Die Menschen im Sudan können aus eigener Kraft zivile Strukturen und ein demokratisches System etablieren. Davon ist Manal Saifeldin überzeugt. Sie arbeitet für die Diakonie und war Vorstandsvorsitzende der Organisation für Menschenrechte in den Arabischen Staaten. Sie stammt selbst aus dem Sudan und lebt seit fast 20 Jahren in Deutschland. Die Übergangsregierung sei auf einem guten Weg, sagt Manal Saifeldin im "Weltzeit"-Interview. Wichtige Schritte würden derzeit angegangen: Die Partei von Ex-Präsident Omar al-Baschir wurde aufgelöst, politische Gefangene wurden aus der Haft entlassen, strenge Kleidervorschriften abgeschafft. Allerdings müsse sich das Militär aus der Regierung zurückziehen.
Die Stunde der Frauen
21:50 Minuten
Der zivile Aufbau im Sudan ist bemerkenswert weiblich: Seit Diktator al-Bashir gestürzt wurde, sprechen Frauen im Radio über Gleichberechtigung, gehen Tabu-Themen wie Genitalverstümmelung an, haben eine eigene Fußball-Liga gegründet.
Alaa Salah ist eine Studentin Anfang 20, deren Bild im April 2019 um die Welt ging. Sie wurde als "Lady Liberty of Sudan", als die Frau in Weiß, als "Nubian Queen" bezeichnet. Berühmt wurde sie, als sie auf einem Autodach stand und sang und die begeisterte Menschenmenge mitnahm. Salah ist Mitglied von MANSAM, einem Frauen-Netzwerk, das lautstark und geeint die Proteste gegen Präsident Bashir mitorganisierte. Sie steht nun auch für eine erstarkte Frauenrechtsbewegung im Sudan.
Ende Oktober wurde die junge Aktivistin nach New York eingeladen, um vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu sprechen:
"Nach Jahrzehnten des Kampfes und nach allem, was wir mit friedlichen Mitteln riskiert haben, um Bashirs Diktatur zu beenden, die Ungleichheit der Geschlechter ist nicht länger und wird nie mehr von den Frauen und Mädchen im Sudan akzeptiert werden. Ich hoffe, dass diese Ungleichheit auch unannehmbar für die Mitglieder dieser Kammer ist."
Kampf um Gleichberechtigung auf allen Regierungsebenen
Noch ist dieses Ziel der Gleichberechtigung nicht erreicht. Auch der 18-köpfigen Übergangsregierung, die aus Vertretern des Militärs und der Protestbewegung besteht, gehören nur vier Frauen an. Die Regierung wurde wie immer vor allem mit Männern besetzt. Doch die Frauen im Sudan gingen erneut auf die Barrikaden. Die "Sudanese Women’s Union" forderte Gleichberechtigung auf allen Regierungsebenen. Die lautstarken Proteste führten schließlich dazu, dass in der Verfassungskommission die Forderung nach einer 40:60 Sitzvergabe angenommen wurde. In Zukunft sollen die Frauen mit in der Regierung sitzen.
Bevor die Übergangsregierung gebildet wurde, gingen die Menschen monatelang auf die Straße, die friedlichen Proteste wurden vor allem von Frauen und jungen Leuten getragen. Das Bashir-Regime reagierte zum Teil brutal, doch darauf deutet im Khartum dieser Tage wenig hin. Ganz im Gegenteil, Khartum macht den Eindruck einer Stadt, die lebendig ist, befreit wirkt, ja, sogar durchatmet. Man kann das Wort Hoffnung im Khartum dieser Tage spüren. In einem Pizza-Schnellimbiss sitzen rund ein gutes Dutzend junger Frauen entspannt an mehreren Tischen, teils ist das Kopftuch runtergerutscht, sie sind modisch gekleidet, lachen, machen Selfies. Unter Machthaber Omar al-Bashir drohte Frauen schon für das Tragen einer Hose die Prügelstrafe.
Endlich Nachrichten im Radio
Ein unscheinbares Gebäude in einer staubigen Seitenstraße. Hier befindet sich Capital Radio 91.6 fm, das erste und einzige englischsprachige Radio im Sudan. Gegründet 2012. Der Slogan von Capital Radio lautet: The Heartbeat of Sudan.
"Ich kann nun in meiner Morgensendung von 7 bis 11 viel über die Nachrichten in Afrika sprechen. Vorher ging es eigentlich nur um die Musik, heute auch um Nachrichten."
Maya Gadir ist die Frau im Moderatorenteam von Capital Radio. Sie ist Ende 20, hochgewachsen, ihre langen Haare sind zu dünnen Zöpfen geflochten, sie ist locker, lässig gekleidet, ein Kopftuch trägt sie nicht. Und sie lacht viel.
"Wir können grundsätzlich über alles reden. Das hat uns das Ministerium für Medien und Kommunikation mitgeteilt. Vor kurzem wurde allerdings ein Fernsehreporter verhaftet, weil er über die Benzinknappheit berichtet hatte. Aber schon kurz darauf wurde er freigelassen und der Minister selbst entschuldigte sich. Wir haben also nun die Freiheit zu berichten. Ich bringe viel über die Proteste in Ägypten, rede auch über das, was in unserem Land passiert. Aber klare Regeln gibt es nicht. Vielleicht werde ich eines Tages verhaftet, dann verstehe ich sie."
On-Air-Protest mit politischen Songs
Während der monatelangen Proteste war die Arbeit des Senders mehr als eingeschränkt. Man solidarisierte sich mit den Demonstranten, war selbst in ihrer Mitte an vorderster Front dabei, doch on-air konnte das nicht deutlich gesagt werden. Maya Gadir fand dennoch einen Weg, um ihre Meinung kundzutun. Sie spielte Songs bestimmter Musikerinnen:
"’Arrabi al Arabe’ ist ein mauretanischer Song von Mariem Hassan, der während des arabischen Frühlings veröffentlicht wurde. Sie singt von den Protesten in Tunesien, von den Unruhen im Nahen Osten. Das war einer meiner Lieblingssongs, den ich gerne spielte. Und ich setzte ihn genau dann ein, wenn die Menschen um 12 Uhr zu den Protesten aufbrachen. Daneben spielte ich auch gerne Tracy Chapmans ‘Talking about a revolution’".
Zehn Minuten vom Sender entfernt ein unscheinbares Eckhaus. 40 Grad Außentemperatur. Ein Straßenhund liegt im Schatten eines Baumes und beobachtet lethargisch, was um ihn herum passiert. Im ersten Stock liegt der "Impact Hub" Khartum. "Impact Hub" ist ein globales Netzwerk, bei dem kleine Unternehmen und Freischaffende eine Bürofläche innovativ teilen. Diese "Hubs" kann man in London, San Francisco, Zürich und eben auch in Khartum finden. Die Atmosphäre ist gelassen, eigentlich könnte diese Bürofläche problemlos im Silicon Valley von Kalifornien stehen, viel Holz wurde verwendet, ein paar Glaswände, viel Farbe, viel Offenheit. An einem Tisch sitzen drei junge Frauen hinter ihren Laptops. Ilaf Nasreldin, 24 Jahre alt, Samar Khalid, 19, und Doha Ali, 21 Jahre alt. Im Frühjahr 2018 gründeten sie die Organisation Amna, um Gewalt gegen Frauen im Sudan zu stoppen.
Gewalt gegen Frauen soll nun dokumentiert werden
"Als feministische Organisation waren wir sehr eingeschränkt. Aber nun sind wir optimistisch, dass nun auf die Probleme hingewiesen werden kann, die vorher nicht angesprochen werden durften. Diese Revolution vereinigte auch etliche feministische Organisationen im Land. Nun, gemeinsam mit anderen, wollen wir zusammen arbeiten, um dieselben Ziele und Visionen zu erkämpfen."
Die Frauen von Amna merkten nach ihrer Gründung, dass sie über die verschiedensten Formen der Gewalt gegen Frauen im Sudan gar nicht sprechen konnten, denn ihnen fehlten schlichtweg die Daten, die Informationen. Es gab keine zuverlässigen Zahlen über Vergewaltigungen, über häusliche Gewalt, über Benachteiligungen von Mädchen in Schule und Beruf, auch keine Statistiken über die weitverbreitete weibliche Genitalverstümmelung im Land. Deshalb gingen sie daran, selbst Statistiken zu erstellen. Bis zur Revolution waren das zarte Versuche, nun ist Amna offensiver geworden, befragt ganz offen Mädchen und junge Frauen im Alter von 11 bis 19 Jahren.
"Ich sehe eine Chance im neuen Sudan, um die Situation von Frauen zu verbessern. Es stehen mit der neuen Regierung eine Menge Gesetzesreformen an, die von Frauenrechtsgruppen und Aktivisten im Sudan schon lange gefordert wurden."
Seit der Revolution reden die Menschen miteinander
Auf den Einwand, dass die Rolle der Frauen im Sudan ja auch durch die Gesellschaft und durch Traditionen geprägt wurde, antwortet Ilaf Nasreldin:
"Es geht nicht nur um Gesetze. Ich glaube, dass mit der Revolution die Menschen auch endlich damit begonnen haben, miteinander zu reden. Während der Sit-ins wurde oft auch darüber diskutiert, was es heißt, heute eine sudanesische Frau zu sein, welche Anstrengungen Frauen in der Gesellschaft bewältigen müssen und wie die Gesellschaft und ihre einzelnen Mitglieder ihre Haltung gegenüber Frauen verändern könnten."
Von Khartum geht es in den Osten des Landes nach Kassala, einer Stadt mit mehr als 500.000 Einwohnern unweit der Grenze zu Eritrea.
Flüchtlinge aus Somalia, Äthiopien und Eritrea kommen durch Kassala, um von hier weiter ihre gefährliche Reise Richtung Europa fortzuführen. Kassala ist auch ein Handelsort auf dem Weg nach Port Sudan, der wichtigsten Hafenstadt des Landes am Roten Meer.
Hohe Kinder- und Muttersterblickeit
Kann man in Khartum die Aufbruchstimmung nach der Revolution förmlich spüren, sind in Kassala die Probleme offensichtlich und drückend. Lange Schlangen an den Tankstellen, alles wirkt ärmlicher. Und hier in der Region ist die Unterernährung bei Kindern besonders hoch. Dazu kommen eine hohe Kinder- und Muttersterblichkeit bei Geburten und eine hohe Analphabetenrate bei Frauen. Sie liegt bei 56 Prozent.
"I guess for me it is one of the areas that we can call 'forgotten crisis'. It is underserved."
In dieser Region gebe es eine ‚vergessene Krise’, sagt Eatizas Yousif, die Programmleiterin von CARE Sudan. Die Hilfsorganisation durfte lange nicht im Land arbeiten. Erst nach einem Namenswechsel, aus CARE wurde Care International Switzerland oder CIS, durfte die NGO wieder ins Land. Und sie baute in der Region Kassala gleich einige Projekte auf.
"Die Unterernährungsquote hier ist die höchste in allen 18 Bundesstaaten. Die Situation von Frauen, die Ungleichheit ist ein riesiges Problem. Das verbunden mit den engen sozialen Normen, den frühen Eheschließungen und der sehr eingeschränkten Mobilität der Frauen verhindert, dass sie eine bessere Schulbildung, Gesundheitsversorgung und auch eine bessere wirtschaftliche Versorgung erhalten. Das hält Frauen davon ab, aktiver am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen."
Ausbildung für Frauen nur in männlicher Begleitung
Es geht nach Omraika, einem Dorf, dass nur über eine stundenlange Fahrt auf einer Ruckelpiste erreicht werden kann. In Omraika unterhalten CARE und die lokale NGO WAAD ein Gesundheitszentrum. Es besteht aus einem Arztzimmer und zwei spartanischen Krankenzimmern.
Was in diesem traditionellen und religiös konservativen Dorf immer wieder zur Sprache kommt, ist eine fehlende Hebamme, auch sollte die Krankenstation ausgebaut werden, heißt es. Auf die Frage, warum keine der Frauen im Dorf sich zur Hebamme ausbilden lassen will, meinen die Dorfvorsteher, das ginge nicht, denn eine Frau dürfe nicht ohne männliche Begleitung nach Kassala, um dort eine Ausbildung zu erhalten. Die Frauen dürfen auch nur in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds mit mir sprechen. Sie selbst sagen, sie würden sich schon gerne ausbilden lassen, aber das ginge eben nicht.
Und das hat zur Folge, dass auch künftig keine Hebamme hier vor Ort sein wird und dass die Frauen bei Schwangerschaftsproblemen weiterhin über die schlechte Straße nach Kassala gebracht werden müssen. Die Traditionen verhindern in der schwierigen Situation in diesen abgelegenen Dörfern mögliche Lösungen. Man hofft auf Hilfe von außerhalb, von der Regierung in Khartum und von internationalen Hilfsorganisationen. Ansonsten soll das Leben hier einfach so weitergehen wie bislang, nur eben mit kleinen Veränderungen und Verbesserungen, so erklären es eigentlich alle, mit denen ich hier in diesen Dörfern rede.
"Wir holen uns unsere Rechte einfach"
Zurück in Khartum lasse ich noch einmal all die Eindrücke und Gespräche der vergangenen Tage auf mich wirken. Der Sudan, ein Land im Aufbruch, ein Land im Umbruch und auch ein Land voller Probleme. 30 Jahre Diktatur haben ihre Spuren hinterlassen. Doch nun öffnet sich ein ganz neues Kapitel in der langen Geschichte dieses bedeutenden Landes. Viele der jungen Leute wollen daran teilhaben. Sie wollen nicht mehr nur weg, sie wollen ihre neue Chance im Sudan nutzen. Die Menschen und vor allem die Frauen haben durch ihre friedliche Revolution viel erreicht, sie haben das Fundament für einen Neuanfang gelegt.
Hoffnung erscheint fast allgegenwärtig. "Wann, wenn nicht jetzt?" fragte auch die 21-jährige Doha Ali von der Organisation Amna.
"Wir als Frauen hatten viele Hürden zu nehmen, eine Frau im Sudan zu sein, war wirklich hart. Die Leute sollten aber wissen, dieser gewaltige Wandel, den wir hier erlebt haben, hat uns Hoffnung gegeben. Wir wollen unsere Rechte, wir warten nicht darauf, bis sie uns jemand gibt. Wir holen sie uns einfach. Wir sudanesischen Frauen werden uns nicht mit weniger als unseren Rechten und einer Zukunft zufrieden geben, in der wir gleichberechtigt sind."
Der Autor wurde von der Hilfsorganisation CARE Sudan bei den Reisekosten unterstützt.