Nach dem Gau ist vor dem Gau
Fukushima, Ehec, Klimawandel: Bei jeder Schlagzeile sehen wir gleich den Weltuntergang aufdämmern - aber ebenso schnell wird jedes Desaster wieder vergessen. Warum das so ist, erklärt uns der Soziologe Gerhard Schulze in seinem großartigen Buch "Das Alarmdilemma".
Wozu gibt es eigentlich Autoalarmanlagen – fragen Sie sich das nicht auch gelegentlich? Denn wer dreht sich noch um, wenn wieder mal der rhythmische Klang einer Hupe durch die Straße tönt? Schon wieder so ein Fehlalarm, denkt man und lässt sich ansonsten beim Plaudern, Essen oder Shoppen nicht stören. Wir wissen zwar durchaus, dass Autos gestohlen werden, aber offenbar gehen wir unerschütterlich davon aus, dass dies niemals geschieht, wenn wir in der Nähe sind.
Warum ist das so? Warum verhalten wir uns gegenüber einer Autoalarmanlage in unserer Nähe so stoisch, wo wir doch sonst dazu neigen, jede noch so kleine Abweichung von der Normalität minutiös zu registrieren, und bereit sind, jede Unregelmäßigkeit irgendwo in der Welt gleich als potentiellen Störfaktor für unseren hiesigen Status Quo zu werten.
Fukushima, Ehec, Griechenland, der Klimawandel: Wir alle kennen die desaströsen Meldungen nur zu gut, die einander zu jagen scheinen. Kaum ebbt die eine Bedrohung ab oder verwandelt sich in eine Art Business as usual des politischen Vorwärtswerkelns, da ist auch schon die nächste Katastrophe da. Nach dem Gau ist vor dem Gau – das, so scheint es, ist die einzige Regel, auf die wir uns noch verlassen können.
Zwei Alarmseelen scheinen also in unserer Brust zu wohnen, und warum das so ist, erklärt uns Gerhard Schulze in seinem großartigen Buch "Das Alarmdilemma". Schulze ist Professor für empirische Sozialforschung und lehrt an der Universität Bamberg. Pointiert und umfassend hält er uns modernen Medien-, und das heißt: Alarmkonsumenten den Spiegel vor. Und seine Analyse fällt dabei denkbar treffend und knapp aus:
"Die Moderne hat den Normalitätsbruch normalisiert."
Nur so ist es zu erklären, dass wir einerseits bereit sind, in jeder neuen Krisenmeldung sogleich einen Abgesang auf unsere moderne, hochtechnisierte Zivilisation zu sehen, andererseits aber jedes Desaster ebenso schnell wieder zu vergessen scheinen, wie es gemeldet worden ist.
Genaugenommen, so befindet Schulze, sind wir Menschen nach wie vor die, die wir immer schon waren: Wir wollen möglichst ungestört unsere Tage zubringen, aber die Umwelt zwingt uns regelmäßig dazu, weiterzuziehen und unser Glück woanders zu suchen. Dieses uralte Muster hat unter den Menschen verschiedene Typen und Haltungen hervorgebracht, die Schulze folgendermaßen charakterisiert: den Besorgten, den Pionier und den Hausmeister. Als Beispiel dient Schulze die Eroberung der südpazifischen Inseln durch die Polynesier.
"Die Polynesier brachen als Pioniere auf. Als Besorgte schafften es die vom Glück Begünstigten unter ihnen, Gefahren aus dem Weg zu gehen und zu überleben. Kaum aber hatten sie eine neue Insel erreicht, mutierten sie zu Hausmeistern. Sie woben am zarten verletzlichen Netz der Alltagsroutinen und flickten es, wenn es da und dort riss."
Im Gegensatz dazu hat die Moderne den Aufbruch ins Unbekannte zum Alltags- und Dauerphänomen gemacht. Ständig werden wir mit neuen Technologien und veränderten gesellschaftlichen und lebensweltlichen Modellen konfrontiert. Im Moment sind es die sozialen Netzwerke im Internet, die wieder einmal alles auf den Kopf zu stellen scheinen. Vermutlich werden wir bald gezwungen sein, beständig zu bloggen, chatten oder twittern, um durch unsere Netzpräsenz ein hohes Sozialranking zu erzielen, ohne das in Zukunft weder beruflich noch privat irgendetwas laufen wird. Was auch immer wir erreicht haben - unser Wunsch nach Normalität, nach einem ungestörten und abgesicherten Leben wird durch die Moderne beständig unterminiert.
"Die Moderne ist ein Aufbruchsprojekt. Es gibt immer wieder neue Risiken, böse Überraschungen und unvorhergesehene Ordnungsdefizite wie die Finanzkrise oder im Prozess der europäischen Integration."
Dadurch hat sich unsere Wahrnehmungsperspektive verschoben: Was wir sehen, ist nur noch eine Abfolge von gesellschaftlichen Pleiten, Pech und Pannen, während wir das Funktionieren und die zivilisatorischen Erfolge gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Wir genießen ein Leben in einer – verglichen mit früheren Zeiten – unvorstellbaren Sicherheit und sehen doch bei jeder Schlagzeile sogleich den Weltuntergang aufdämmern.
Der Hausmeister in uns hat die Herrschaft übernommen. Da ein störungsfreies Leben offenbar nicht mehr möglich ist, erklärt er den Weltuntergang kurzerhand zur Normalität. Im Gegenzug wird das Funktionieren zur Störung und ausgeblendet. Anstatt in der Fahndung nach dem Ehec-Bakterium einen Erfolg zu sehen, wertet man das Auftauchen der Mikrobe lieber als Beweis für das Versagen der EU-Agrarindustrie. Dabei hätte die vormoderne Menschheit dem Darmbakterium vollkommen hilflos gegenüber gestanden, und seine Todesspur wäre ungleich breiter gewesen.
Wahrscheinlich ist das von Gerhard Schulze in seinem Buch so brillant beschriebene Alarmdilemma gar nicht lösbar. Wir sind als Menschen darauf programmiert, besorgt und potentiell alarmiert zu sein, doch ebenso sehr sehnen wir uns nach Normalität und Alltag. Das einzige, was wir tun können, ist, dem Alarmdiskurs möglichst kritisch gegenüber zu stehen. Und dafür stellt Schulze uns am Ende seines Buches eine Checkliste zu Verfügung, mit der wir die nie abreißenden Debatten einem – man muss wohl jetzt sagen – Stresstest unterziehen können:
"Wie offen oder dogmatisch wird eine Debatte geführt? Wird als sicher angenommen, was bloße Hypothese ist? ... Werden Opponenten mit der Moralkeule zum Schweigen gebracht? ... Sind es große Namen ... politische Weltinszenierungen mit abertausend Experten ... sind es also bloße Suggestionen von Gewissheit, die in der öffentlichen Debatte vorherrschen? Trauen die Wortführer der Öffentlichkeit Verstand zu oder verkaufen sie die Leute für dumm?"
Solche Fragen sind unverzichtbar, wenn man nicht ständig in die Alarmfalle tappen will, und das Buch von Gerhard Schulze ist ein wichtiges Kompendium, uns davor zu bewahren. Denn schließlich können wir das ja erwiesenermaßen auch: einfach mal sitzen bleiben, wenn wieder mal irgendwo eine Hupe losgeht.
Gerhard Schulze: Krisen – Das Alarmdilemma
S. Fischer Verlag, 250 Seiten, 19,95 Euro
Warum ist das so? Warum verhalten wir uns gegenüber einer Autoalarmanlage in unserer Nähe so stoisch, wo wir doch sonst dazu neigen, jede noch so kleine Abweichung von der Normalität minutiös zu registrieren, und bereit sind, jede Unregelmäßigkeit irgendwo in der Welt gleich als potentiellen Störfaktor für unseren hiesigen Status Quo zu werten.
Fukushima, Ehec, Griechenland, der Klimawandel: Wir alle kennen die desaströsen Meldungen nur zu gut, die einander zu jagen scheinen. Kaum ebbt die eine Bedrohung ab oder verwandelt sich in eine Art Business as usual des politischen Vorwärtswerkelns, da ist auch schon die nächste Katastrophe da. Nach dem Gau ist vor dem Gau – das, so scheint es, ist die einzige Regel, auf die wir uns noch verlassen können.
Zwei Alarmseelen scheinen also in unserer Brust zu wohnen, und warum das so ist, erklärt uns Gerhard Schulze in seinem großartigen Buch "Das Alarmdilemma". Schulze ist Professor für empirische Sozialforschung und lehrt an der Universität Bamberg. Pointiert und umfassend hält er uns modernen Medien-, und das heißt: Alarmkonsumenten den Spiegel vor. Und seine Analyse fällt dabei denkbar treffend und knapp aus:
"Die Moderne hat den Normalitätsbruch normalisiert."
Nur so ist es zu erklären, dass wir einerseits bereit sind, in jeder neuen Krisenmeldung sogleich einen Abgesang auf unsere moderne, hochtechnisierte Zivilisation zu sehen, andererseits aber jedes Desaster ebenso schnell wieder zu vergessen scheinen, wie es gemeldet worden ist.
Genaugenommen, so befindet Schulze, sind wir Menschen nach wie vor die, die wir immer schon waren: Wir wollen möglichst ungestört unsere Tage zubringen, aber die Umwelt zwingt uns regelmäßig dazu, weiterzuziehen und unser Glück woanders zu suchen. Dieses uralte Muster hat unter den Menschen verschiedene Typen und Haltungen hervorgebracht, die Schulze folgendermaßen charakterisiert: den Besorgten, den Pionier und den Hausmeister. Als Beispiel dient Schulze die Eroberung der südpazifischen Inseln durch die Polynesier.
"Die Polynesier brachen als Pioniere auf. Als Besorgte schafften es die vom Glück Begünstigten unter ihnen, Gefahren aus dem Weg zu gehen und zu überleben. Kaum aber hatten sie eine neue Insel erreicht, mutierten sie zu Hausmeistern. Sie woben am zarten verletzlichen Netz der Alltagsroutinen und flickten es, wenn es da und dort riss."
Im Gegensatz dazu hat die Moderne den Aufbruch ins Unbekannte zum Alltags- und Dauerphänomen gemacht. Ständig werden wir mit neuen Technologien und veränderten gesellschaftlichen und lebensweltlichen Modellen konfrontiert. Im Moment sind es die sozialen Netzwerke im Internet, die wieder einmal alles auf den Kopf zu stellen scheinen. Vermutlich werden wir bald gezwungen sein, beständig zu bloggen, chatten oder twittern, um durch unsere Netzpräsenz ein hohes Sozialranking zu erzielen, ohne das in Zukunft weder beruflich noch privat irgendetwas laufen wird. Was auch immer wir erreicht haben - unser Wunsch nach Normalität, nach einem ungestörten und abgesicherten Leben wird durch die Moderne beständig unterminiert.
"Die Moderne ist ein Aufbruchsprojekt. Es gibt immer wieder neue Risiken, böse Überraschungen und unvorhergesehene Ordnungsdefizite wie die Finanzkrise oder im Prozess der europäischen Integration."
Dadurch hat sich unsere Wahrnehmungsperspektive verschoben: Was wir sehen, ist nur noch eine Abfolge von gesellschaftlichen Pleiten, Pech und Pannen, während wir das Funktionieren und die zivilisatorischen Erfolge gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Wir genießen ein Leben in einer – verglichen mit früheren Zeiten – unvorstellbaren Sicherheit und sehen doch bei jeder Schlagzeile sogleich den Weltuntergang aufdämmern.
Der Hausmeister in uns hat die Herrschaft übernommen. Da ein störungsfreies Leben offenbar nicht mehr möglich ist, erklärt er den Weltuntergang kurzerhand zur Normalität. Im Gegenzug wird das Funktionieren zur Störung und ausgeblendet. Anstatt in der Fahndung nach dem Ehec-Bakterium einen Erfolg zu sehen, wertet man das Auftauchen der Mikrobe lieber als Beweis für das Versagen der EU-Agrarindustrie. Dabei hätte die vormoderne Menschheit dem Darmbakterium vollkommen hilflos gegenüber gestanden, und seine Todesspur wäre ungleich breiter gewesen.
Wahrscheinlich ist das von Gerhard Schulze in seinem Buch so brillant beschriebene Alarmdilemma gar nicht lösbar. Wir sind als Menschen darauf programmiert, besorgt und potentiell alarmiert zu sein, doch ebenso sehr sehnen wir uns nach Normalität und Alltag. Das einzige, was wir tun können, ist, dem Alarmdiskurs möglichst kritisch gegenüber zu stehen. Und dafür stellt Schulze uns am Ende seines Buches eine Checkliste zu Verfügung, mit der wir die nie abreißenden Debatten einem – man muss wohl jetzt sagen – Stresstest unterziehen können:
"Wie offen oder dogmatisch wird eine Debatte geführt? Wird als sicher angenommen, was bloße Hypothese ist? ... Werden Opponenten mit der Moralkeule zum Schweigen gebracht? ... Sind es große Namen ... politische Weltinszenierungen mit abertausend Experten ... sind es also bloße Suggestionen von Gewissheit, die in der öffentlichen Debatte vorherrschen? Trauen die Wortführer der Öffentlichkeit Verstand zu oder verkaufen sie die Leute für dumm?"
Solche Fragen sind unverzichtbar, wenn man nicht ständig in die Alarmfalle tappen will, und das Buch von Gerhard Schulze ist ein wichtiges Kompendium, uns davor zu bewahren. Denn schließlich können wir das ja erwiesenermaßen auch: einfach mal sitzen bleiben, wenn wieder mal irgendwo eine Hupe losgeht.
Gerhard Schulze: Krisen – Das Alarmdilemma
S. Fischer Verlag, 250 Seiten, 19,95 Euro