Leben mit dem Risiko
10:23 Minuten
Dernau im Ahrtal ist Idylle pur. Wäre da nicht die Flut im Sommer gewesen. Wissenschaftler und Umweltexperten sagen: So etwas kann es wieder geben. Gesucht werden Konzepte wie hochwassergerechtes Bauen, die das Schlimmste in Zukunft verhindern könnten.
Leere Grundstücke, wo vorher Häuser standen, Rohbauruinen ohne Fenster, und immer noch wird abgerissen im hochwasser-verwüsteten Ortskern von Dernau.
Durchgang gesperrt, muss sich Jürgen Herget sagen lassen. Der Bonner Geografieprofessor kennt aber einen Umweg zu dem Gebäude, das er mitten in dem Weindorf sucht: das Haus mit den drei Hochwassermarken.
An einer Dorfstraßenkreuzung liegt das Haus. An der weißen Fassade zwei schmiedeeiserne Wasserstands-Marken, in der Höhe gestaffelt. Und die jüngste ganz oben in Grellrot gepinselt.
"Hochwasserstand 1910, 1804, und die entsprechenden Ergänzungen. Sie sind nicht historisch, das bedeutet, dafür würde ich nicht meine Hand ins Feuer legen, dass das Zentimeter-genau stimmt, aber die Größenordnung beschreibt das ganz gut, denke ich", erläutert Herget.
Die Marke fürs Hochwasser von 1910 liegt bei einem Meter, die für 1804 bei 2,20 Meter und die rote von 2021 bei 3,50 Meter an der Oberkante des ersten Stocks. Woraus manche Dernauer den Schluss ziehen, die Extremflut von Mitte des Jahres sei die absolute Ausnahme, nie dagewesen und auch künftig nie mehr zu erwarten.
Der Wasserstand ist nicht das Entscheidende
Entsprechend überzogen finden sie die neuen Auflagen der Koblenzer Genehmigungsbehörde für den Wiederaufbau. Herget findet mit Blick auf die Verwüstung nachvollziehbar, dass für die Leute der Wasserstand das Entscheidende sei.
Aber für die Wissenschaft ist er das nicht. Der Bonner Forscher ordnet den Konflikt ein. Die Wissenschaft und darauf aufbauend die Behörden sehen bei einem Hochwasser im Wasserstand nur einen Faktor. Um es umfassend zu beurteilen, nehmen sie den Abfluss in den Blick.
Und der errechne sich folgendermaßen: "Der Abfluss Q ist das Ergebnis der Fließgeschwindigkeit multipliziert mit der durchströmten Fläche. Die durchströmte Fläche ergibt sich aus dem Wasserstand, der Wasserhöhe, multipliziert mit der Talbreite."
Eine Rechnung, die den Wissenschaftler zu der Erkenntnis führt: Das Hochwasser von 2021 hatte die gleiche Größenordnung wie das von 1804.
"Der Wasserstand selber war dieses Jahr deutlich höher, das stimmt, das ist aber kein Widerspruch, denn 1804 waren die Orte wesentlich kleiner, in ihrer Flächenausdehnung."
Enge Bebauung verstärkt die Wucht des Wassers
In Dernau schlängeln sich ein paar Gassen mit Fachwerkhäusern rund um die Dorfkirche aus dem 18. Jahrhundert, das ist der historische Ort, vermutlich nur ein Viertel so groß wie der heutige.
"Das Wasser hatte freie Bahn innerhalb des Talbodens. Wenn wir uns heute die Ortslagen wie Dernau, jeden beliebigen Ort im Talboden ansehen, dann ist der sehr weit ausgedehnt. Und jetzt steht die Fläche der Gebäude dem Wasser im Weg. Damit ist die sogenannte durchströmte Fläche in dem Talboden kleiner geworden, und die gleiche Wassermenge staut sich höher auf. Das erklärt, dass wir die gleichen Abflüsse 1804 wie 2021 hatten, aber dieses Jahr einen deutlich höheren Wasserstand."
Die Auflagen der Behörden - zum Beispiel das Verbot von Neu- und Anbauten in den neu festgelegten Überschwemmungsgebieten - zielen darauf ab, dem Fluss Fläche zum Durchströmen zurückzugeben. Sollte er erneut über die Ufer treten, würde das Schäden minimieren.
Derzeit stehen immer noch Bagger im Fluss, die mitgeschwemmtes Treibgut rausholen. Dass die Extremflut so vieles vom Ufer mitriss, potenzierte die Verwüstung. Jürgen Herget erinnert sich an seinen ersten Besuch im Ahrtal, kurz nach dem Hochwasser.
"Baumstämme, Autos, Container habe ich verlagert gesehen, die in der Bewegung in dem fließenden Wasser ihre Energie, den Energie-Impuls übertragen haben, und mit dazu geführt haben, das Mauern eingerissen worden sind. Einem reinen Wasserfluss hätten die möglicherweise standgehalten. Zusammen mit der Energie des Aufpralls eines mitgeführten Baumstamms oder eines Baucontainers – die hatten eine zusätzliche schadbringende Wirkung."
Dauercampen bleibt verboten
Dauercampen am Fluss ist künftig verboten, zu viele Mobilheime landeten Mitte Juli in der Ahr, verkeilten sich an Brücken, lösten zusätzliche Staus aus und ließen den reißenden Strom pulsieren, mit zerstörerischen Energieschüben, wann immer sich ein Stau löste.
"Wir haben ja auch noch die Trockenjahre vorher gehabt, 2018, 2019, 2020, und natürlich auch viel Holz und abgestorbene Bäume", erinnert sich Professor Lothar Kirschbauer. An der Hochschule Koblenz lehrt er Siedlungswasserwirtschaft.
"Kein Vorwurf an die Kommunen, aber es ist in der Vergangenheit viel an der Gewässerpflege gespart worden. Das ist immer ein Posten gewesen, der wurde nicht hoch, sondern runtergeschraubt. Wir brauchen Totholz für Tiere und so weiter. Dann muss man gucken, dass die Brücken nicht diese schönen kleinen Bögen haben, sondern freie Durchlässe, damit die Bäume sich da nicht verkanten. Vielleicht weniger Totholz, da muss man halt abwägen."
Fataler Irrweg?
Was den Wiederaufbau im Überschwemmungsgebiet angeht: Nur 34 Häuser dürfen an der Ahr nicht wiedererrichtet werden. Das heißt, die Ampel-Regierung von Rheinland-Pfalz hat sich gegen eine strikte Verbotspolitik entschieden. Sie will aber Menschen in der besonderen Gefahrenzone dahingehend beraten, innerhalb ihrer Dörfer vom Flussufer wegzuziehen.
Die Deutsche Umwelthilfe kritisiert die Regelungen als fatalen Irrweg. Der Klimawandel potenziere die Flutgefahr. Die Kombination aus einem statischen Tief, äußerst feuchten Luftmassen und einem komplett vollgesogenen Boden führte im Juli mit zu dem Extremhochwasser, erklärt Philipp Reutter vom Institut für Physik der Atmosphäre an der Uni Mainz.
Die globale Erwärmung bewirke, stellt Reutter fest, "dass es 1,2 bis neunmal wahrscheinlicher wurde, dass so ein Ereignis eintritt und dass die Intensität zwischen drei und 19 Prozent zugenommen hat, also ein relativ großer Unsicherheitsbereich. Was man aber weiß, ist, dass so ein Ereignis durch den Klimawandel vermutlich öfter vorkommt und die Intensität stärker sein wird, weil die warme Atmosphäre mehr Wasser aufnehmen und dann mehr Wasser abregnen kann."
Welche Schlüsse die Siedlungspolitik daraus ziehen sollte – Geografieprofessor Herget will sich da nicht einmischen, kommentiert aber: "Persönlich bin ich sehr skeptisch gegenüber den Puristen, die sagen, wir dürfen die Orte im Ahrtal nicht wiederaufbauen, das ist schlicht und ergreifend für die Anwohner nicht realistisch."
Häuser auf Stelzen sind nicht idyllisch
Doch jeder Einzelne im Überschwemmungsgebiet, ob Eigentümerin oder Mieter, müsse sich das Risiko bewusstmachen. "Abends um halb zehn nach einem ganzen Tag Dauerregen tatsächlich bereit zu sein, ohne gepackte Taschen sofort das Haus zu verlassen, das möchte sich jeder mal für sich ausmalen, wie groß da wohl die Hemmschwelle ist, wenn ein derartiger Warnaufruf erfolgt."
Hochwassergerechtes Bauen gewährleistet keinen perfekten Schutz vor Extremfluten, kann aber helfen, Schäden bei kleineren Ereignissen vorzubeugen. Das Haus auf Stelzen bauen ohne Keller und bewohnbares Erdgeschoss, dort stattdessen Parkplätze hinsetzen - mancher Bürgermeister eines bis dato idyllischen Weinorts hadert mit einer solchen Vorstellung.
Auf Holz und saugende Materialien zu verzichten, rät Professor Kirschbauer, zuständig für Hochwasserrisikomanagement. Im Überschwemmungsgebiet besser Fliesen verwenden: "Und wenn wir bessere Vorhersagen bekommen, dann muss ich mein Haus auch mal mit klarem Wasser fluten, damit es dem Druck von außen standhält."
Klingt gewöhnungsbedürftig. "Ja, es klingt gewöhnungsbedürftig, aber es ist doch immer noch besser, ich habe sauberes Wasser da drin als Schlammwasser, eventuell mit Öl belastet."
Bewohner fordern Auffangbecken aus Beton
Kommenden Montag treffen sich Hochwassermanager des Landes mit den Kommunen an der Ahr, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es geht um ein Hochwasserschutzkonzept, an dem schon vor der Extremflut gearbeitet wurde.
Unter anderem sollen mehr Freiflächen vorgehalten werden, in denen Wasser versickern kann. Bewohner fordern immer wieder, endlich große Rückhaltebecken an der Ahr und den einmündenden Bächen zu bauen.
Doch so viel Beton, um ein Extremhochwasser wie das von Mitte Juli aufzufangen, kann man in das enge Tal kaum gießen, da sind sich Experten einig. Möglich, dass sich ein Starkregen-Band wie im vergangenen Sommer auch mal 50 Kilometer weiter östlich festklemmt.
"Dann hätten wir die gleichen Niederschläge auf der anderen Seite des Rheins im Bergischen Land und angrenzendem Westerwald", gibt Geografieprofessor Jürgen Herget zu bedenken: "Und die Hochwasserschutzmaßnahmen im Ahrtal wären nicht nötig gewesen, würden da aber fehlen." Ein Dilemma, räumt Herget ein: für die Politik, die Konsequenzen aus der Flutkatastrophe abzuwägen hat, nicht für die Wissenschaft.