochschulrektorenkonferenz, bestätigt: Für alle europäischen Studierenden, die jetzt schon an britischen Unis eingeschrieben sind, hat die britische Regierung Garantien abgegeben.
"Wer in England oder Nordirland studiert, wird die gleichen Gebühren bezahlen wie Briten auch, und er hat Zugang zu unseren Studienkrediten", sagt Stern. "Wenn man direkt nach dem Brexit zum Studieren herkommt, braucht man kein Visum, es wird ein temporäres Bleiberecht geben, aber dafür muss man sich auch erst im September 2020 bewerben."
Das Vereinigte Königreich hat zugesagt, auch Erasmus-Stipendien bis Ende der Übergangsperiode voll mitzutragen. Auch Forscher aus der EU, die jetzt schon in Großbritannien sind, werden nächstes Jahr nicht des Landes verwiesen, wenn sie in den kommenden Monaten ihre Aufenthaltserlaubnis beantragen. Viele sollen Großbritannien aber schon prophylaktisch den Rücken gekehrt haben.
Solche Gerüchte dementiert Vivienne Stern: "Bislang deuten die Daten nicht darauf hin, dass wir Mitarbeiter aus der EU verlieren. Es kommen Leute, es gehen Leute, aber unterm Strich ist der Anteil der EU-Forscher nicht gesunken. Was dann passiert, wird davon abhängen, wie die Einwanderungsgesetze aussehen."
Die dominierende Sorge vieler Forscher in Großbritannien war in den vergangenen Monaten, dass sie nach dem Brexit nicht mehr an die EU-Fördertöpfe herankommen. Großbritannien war seit Jahren der größte Netto-Profiteur der EU-Forschungsförderung im Programm "Horizon 2020". Doch inzwischen hat die Regierung unter Boris Johnson versichert, sie werde die Verluste mehr als ausgleichen.
Vivienne Stern von Universities UK: "Die Regierung hat sich festgelegt, dass sie das Forschungsbudget bis 2025 verdoppeln will. In gewisser Weise ist es also kein Problem, Geld aus der EU-Forschungsförderung zu verlieren. Ich mache mir eher Sorgen, dass wir sehr viel schwerer mit europäischen Partnern zusammenarbeiten können."
"Lass nie eine Krise ungenutzt vorüberziehen"
Der Stammzellforscherin Anne da Silve Gomes vom Londoner Francis Crick Institut, dem größten biomedizinischen Forschungsinstitut Europas, bereitet etwas ganz anderes Kopfzerbrechen: ein harter Brexit, falls es die Briten nicht schaffen bis Ende 2020 einen Vertrag mit der EU auszuhandeln.
"Wenn es zu einem harten Brexit kommt und ich mache ein Experiment, an dem mehrere Länder beteiligt sind, wie läuft das dann, wenn nicht geregelt ist, wie wir die Forschungsergebnisse miteinander austauschen? Wie kann ich ein medizinisches Instrument nach britischen Standards entwickeln, wenn ich nicht weiß, ob Europa die britischen Bestimmungen übernehmen wird – und umgekehrt?"
Der Chef des Verbandes der Biochemischen Industrie, Steve Bates, glaubt allerdings, dass die EU künftig für die Briten ohnehin eine immer geringere Rolle spielen wird. Viel wichtiger sei, ob der chinesische Markt sich bald für britische Life-Sciences-Produkte öffne. Und Vivienne Stern von Universities UK, dezidierte Gegnerin des Brexit, sagt sogar: Mit dem Brexit seien Chancen verbunden.
"Die Regierung hat bereits die Visa-Bestimmungen für Studierende von außerhalb der EU gelockert, so dass sie nach ihrem Abschluss länger hierbleiben und einen Job suchen können. Dafür haben wir zehn Jahre lang gekämpft. Ich würde also sagen: Lass nie eine Krise ungenutzt vorüberziehen."
Abschied des zweitgrößten Nettozahlers der EU
"Wir wollen unser Geld zurück", verlangte die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher im November 1979. Der Satz hat Geschichte gemacht und nun, gut 40 Jahre später, wird die Forderung auf radikale Weise eingelöst, erklärt Michael Emerson vom Centre for European Policy Studies in Brüssel.
"Das Vereinigte Königreich wird in der Übergangsphase etwa denselben Betrag wie vor dem Brexit weiter zahlen", sagt er. "Aber dann: Nichts mehr."
Kleinere Summen könnten noch anfallen, wenn Großbritannien an einigen EU-Programmen teilnimmt. Norwegen etwa zahlt jährlich 400 Millionen Euro für den Zugang zum Binnenmarkt.
Doch klar ist: Ohne die Briten - mit 6,9 Milliarden Euro zweitgrößter Nettozahler - wird das Geld knapper in Brüssel. Die deutsche Regierung fordert Ausgabenkürzungen - ohne freilich zu sagen, wo gespart werden soll. Das Europaparlament will, dass die verbleibenden Mitgliedsstaaten mehr zahlen. Die Entscheidung wird in den nächsten Monaten fallen.
Mehrheit britischer EU-Abgeordneter für Europa
"Brexit ist nur der erste Stein aus der Mauer", sagt Nigel Farage. "Sie haben ihre Lektion nicht gelernt: Das Projekt Europa ist zu Ende."
Zu Ende sind vor allem die Auftritte des Brexit-Leaders Nigel Farage. Seit 21 Jahren sitzt der britische Abgeordnete im EU-Parlament. In wenigen Tagen müssen er und seine Mitstreiter ihre Büros räumen.
Kein inhaltlicher Verlust, meint Politikwissenschaftler Emerson: "Die Brexit-Partei war zwar relativ groß, aber sie hatte keinen politischen Einfluss, sie hat einfach nur Lärm gemacht."
Farage und seine Leute hätten das Europaparlament nur als Bühne benutzt, erzählt die grüne Europaabgeordnete Terry Reinke, für polemische Reden, die dann sofort ins Internet gestellt wurden. An der parlamentarischen Arbeit hätten sie kein Interesse gehabt: "Die sind auch häufig nicht gekommen, zu Abstimmungen zum Beispiel."
Die Brexit-Partei stellt mit 29 die meisten der 73 britischen Abgeordneten. Aber noch größer ist das Lager der britischen Pro-EU-Parteien, die ebenfalls gehen müssen.
"Dementsprechend denke ich", sagt Terry Reincke, "dass es für uns an vielen Stellen eher negative Auswirkungen haben wird, dass wir unsere starken grünen Abgeordneten, die Liberalen und die Sozialdemokraten verlieren werden, weil die eben sehr aktiv waren und damit immer wieder progressive Gesetzgebung vorangetrieben haben."
Die politischen Gewichte im EU-Parlament können sich nun zu Gunsten der Konservativen verschieben, so Terry Reinke: "Ich arbeite viel zu Frauenrechten und da sind wir uns nicht mehr so sicher, ob wir die Mehrheiten noch zusammenkriegen, nach dem Brexit."
EU-Ministerrat ist ohne die Briten handlungsfähiger
Positive Veränderungen erhofft sich die Grünen-Politikerin im Ministerrat der EU, wo die Regierungen vertreten sind. Vor allem in der Sozialpolitik, beim Kampf gegen Steuervermeidung und bei der Bankenregulierung hat sich London hier oft quer gestellt.
"Zum Teil haben sich wahrscheinlich auch andere Mitgliedsstaaten hinter Großbritannien versteckt", sagt sie. "Deshalb ist da jetzt so ein bisschen die Stunde der Wahrheit, wer will eigentlich, dass wir vorangehen in diesen Bereichen."
Klar ist auf jeden Fall: London hat ab dem 1. Februar keinen Einfluss mehr auf die Entwicklung der Europäischen Union. Umgekehrt ist die Sache nicht so eindeutig.
EU-Regeln werden weiterhin eine Rolle im Vereinigten Königreich spielen, prophezeit Politologe Michael Emerson: "Politiker tönen gerne, dass man bald frei sein werde von europäischen Gesetzen. Aber die Auto-, die Pharma- und die Lebensmittelindustrie sagen, das wäre verrückt. Wer in die EU exportieren will, muss die europäischen Produktstandards anerkennen."
Briten werden die meisten EU-Standards übernehmen
25.000 solcher Produktstandards gibt es in der EU, vom Gentech-Verbot bei Lebensmitteln bis zur Sicherheit von Rasenmähern. Schon aus zeitlichen Gründen wird London fast alle EU-Vorschriften einfach in britisches Recht übernehmen. Doch was passiert, wenn die EU Vorschriften ändert? Wird London dann nachziehen, wie die Schweiz und Norwegen?
Alles noch unklar, genauso wie die Rechtsauslegung, sagt Joelle Grogan von der Middlesex-University in London: "Wenn ein britischer Richter unsicher ist, wie er ein vorher europäisches und dann britisches Gesetz auslegen soll, kann er auch nicht mehr den Europäischen Gerichtshof fragen. Auch die Möglichkeit für einfache Bürger und Unternehmen, nationale Gesetze vom EUGH überprüfen zu lassen, das ist für die Briten vorbei."