Fotoausstellung "Nach der Flucht"

Bilder aus den Todeszonen

05:56 Minuten
Eine junge Frau versucht mit einem Hund in den Armen einen Fluss zu überqueren.
Ausstellung "Nach der Flucht": Während die meisten Einwohner versuchen, aus Irpin zu fliehen, überquert eine junge Frau den Fluss, um zu ihrer kranken Großmutter zurückzukehren. © OSTKREUZ / Mila Teshaieva
Von Inga Lizengevic |
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Seit Wochen dokumentieren Johanna-Maria Fritz und Mila Teshaieva von der Agentur "Ostkreuz" den Krieg in der Ukraine. Einige Arbeiten der beiden Fotografinnen sind nun in der Ausstellung "Nach der Flucht" in der Berliner Zionskirche zu sehen.
In der Ausstellung "Nach der Flucht" in der Zionskirche Berlin ist auf einem Foto eine ältere Frau mit schwarzem Kopftuch zu sehen. Während sie sich Tränen aus dem Gesicht wischt, ist neben ihr ein weißer Vorhang zu sehen, der durch das Bild zu gleiten scheint.
Fotografin Johanna-Maria Fritz erzählt bei der Ausstellungseröffnung die Entstehungsgeschichte des Porträts:
„Am Straßenrand standen zwei Frauen. Galina war eine von ihnen und sie trug ein schwarzes Kopftuch. Das bedeutet, dass sie jemanden gerade erst verloren hat. Dann hat sie uns erzählt, was passiert ist, und hat angefangen zu weinen. Sie hat erzählt, dass sie morgen zu der Exhumierung ihres Sohnes fahren muss. Er wurde mutmaßlich von russischen Soldaten vergiftet.“

Blühende Bäume zwischen Ruinen mit Leichen

Den Fotografinnen Johanna-Maria Fritz und Mila Teshaieva ist bereits bei Kriegsbeginn klar, dass sie in die Ukraine fahren müssen. Wenige Tage später sind sie vor Ort. Seitdem dokumentieren sie den Krieg und die Verbrechen der russischen Armee rund um Kiew. Mila Teshaieva ist in der ukrainischen Hauptstadt und sagt bei einem Skype-Gespräch.
„Die Fotos können das nicht wiedergeben: die Todeszone. Die Geräusche, der Geruch, die Landschaft, die Gespräche – alles dreht sich um den Tod. Heute am 6. Mai war ich zum hundertsten oder zweihundertsten Mal bei den Ruinen eines Hauses in Borodjanka. Dort blühen die Bäume, Apfelbäume, Kirschbäume“, erzählt sie.
„Die Blütenpracht all dieser Bäume in der Todeszone. Sobald du in die Nähe der Ruinen kommst, spürst du den Geruch der Leichen. Und wir können nicht verstehen, warum es diesen Geruch gibt. Warum ist er da? Warum verflüchtigt er sich nicht?“

Mila Teshaieva berichtet im Interview ausführlich über ihre Arbeit als Fotografin im Ukrainekrieg und spricht darüber, warum sie in ihrer Heimat keine Furcht kennt.

Bei der Arbeit in den Vororten von Kiew erfährt Mila Teshaieva viele persönliche Geschichten. Neben den Fotos sammelt sie auch Augenzeugenberichte auf Video.
„Es ist schrecklich, wenn ein neunstöckiges Gebäude in zwei Teile zerfällt. Und unter diesem Haus werden Dutzende Menschen lebendig begraben“, sagt sie. „Für mich ist wichtig, dass ich drei Menschen sprechen konnte, die mit eigenen Augen gesehen haben, wie das Haus zusammenstürzte, und sie haben den roten Stern auf einem Flieger gesehen.“

Russische Truppen ließen tödliche Fallen zurück

Als die ukrainische Armee die Kiewer Vororte Anfang April befreit, gehören Mila Teshaieva und Johanna-Maria Fritz zu den ersten, die die Kriegsverbrechen der Russen dokumentieren.
Johanna-Maria Fritz schildert die Szenerie: „Da lagen erschossene Menschen auf der Straße mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Armen. Auch ältere Männer, die, wie es aussah, einfach Essen geholt hatten. Ihre Einkäufe lagen verstreut daneben.“
Mit ihrem Abzug aus den Vororten von Kiew haben die russischen Truppen viele gefährliche Spuren hinterlassen, sagt Fritz: „Bomben oder Minen, die an Leichen oder hinter Türen versteckt sind. Wir haben in Irpin einen Leichnam im Park gesehen, an dem eine Mine festgemacht war.“

Die Traumatisierungen zeigen sich mit Verspätung

Seit der Befreiung der Vororte von Kiew ist inzwischen mehr als ein Monat vergangen. Die Überlebenden beginnen zu verstehen, was hier eigentlich passiert ist, sagt Teshaieva.

Einen Monat lang mussten die Menschen die Leichen ihrer Nachbarn auf den Straßen sehen, bei minus zehn Grad in den Kellern ausharren, sie durften nicht weinen und mussten durchhalten. Als sie dann in den ersten Apriltagen endlich nach draußen in die Sonne durften, waren sie sehr aufgeregt und hörten nicht auf, miteinander zu reden. Sie haben gelächelt und waren glücklich.

Und jetzt, einen Monat später, überkommt sie das Trauma, das sie erlebt haben. Jetzt weigern sie sich zu sprechen, oder sie sprechen und fangen an zu heulen.

Mila Teshaieva

Auch Mila Teshaieva erzählt von der Entstehung eines der Bilder, die in der Zionskirche für die nächsten vier Wochen ausgestellt sind. Zu sehen ist eine junge Frau, die ihre Tochter umarmt. Das Kind ist sechs Jahre alt, genauso alt wie ihre Urgroßmutter zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die vier Generationen der Familie, Uroma, Oma, Mutter und Tochter, haben gemeinsam 40 Tage russischer Besatzung hinter sich.
Mila Teshaieva hat die sechsjährige Valeria so erlebt: „Als ich am fünften April da war, war sie wie abwesend. Ihre Mutter hat mir erzählt, dass sie den ganzen Monat davor immer wieder gefragt hat: ‚Mama, warum müssen wir sterben?‘“
Teshaieva verbringt einen ganzen Tag mit der Familie. Valerias Mutter schildert die Erlebnisse während der 40 Tage der Besatzung. Während sie spricht, löst sie sich mehr und mehr von den Schrecken. Am Ende wirkt sie erleichtert. Genau dieser Augenblick ist auf dem Bild festgehalten.

Nach der Flucht
Fotoausstellung in der Zionskirche Berlin
bis 6. Juni 2022

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