Nach dem Militärputsch

Rezensiert von Marko Martin |
Der argentinische Schriftsteller Marcelo Figueras erzählt in seinem Roman, der kurz nach dem Militärputsch von 1976 spielt, aus der Sicht des kleinen Jungen Harry. Seine Familie taucht in einem Landhaus unter, was er und sein Bruder für ein lustiges Abenteuer halten. Für die Eltern dagegen ist es gefährliche Überlebenstechnik.
Es waren bis jetzt vor allem vier Bücher, die, auch international wahrgenommen, die Gewaltherrschaft jener rechtsextremen Militärregime, welche im Mittel- und Südamerika der siebziger und achtziger Jahre unter Duldung oder mit Unterstützung der Vereinigten Staaten herrschten, literarisch zu verarbeiten suchten: Manuel Puigs "Der Kuss der Spinnenfrau", Ariel Dorfmans "Der Tod und das Mädchen", Alberto Manguels "Im siebten Kreis" und Erich Hackls "Sara und Simon".

Wenngleich Puigs Geschichte in einer Gefängniszelle spielte, wurde hier allein durch die tragikomische Gestalt des homosexuellen Ästhetizisten Luis eine Distanz zum allgegenwärtigen Terror geschaffen, Manguel und Hackl schließlich erzählen von den Entführten und Verschwundenen aus geographischer und zeitlicher Entfernung, und selbst bei Ariel Dorfman liegt zwischen der Wiederbegegnung von Folterer und Opfer über ein Jahrzehnt.

Es scheint, als benötige Literatur eben jenen Zwischenraum zwischen Geschehenem und dem Vergessen, um adäquat die Geschichten Einzelner zu erzählen zu können, ein Dutzend von zehntausenden Opfern jener dunklen Jahre, von El Salvador bis hinunter nach Argentinien. Selbst in einem preisgekrönten Film wie "Junta", spielend in der berüchtigten, zum Folterzentrum umgebauten Marineschule im Zentrum von Buenos Aires, zieht sich die Kamera in eben jenem Moment zurück, als die staatlichen Schergen mit dem Foltern beginnen: Tür zu und Fokus auf ein schäbiges Transitorradio, das Schlager und Tangos herausplärrt, auf das die Schreie der Opfer nicht gehört werden.

Diese Selbstzurücknahme der Kunst aber garantierte von jeher den nachhaltigsten Eindruck, und so sollte der Leser von Marcelo Figueras´ soeben auf deutsch erschienenem Roman "Kamtschatka" auch nicht irritiert sein, ausgerechnet von der kindlichen Erzählstimme des zehnjährigen Harry durch eine Geschichte geführt zu werden, die in den ersten Monaten nach dem Militärputsch von 1976 in Argentinien spielt.

Figueras, Jahrgang 1962, hat für ein Geschehen voller Brüche und Schrecken, am Schluss sind Harrys Eltern "verschwunden", Gleichnisse von solch herzzerreißender Sanftheit gefunden, dass mitunter das Weiterlesen schwer fällt. Warum darf er, wo doch heute Donnerstag ist, nicht zum Schnitzelessen zu seinem Schulkameraden Bertuccio, fragt Harry auf dem Rücksitz des elterlichen Citroën, während der kleine Bruder quengelt, dass man die Wohnung verlassen habe, ohne ihn seinen Plüsch-Goofy mitnehmen zu lassen.

"Erst an der nach meinen Protesten eintretenden Stille merkte ich, dass der Citroen angehalten hatte. Zehn Meter weiter hinten standen ein paar Streifenwagen mitten auf der Avenida, sie bildeten einen Trichter, durch dessen Öffnung nur jeweils ein Auto passte."

Die auf der Ausfallstraße hinaus in die Provinz kontrollierenden Uniformierten sehen dann lediglich eine gestresste, mit zitternden Fingern rauchende Mutter und zwei ungezogene Kids; man lässt sie passieren.

"Als der Posten aus dem Rückspiegel verschwunden war, streckte Mama einen Arm aus und streichelte uns. Ich wich der Berührung aus. Ich dachte, es handelte sich um einen absurden Versuch, sich einzuschmeicheln, und ich wollte ihr nicht den Gefallen tun, zu kapitulieren. Sie muss sich in diesem Moment sehr allein gefühlt haben."

Später, in einem abgelegenen Landhaus, beginnt Harrys Vater mit seinen Söhnen zur Ablenkung ein Brettspiel namens TEG (Taktiken und Strategien des Krieges) zu spielen: Ferne Gebiete wollen erobert sein, und Harry entscheidet sich für Kamtschatka, das im Laufe der Geschichte und je aussichtsloser die Lage wird, immer mehr als Symbol für eine freie Region, für "den letzten Ort des Widerstandes" dient. Inwieweit in dieser von den Eltern geförderten Kinderphantasie auch die Lebenslügen der lateinamerikanischen Linken leise persifliert werden, sich gesellschaftliche Alternativen oft nur im sowjetisch-kubanischen Rahmen vorstellen zu können, steht freilich dahin und bleibt dem Leser überlassen.

So sensibel aber hier auch den anarchischen Launen und wilden Assoziationen eines Zehnjährigen, der zum ersten Mal aus seiner gewohnten städtischen Umgebung herausgerissen ist, nachgespürt wird, selbstverliebten Eskapismus und ein Kokettieren mit der Erzählperspektive erlaubt sich Marcelo Figueras in keiner Zeile. Eher ist die zärtliche Genauigkeit, mit der er ein Kind alle Alltagsvorkommnisse und das mitunter rätselhafte Betragen der Erwachsenen betrachten lässt, ein Lebewohl für eine bedrohte Welt, ein letzter Aufschein von Humanität in Zeiten abscheulich vagabundierenden Terrors. Man wird die Geschichte von Harrys Familie nie mehr vergessen.


Marcelo Figueras: Kamtschatka.
Roman. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg
Nagel & Kimche, München/Wien 200
318 Seiten, 19, 90 Euro