Hier die Einschätzung von Sergej Lagodinsky in voller Länge:
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In den Fängen der Staatsmacht
Sergio Morabito, der Chefdramaturg der Stuttgarter Oper, ist schockiert von der Festnahme des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow, dessen Oper "Hänsel und Gretel" im Herbst Premiere am Haus feiern sollte. Jetzt soll internationaler Protest organisiert werden.
"Offensichtlich gibt es Kreise oder Akteure hinter den Kulissen, die sich positionieren wollen, in dem sie Serebrennikow mundtot machen, das ist jetzt passiert", sagt der Chefdramaturg Sergio Morabito, der zum Leitungsteam der Stuttgarter Oper gehört. Dort sollte die Oper "Hänsel und Gretel" in einer Inszenierung von Kirill Serebrennikow Premiere feiern. Am Dienstag wurde bekannt, dass der international gefeierte Regisseur in St. Petersburg festgenommen wurde und nun in Moskau vernommen wird.
Eine Richtungsentscheidung
"Das schlimme ist ja, es soll da ein Exempel statuiert werden an einem freien Geist, der in allen darstellenden Künsten großartiges leistet, mit einer internationalen Ausstrahlung", sagt Morabito. Es gehe dabei um eine Richtungsentscheidung. Das Budget des Moskauer Theaters "Gogol-Center", an dem Serebrennikow arbeitet, sei bereits massiv gekürzt worden. "Trotzdem konnte man den künstlerischen Höhenflug und Publikumserfolg dieses Theaters nicht verhindern." Bei Serebrennikow handele es sich um einen "Ausnahmekünstler", sagte Morabito, der eine ganze Generation von Theaterleuten in Moskau geprägt und gefördert habe. "Das wäre ein unersetzlicher Verlust, wenn er jetzt da weiter in die Fänge der Staatsmacht geriete." An der Stuttgarter Oper werde nun internationaler Protest organisiert. Das werde in Russland durchaus wahrgenommen und die Opernwelt sei international vernetzt. Die Opernpremiere von "Hänsel und Gretel" werde man auf keinen Fall ausfallen lassen.
Hetzjagd auf ein Talent
Serebrennikow hatte sich in Sankt Petersburg aufgehalten. Der Regisseur drehte dort seinen neuen Film "Leto" (Sommer), einen Film über den russischen Rockmusiker Wiktor Zoi und dessen Leben in den 1970er Jahren zur Zeit der Sowjetunion. "Kirill Semjonowitsch war in wunderbarer Stimmung, die Dreharbeiten liefen – und sie werden fortgesetzt werden, davon bin ich überzeugt. Ich kann nur sehen, was ich vor mir habe: Es sieht aus wie eine Hetzjagd. Das ist das, was ich von meinem begrenzten Standpunkt aus sagen kann, Hetzjagd auf ein Talent", sagte Drehbuchautor Michail Idow dem unabhängigen Sender Doschd.
Vorwurf der Unterschlagung
Die Sprecherin des Ermittlungskomitees in Moskau, Swetlana Petrenko, sagte zu den Vorwürfen gegen den Regisseur: "Er wird verdächtigt, die Unterschlagung von nicht weniger als 68 Millionen Rubel, umgerechnet rund eine Million Euro, organisiert zu haben, die in den Jahren 2011 bis 2014 geflossen sind, um das Theaterprojekt ‚Plattform‘ zu realisieren." Serebrennikow bestreitet die Vorwürfe. Seit einiger Zeit laufen bereits Ermittlungen gegen einige seiner Mitarbeiter. Eine Buchhalterin hatte gegen den Regisseur ausgesagt und ihm Unterschlagung vorgeworfen. Serebrennikow war nach Behördenangaben damals zunächst nur Zeuge im Verfahren. Weil aber sein Pass eingezogen wurde und er nicht ins Ausland reisen durfte, befürchtete auch er seit einiger Zeit eine Verhaftung.
Vergeltung konservativer Kreise
Serebrennikows Anhänger sehen in den Ermittlungen eine Vergeltung konservativer Kreise des Kremls wegen seiner satirischer Kritik an russischen Behörden. Seine Produktionen sind seit Jahren ausverkauft. Im Juli hatte das Bolschoi-Theater eine mit Spannung erwartete Ballett-Inszenierung über den russischen Startänzer Rudolf Nurejew unter der Leitung von Serebrennikow drei Tage vor der Premiere abgesagt. In der Moskauer Kunstszene sprachen viele Beobachter daraufhin von einer Rückkehr zur Zensur. Das Bolschoi wies Berichte zurück, wonach die Inszenierung wegen ihrer freimütigen Darstellung der homosexuellen Beziehungen des Protagonisten gestrichen worden sei.
Zeit der Freiheit ist vorbei
Der aus Russland stammende Referent der Heinrich-Böll-Stiftung, Sergej Lagodinsky, sagte im Deutschlandfunk Kultur über die Festnahme: "Das passt ja in dieses Bild, wo nicht nur politische Repression in Russland stattfindet, das ist ja schon sehr lange auf der Tagesordnung." Nun werde diese Unterdrückung auch persönlich auf bestimmte Kulturschaffende ausgerichtet. Es gehe nicht mehr um Politik, sondern um etwas, dass die russische Regierung "geistige Klammern" nenne, sagte Lagodinsky. Mit diesem Begriff werde beschrieben, was das russische Volk angeblich in einer konservativen, russisch-orthodoxen Weltsicht zusammenhalte. Viele solcher Kulturschaffende wie Serebrennikow stünden im Gegensatz zu dieser Weltsicht. "Früher gab es ja so eine Blase in Moskau", sagte Lagodinsky. Kulturschaffende hätten sich wie in einem Paralleluniversum entwickeln können. Es sehe jetzt aber sehr danach aus, als wäre die Zeit dieser Freiheit vorbei. (gem)
Einen weiteren Beitrag der Journalistin und Russlandkennerin Gesine Dornblüth über Serebrennikows Festnahme hören sie hier: Audio Player