Nach dem Brexit

Die EU: Getäuscht, enttäuscht

Von Stephanie Rohde · 03.07.2016
Europa ist in weiten Teilen nach dem Brexit-Votum der Briten vor allem eines: Enttäuscht. Doch wenn aus Enttäuschung eine "Ent-täuschung" wird, ist das nicht ausschließlich schlecht, meint Stephanie Rohde.
Enttäuschung ist immer auch eine Frage der Erwartung. Wer große Erwartungen hat, wird häufig enttäuscht. Wie groß die Enttäuschung über das Brexit-Referendum war, zeigte sich vor allem darin, wie häufig in dieser Woche über Erwartungen gesprochen wurde. Offenkundig hatten die meisten EU-Politiker einen anderen Ausgang des britischen Referendums erwartet. Sie reagierten auf ihre enttäuschten Erwartungen erwartbarerweise damit, dass sie neue Erwartungen formulierten, wie die britische Regierung jetzt agieren muss. Ohne Verpflichtungen einzugehen, könne sie auch keine Privilegien von der EU erwarten.
Dass Großbritannien genau das bislang erwarten konnte, ist Teil des Problems. Unter anderem zahlt das Königreich bislang pro Kopf nur halb so viel an die EU wie Deutschland, kann selbst entscheiden, bei welchen europäischen Maßnahmen der Innen- und Justizpolitik es mitmacht und ist dem Fiskalpakt nicht unterworfen. Großbritannien ist es mithin in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, seine utilitaristische - also nutzenmaximierende - Logik in der EU durchzusetzen. Das ist ein Grund dafür, dass die europäische Idee verkümmert ist, weil sie zunehmend als Tauschgeschäft von Nutzenmaximieren interpretiert wurde.

Im Tausch Macht ausüben

In der Logik des Utilitarismus lässt sich aber nicht nur das britische Verhalten in der EU begründen, sondern auch, warum die anderen EU-Staaten den Briten Sonderregelungen zugestanden haben: Nutzenmaximierer nehmen nämlich vorübergehend Verluste in Kauf, wenn sie sich davon langfristig ertragsförderliche Beziehungen mit Großbritannien als EU-Mitglied versprechen.
Seit dem Brexit-Referendum ist klar: Das nutzenmaximierende Tauschgeschäft war eine Täuschung. Wie eng die Phänomene Tausch und Täuschung miteinander verwoben sind, zeigt die Herkunft beider Wörter. Das Neuhochdeutsche "tauschen" geht zurück auf das mittelhochdeutsche "tūschen", was "unwahr reden, lügnerisch versichern" bedeutet. Die heute allein übliche Interpretation "Waren auswechseln" tauchte erst im 15. Jahrhundert auf.
Vielleicht verstand Friedrich Nietzsche den Tausch auch deshalb als eine Transaktion, in der beide Partner sich gegenseitig täuschen, um Macht über den anderen zu gewinnen. Das, was der Utilitarismus als Nutzenmaximierung versteht, ist bei Nietzsche konkreter gefasst als ein Zugewinn an Macht.

Erwartungen haben Europa gelähmt

Mit dem Brexit merken die verbleibenden 27 EU-Mitglieder, dass sie Großbritannien zu ihren eigenen Ungunsten mehr Macht verliehen haben – und selbst keinen langfristigen Nutzen davon haben werden.
Auf die Täuschung im Tausch folgt die Enttäuschung. Diese ist aber glücklicherweise ein ambivalentes Phänomen. Einerseits werden Erwartungen nicht erfüllt, andererseits wird man ent-täuscht, also aus einer Täuschung herausgerissen und von ihr befreit.
Europa muss diese Enttäuschung über das Ende der britischen Mitgliedschaft als Ent-Täuschung verstehen, also als Ende der Täuschung. Vielleicht zeigt sich dann, dass es gerade die Erwartungen waren, die Europa gelähmt haben. Der Trick könnte darin bestehen, weniger Erwartungen zu haben. Damit Europa mehr sein kann als nur nutzenmaximierendes Tauschgeschäft.
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