Das Virus in Zeiten des Klimawandels
29:04 Minuten
Staatlicher Schutz, Vorsorge und gesellschaftliche Resilienz werden in der Pandemie großgeschrieben – auch weil auf Virologen gehört wird. Klimawissenschaftler können davon nur träumen. Wird die Post-Corona-Welt ein Umdenken beim Klimaschutz erleben?
Für 20.000 Menschen von Fridays for Future ist es sonnenklar. Die Politik hat es vergeigt. Corona hin oder her, die Klimakrise bleibt. Die jungen Aktivisten sind wütender denn je.
Ihr Song "FightEveryCrisis", den sie zum ersten Mal anlässlich des globalen Klimastreiks Ende April veröffentlichten, macht vor allem eines deutlich. Die Coronapandemie ist für die Aktivisten nur eine Krise in der Krise. Das berühmte Bild vom Abflachen der Kurve oder "Flatten the Curve", gilt für Corona ebenso wie für den Klimawandel. Für die Klimabewegung sind die Zahl der Neuinfektionen mit Covid-19 und der Ausstoß von Treibhausgasen zwei Kurven, die beide abgeflacht werden müssen.
Zur Online-Demonstration am 24. April schalten sich fast 20.000 Klimaaktivsten in den Livestream von Fridays for Future. Ein Ärgernis für die Bewegung ist das im September 2019 verhandelte Klimapaket. Für sie ist es ein "Versagenspapier", wie es die 25 Musiker in ihrem Videoclip "FightEveryCrisis" singen. Die Politik reduziert die CO2-Emissionen nicht radikal genug, so der Vorwurf.
Bisher ging es tatsächlich relativ langsam voran. Bis 2050 will Deutschland fast keine Treibhausgase mehr ausstoßen. Mineralöl, Kohle, Atomenergie und Erdgas machen aber immer noch 80 Prozent der deutschen Primärenergie aus. Die Mehrheit unserer Produkte und Energien erzeugen wir also immer noch mit klimaschädlichen Technologien.
Corona und Klimakrise zusammendenken
Noch ist offen, welche Folgen die Coronapandemie für den weltweiten Kampf gegen die Klimakrise hat. In einer globalen Wirtschaftskrise könnte Klimaschutzpolitik schwerer durchsetzbar werden. Gleichzeitig bietet der neue Dauerausnahmezustand aber auch Chancen. Aktivisten, Wissenschaftler und Klimapolitiker haben deshalb begonnen, Corona und die Klimakrise zusammenzudenken.
"Corona zeigt, wie stark eine globale Krise uns als Weltgemeinschaft treffen kann", sagt Patricia Espinosa. "Wir sprechen schon sehr lange über eine Klimakrise, aber sie wurde nie so ernst genommen. Doch wir müssen uns klar machen, dass die globale Klimakrise unser Leben genauso treffen und unsere Freiheiten einschränken kann. Wenn wir nicht schnell handeln, kann der Klimawandel extrem zerstörerisch für unser Leben und unseren Alltag werden."
Patricia Espinosa leitet seit vier Jahren das UN-Klimasekretariat in Bonn. Die Mexikanerin ist die oberste Klimachefin und wacht über das Pariser Weltklimaabkommen. Auch die UN-Klimachefin warnt vor einem internationalen Rollback. Sie fürchtet, dass sich viele Länder von ihren Verpflichtungen des Weltklimaabkommens verabschieden.
"Wahrscheinlich werden einige Länder ihre Bemühungen im Klimaschutz herunterfahren", vermutet sie. "Das ist sehr schade, aber wir müssen versuchen, ihnen zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Ich habe alle Minister der 195 Staaten angeschrieben, um sie an ihre Verpflichtungen im Weltklimaabkommen zu erinnern. Aber ich sehe auch, dass der Klimaschutz gerade nicht ganz oben auf ihrer Agenda steht, alles dreht sich gerade um Covid-19."
Mehr als mahnen kann die UN-Klimachefin aber nicht. Das Weltklimaabkommen verlässt sich auf diplomatischen Druck. Staaten, die weniger für den Klimaschutz tun wollen, sollen bei anderen Verhandlungen - wie beispielsweise um neue Handelsverträge - in die Pflicht genommen werden.
Bisherige Erfolge der Klimadiplomatie gefährdet
Patricia Espinosa befürchtet, die Pandemie könnte nun jahrzehntelange Aufbauarbeit in der Klimadiplomatie kaputtmachen. Auf Klimagipfeln diskutierten die 195 Staaten der Welt fast 30 Jahre, bis sich alle Staaten auf ein gemeinsames Vorgehen beim Klimawandel verständigten. Dieser Konsens ist aber fragil.
"Es war doch schon vor der Coronakrise klar, dass ein ‚Weiter so‘ in unseren Gesellschaften alles andere als nachhaltig ist", sagt sie. "Wir wussten bereits, dass wir nicht mit der Menge an Konsum und dem hohen Energieverbrauch ewig weitermachen können. Nach der Coronakrise wird das sogar noch deutlicher: Jetzt geht es beim Wiederaufbau darum, in die Zukunft zu investieren und nicht in die Zerstörung unseres Planeten."
Derzeit gibt es immer mehr Stimmen, die in Corona nicht die Chance für mehr, sondern für weniger Klimaschutz sehen. Die Forderungen kommen von den Gruppen, die bereits vor der Coronakrise gegen strenge Klimaschutzregeln Stimmung machten.
Gegner des Klimaschutzes wittern ihre Chance
AfD-Chef Jörg Meuthen erklärte im April auf dem Höhepunkt der Coronapandemie: "Wenn die deutsche Wirtschaft nach Corona jemals wieder auf die Beine kommen will, dann nur ohne die völlig überzogenen, wirtschaftsfeindlichen Klimaauflagen der EU."
FDP-Wirtschaftspolitiker Gerald Ullrich fordert, die Einführung des CO2-Preises auf Sprit und Heizöl aufzuschieben. Er sagt: "Jeder Ökonom weiß, dass Steuererhöhungen in einer Wirtschaftskrise grundfalsch sind."
Die Präsidentin des Verbandes der Deutscher Automobilindustrie, Hildegard Müller: "Das ist jetzt nicht die Zeit, über weitere Verschärfungen bei der CO2-Regulierung nachzudenken".
Und auch konservative Stimmen wie der "Spiegel"-Kolumnist Nikolaus Blome frohlocken: "Fridays for Future muss auf die Couch. Es ist Zeit für eine ehrliche Selbstbefragung. Zeit für ein wenig Demut."
Endlich, so der Tenor dieser Stimmen, hält wieder Vernunft Einzug, und der Klimaschutz wird in seine Schranken verwiesen. Es ist wie ein großes Aufatmen unter Akteuren, denen der Klimaschutz schon lange ein Dorn im Auge war. Die Klimaschutzbewegung soll sich in der Coronapandemie demütig und einsichtig zeigen.
Ein schwacher Staat bietet im Notfall keinen Schutz
Weniger Demut haben hingegen große Unternehmen in der Krise, die zusammen mit liberalen und konservativen Politikern seit Jahrzehnten für einen schlanken Staat und eine rigide Sparpolitik eintreten. Durch ihr erfolgreiches Drängen hat der Staat seit den 1990er-Jahren stetig Verantwortung abgegeben.
Doch ein schwacher Staat kann im Notfall nicht der Beschützer sein, den seine Bürger erwarten. Ein Beispiel ist das Gesundheitswesen.
Noch vor einem Jahr behauptete die als wirtschaftsnahe geltende Bertelsmann-Stiftung: "Deutschland hat zu viele Krankenhäuser. Eine bessere Versorgung ist nur mit halb so vielen Kliniken möglich."
Dabei nahm die Zahl der Betten und der staatlichen Krankenhäuser schon seit Anfang der 1990er-Jahre stetig ab. Während der Coronapandemie wurde vielen Menschen bewusst, wie lebenswichtig ein staatliches Gesundheitssystem ist. Bei privaten Kliniken kann der Staat beispielsweise nicht anordnen, mehr Betten auf der Intensivstation vorzuhalten.
Trotzdem riet die Bertelsmann-Stiftung dazu, sich am Beispiel Frankreichs zu orientieren und staatliche Krankenhäuser zu reduzieren.
Heute applaudieren die Menschen jeden Abend Krankenschwestern, Pflegern und Ärztinnen vom Balkon oder der Haustür aus. Sie sind froh über jedes Krankenhausbett.
Frankreichs Präsident zeigt sich reumütig
Frankreich hat in den vergangenen 15 Jahren rund 70.000 Krankenhausbetten abgeschafft. Übrig blieben dabei nur 5000 Intensivbetten - im Vergleich zu 30.000 in Deutschland. In der Coronakrise mussten Patienten mit dem Schnellzug in andere Regionen gebracht und dort versorgt werden. Auch Deutschland nahm hunderte französische Patienten auf.
Viele Franzosen waren dankbar für die deutsche Hilfe. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron rechtfertigte sich in einer Fernsehansprache für die schlechte Versorgung von Patienten. Kein Staat sei auf die Krise vorbereitet gewesen.
"Waren wir auf diese Krise vorbereitet? Offensichtlich waren wir es nicht", so der Präsident. "Aber wir haben uns der Herausforderung gestellt. Wir mussten in Frankreich, wie überall auf der Welt, schnell auf den Notfall reagieren. Wir mussten schwierige Entscheidungen treffen, auf der Grundlage von unvollständigen, häufig wechselnden Informationen. Aber seien wir ehrlich: Diese Zeit hat viele Lücken und Mängel gezeigt."
Selten haben die Franzosen ihren Präsidenten so reumütig erlebt. Der Liberale versprach nun in vielen Reden, seine Politik zu ändern. Nach der Krise solle nichts mehr so sein wie vorher. Macron und seine Minister wollen auch die Produktion lebenswichtiger Medikamente oder Lebensmittel wieder nach Frankreich zurückholen. Aber noch ist unklar, ob sich das auch in den milliardenschweren Konjunkturpaketen niederschlägt.
"Massive Eingriffe der Politik in die Wirtschaft sind möglich"
Freiburg, 20. September 2019. Zurück in die Zeit, bevor die Coronapandemie sich von China aus in die ganze Welt verbreitete. Nicht nur Schüler, sondern auch Wissenschaftler, Lehrer und normale Bürger demonstrieren an diesem sonnigen Herbsttag für mehr Klimaschutz. Insgesamt waren weltweit mehr als 1,4 Millionen Menschen auf den Straßen.
Dieser Ruf nach mehr Klimaschutz ist auch ein Ruf nach mehr Staat. Strenge Klimagesetze und Verbote müssen von Parlamenten beschlossen und von den zuständigen Ministern ausgeführt werden. Die Coronakrise hat diese Diskussion um Staat, Markt und die Freiheit des Einzelnen verändert.
Die Juraprofessorin Johanna Wolff von der Freien Universität Berlin glaubt, dass viele Menschen nach Corona den Staat in einem neuen Licht sehen.
"Rückblickend ist ja heute kaum noch vorstellbar, dass man noch vor wenigen Monaten ernsthaft die Meinung vertreten hat, es sei der Wirtschaft nicht zumutbar, wenn man Pappbecher oder Plastiktüten verbietet", sagt sie. "Das wirkt ja heute, nachdem was man der Wirtschaft inzwischen zugemutet hat, geradezu komisch. In der Coronakrise hat sich also gezeigt, dass massive Eingriffe der Politik in die Wirtschaft möglich sind, und es hat sich auch gezeigt, dass diese massiven Eingriffe, wenn denn eine schwerwiegende und tatsächliche Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut droht, auch juristisch gehalten werden können."
Für die Juristin Johanna Wolff ist der Schutz der Umwelt und des Klimas ein ebenso wichtiges Rechtsgut wie das der Gesundheit. Auch in der Klimapolitik müssten massive Einschränkungen und Verbote auf den Weg gebracht werden.
Corona ändert Blick auf Einschränkungen und Verbote
Politische Parteien fürchten aber polemische Kampagnen. "Verbotspartei" werden die Grünen gern genannt, weil sie Mikroplastik verbieten oder den Fleischkonsum einschränken wollen. Verfassungsrechtlerin Johanna Wolff glaubt, dass mit den neuen Erfahrungen einer echten Krise die Akzeptanz für Verbote steigen könnte.
"Ich glaube, dass gute Klimaschutzgesetzgebung aus einem Instrumentenmix bestehen muss", sagt sie. "Und dass zu diesem Mix auf jeden Fall auch Verbote dazu gehören. Klar ist natürlich: Verbote schränken immer Grundrechte ein. Darum ist auch klar, dass es dafür gute Gründe geben muss, etwas zu verbieten. Es ist auch klar, dass sie auf der Grundlage einer möglichst breiten gesellschaftlichen Diskussion beschlossen werden, und es ist klar, dass es die Möglichkeit geben muss, sie vor Gericht überprüfen zu lassen. Wenn aber das alles gegeben ist, dann sind Verbote überhaupt nichts Schlechtes. Und das kommt mir zu kurz, wenn immer abfällig über Verbote gesprochen wird und dann immer gleich von Bevormundung die Rede ist."
Verbote haben den Vorteil, sofort zu wirken. Anders als in der Coronakrise ist die Akzeptanz für Klimaschutzverbote aber geringer, weil die Folgen der Klimakrise nicht jeden Tag spürbar sind. Hinzu kommt, dass die Regierungen für ein oder maximal zwei Wahlperioden planen. Für eine echte Krisenvorsorge müsste die Politik aber weit vorausdenken.
Dieses langfristige Denken fehlt in Politik und Wirtschaft. In Fachkreisen nutzt man dafür den Begriff der Resilienz. Viele kennen die Resilienz aus der Psychologie, wenn es beispielsweise darum geht, stressresilient zu werden.
Bei Überreizung durch Lärm, hohe Anforderungen und persönliche Tiefschläge können Menschen lernen, besser mit Stress umzugehen. Dafür gibt es spezielle Trainings. Schon lange vor der Stresssituation bereiten diese präventiv auf den Angriff von außen vor.
Auch im gesellschaftlichen Sinne geht es darum, Reaktionsmuster aufzubauen, die im Krisenfall greifen und den Schaden abmildern. Bei Umwelt- und Gesundheitskrisen bedeutet das, Menschen vor dem sozialen Abstieg, Krankheit und Existenzängsten zu bewahren. So wie derzeit in der Coronakrise oder im Falle einer Naturkatastrophe.
"Wir dürfen nicht wieder in unsere alte Normalität zurück"
Einer, der die Welt schon lange krisenfest machen will, ist Nicholas Stern. Der frühere Weltbank-Chefökonom glaubt, dass Länder schlecht auf die Coronakrise oder auch die Finanzkrise 2008 vorbereitet waren. Noch schlechter seien sie für die Klimakrise gerüstet.
"Wir dürfen nicht wieder in unsere alte Normalität zurück", sagt erWir haben gesehen, wie anfällig unsere Volkswirtschaften sind – und zwar nicht nur in Umweltfragen, sondern auch im Falle einer Wirtschaftskrise. Diese alte Normalität vor Corona ist sehr instabil und sehr gefährlich."
Nicholas Stern gab schon 2006 den berühmten Stern-Report heraus. Darin untersuchte er, wie hoch die volkswirtschaftlichen Kosten des Klimawandels in den kommenden Jahrzehnten sein werden. Wenn Dürren, Überschwemmungen oder Stürme zur Regel werden, trifft das nach seiner Ansicht nicht nur die Landwirtschaft empfindlich, sondern auch den Tourismus, die öffentliche Infrastruktur wie Straßen und Bahngleise oder auch ganze Industriezweige.
Klimaschutz ist teuer, kein Klimaschutz ist noch teurer
Erst 2014 gab es eine Neuauflage des Stern-Berichts. Darin heißt es, wenn die Klimaerwärmung bis zum Jahr 2050 ausgebremst werden soll, müsste bis 2030 weltweit die gigantische Summe von 90 Billionen US-Dollar ausgegeben werden.
Der große Teil des Geldes müsste in den Energie- und Verkehrssektor fließen: Zwei Bereiche, die heute noch von fossilen Energieträgern wie Kohle, Öl und Gas abhängig sind.
Setzen die Staaten weiter auf fossile Rohstoffe, bauen weiter Kohlekraftwerke, fördern Verbrennermotoren oder Massentierhaltung, sind die Folgekosten dieser "alten Normalität" deutlich höher, warnt der Ökonom.
Der Bericht spricht eine deutliche Sprache: Wenn man keine Prävention betreibt, kommt das alle teuer zu stehen – dem eigenen Geldbeutel genauso wie auch der Gesundheit, den Unternehmen und der Gesellschaft. Gegen die Klimaveränderung könnten sich Staaten und Gemeinschaften aber wappnen - wenn sie denn früh genug damit anfangen.
Klare Vorgaben und Sofortmaßnahmen gefordert
Gerade die Coronakrise sei dafür ein guter Zeitpunkt, sagt Nicholas Stern: "Wir brauchen den Rahmen, klare Vorgaben und eine klare Richtungsvorgabe, wo es hingehen soll. Nur so kann die Wirtschaft planen und sichere Arbeitsplätze schaffen. Wenn Politiker keine klaren Ansagen machen, dann ist das auch für die Wirtschaft schlecht, weil es eine große Unsicherheit bei Investitionen gibt. Deshalb muss es absolut eindeutig sein, dass es beim Klimaschutz kein Zurück geben darf. Das Schlimmste in der Post-Corona-Welt wäre eine Sparpolitik, wie wir sie die letzten Jahre hatten. Außerdem brauchen wir einen Strauß von Sofortmaßnahmen, beispielsweise um Züge und Autos elektrisch zu betreiben."
Diese Rufe von Klimaökonomen wie Nicholas Stern verhallten vor der Coronakrise meist ungehört. Zwar gab es in vielen Ländern Anreize und Marktinstrumente, beispielsweise den Handel mit CO2-Zertifikaten oder Steuererleichterungen bei klimafreundlichen Investitionen.
Doch nur ungern nahmen staatliche Stellen richtig viel Geld in die Hand, um das öffentliche Leben klimafreundlich umzurüsten, beispielsweise mit dem Bau von Radwegen, der Förderung des öffentlichen Nahverkehrs oder der Wärmedämmung von Gebäuden.
Corona erschüttert Fundamente der neoliberalen Ideologie
"Das ist, was eine Epidemie uns zeigt: Wie verwundbar wir alle sind, wie abhängig von dem rücksichtsvollen Verhalten anderer, aber damit eben auch, wie wir uns durch gemeinsames Handeln schützen können", sagte die Kanzlerin in ihrer Ansprache am 18. März.
Durch Corona werden nun Tabus gebrochen, die unter den unionsgeführten Regierungen und Bundeskanzlerin Angela Merkel über 14 Jahre Bestand hatten. Allein in Krisen wie 2008/2009 und der jetzigen Pandemie werden Ausnahmen vom sonstigen Sparzwang oder der sogenannten schwarzen Null gemacht.
Dieser Kurswechsel könnte sich auch auf das ökonomische Denken auswirken. Bisher verpönte Wirtschaftskonzepte könnten nun wieder an Ansehen gewinnen, glaubt der Ökonom Reinhard Loske.
Der 61-Jährige war lange Bundestagsabgeordneter für die Grünen. Nach 15 Jahren in der Politik hat er sich schließlich für die Wissenschaft entschieden. Heute ist er Präsident der ökologisch ausgerichteten Cusanus Hochschule in Rheinland-Pfalz.
"Also ich glaube, dass die Coronakrise - also ich will nicht sagen der letzte Sargnagel oder das Totenglöckchen für die neoliberale Ideologie ist. Aber die neoliberale Ideologie wird durch die Coronakrise in ihren Grundfesten erschüttert."
"Die ganzen Fehlannahmen sind jetzt evident"
Reinhard Loske glaubt, dass die Coronakrise ein Paradigmenwechsel auslösen könnte. Es ändere sich, wie man in den Medien und in Parlamenten über den Staat redet. Das habe auch Folgen für das gesamtgesellschaftliche Klima.
"Die ganzen Fehlannahmen sind ja jetzt evident", sagt er. "Einmal das Naturverständnis, das Natur nur als Ressource gesehen wird, die effizient genutzt werden muss. Dass es Grenzen des Wachstums nicht gibt, sondern, dass es durch technischen Fortschritt ein immer weiteres Ausdehnen der Grenzen des Wachstums gibt. Das ist ein Postulat, was mittlerweile ganz stark in Zweifel gezogen wird. Dann das Menschenbild, das Verständnis vom Menschen, der homo oeconomicus, also der stets darauf bedacht ist, seinen Eigennutz zu maximieren. Auch das steht mindestens mal zur Disposition. Wir sind natürlich alle keine Engel, das ist völlig klar, aber wir haben gezeigt, dass wir in Krisensituationen auch hilfsbereit sein können und versuchen, uns selbst zu helfen. Deshalb ist meine These, dass die neoklassische Ökonomik durch diese Krise noch nackter geworden ist."
Nur wenn Menschen kooperieren und solidarisch miteinander umgehen, kann es einen gerechten Klimaschutz geben, glaubt der grüne Ökonom Reinhard Loske. Und nur in diesem Klima des Zusammenhaltes kann man Menschen von Veränderung überzeugen. Das fordert auch die Klimabewegung. Der Impuls soll aus der Gesellschaft kommen. Doch der Staat muss am Ende die Wegweiser für Veränderungen setzen.
Die Coronakrise zeigt, dass der Staat schnell handlungsfähig ist, wenn er die Krise erkennt. Für Reinhard Loske heißt das auch, dass neben dem marktliberalen Denken auch die Globalisierung hinterfragt werden muss.
Die Coronakrise zeigt, dass der Staat schnell handlungsfähig ist, wenn er die Krise erkennt. Für Reinhard Loske heißt das auch, dass neben dem marktliberalen Denken auch die Globalisierung hinterfragt werden muss.
"Die Nichtinrechnungstellung der externen Kosten des Transports in Bezug auf den Klimawandel, auf die Luftverschmutzung und anderes mehr ist ein regelrechtes Förderprogramm für Globalisierung gewesen", sagt Reinhard Loske. "Und deswegen wäre es jetzt sehr, sehr wichtig, dass die Transportpreise für den Containerverkehr, also für den Schiffsverkehr und für die Frachtflugzeuge und den Luftverkehr insgesamt, dass die angepasst werden und wir eine internationale Besteuerung für Schiffsverkehr und Luftverkehr haben und so einen Anreiz schaffen, um zu deglobalisieren. Das Zweite ist, dass man gezielte Strategien der Regionalisierung fahren muss. Es geht um eine Elementarfrage, nämlich darum, um Lebensmittel, um Nahrungsmittel, um Wasser, um die Qualität des Naturhaushaltes. Und das ist der absolut prioritäre Bereich für die Reregionalisierung."
Mehr Staatlichkeit, stärkere Zivilgesellschaft
Reinhard Loske sieht die Lösung aber nicht nur in mehr Staatlichkeit. Gleichzeitig sei eine starke Zivilgesellschaft gefragt, damit die ökologische Transformation auch von unten Fahrt aufnehme.
Versuche für einen Button-up-Klimaschutz - einen Klimaschutz von unten - gibt es bereits in Frankreich.
"Ich war eine Umweltaktivistin und war bei der Weltklimakonferenz in Paris vor fünf Jahren dabei", erzählt Mathilde Imer. "Ich war sehr froh über den Klimavertrag - aber das reicht nicht. Wir sehen heute, dass kein Staat der Welt diesen Vertrag wirklich umsetzt. Deshalb müssen wir uns jetzt neue, demokratische Prozesse ausdenken. Neue Modelle, bei denen der Bürger nicht mehr der Dumme ist, sondern Verantwortung übernimmt."
Mathilde Imer kämpft seit Jahren für mehr Mitsprache von Bürgern in der Klimadebatte. Heute organisiert die angehende Politikwissenschaftlerin mit vielen anderen die "Convention citoyenne pour le climat" in Frankreich. Es ist ein Bürgerkonvent, der über die künftige Klimapolitik entscheiden soll.
Das Klimaparlament hat die französische Regierung ins Leben gerufen. Der französische Präsident Emmanuel Macron warb für dieses Projekt schon in seinem Wahlprogramm 2017.
Ein Klimaparlament der Bürgerinnen und Bürger
Im vergangenen Oktober kamen die Parlamentarier des Klimakonvents zum ersten Mal in einem Hörsaal der Pariser Sorbonne-Universität zusammen. 150 Bürger, die von einem Wahlforschungsinstitut zufällig angerufen wurden. Was zählte, war nur eine gleichberechtigte Vertretung, also genauso viele Männer und Frauen, Junge und Alte, Gutverdiener und prekär arbeitende Menschen, Hauptstädter und Landbewohner.
Sie alle bekamen die knifflige Aufgabe, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um 40 Prozent zu reduzieren. Und zwar so, dass ärmere Personen nicht darunter leiden.
An insgesamt sechs Wochenenden diskutieren die Abgeordneten. Die letzte Versammlung findet in wenigen Wochen statt. Über die erarbeiteten Projekte und Gesetze für den Klimaschutz soll dann im kommenden Herbst abgestimmt werden. Entweder in einem Referendum oder einem Votum im Parlament.
Für Mathilde Imer ist es eine Erfolgsgeschichte: "Nur sehr wenige Personen haben aufgehört mitzumachen. Viele gingen anschließend nach Hause, sprachen ihre lokalen Politiker an, redeten mit den Bauern oder bilden sich jetzt zum Thema Klimawandel weiter. Fast alle haben in ihrem Wohnort weitergearbeitet."
Produktion von Lebensmitteln in der Region
Und obwohl die Menschen so unterschiedlich waren, gab es Ergebnisse, mit denen alle leben konnten. So einigten sich die Teilnehmenden schnell darauf, die Landwirtschaft wieder zu relokalisieren. Obst, Gemüse und Getreide soll unabhängig von Exporten in der Region produziert werden.
Schwieriger ist es beim Thema Fleisch. Obwohl die Tierhaltung große Mengen an klimaschädlichen Gasen freisetzt, lassen sich die Menschen weder in Deutschland noch in Frankreich gerne den Fleischkonsum verbieten. Die Französin Mathilde Imer machte in diesem Punkt dieselbe Erfahrung wie die Juristin Johanna Wolff: Sobald ein Verbot oder Gebot für alle Menschen gleichermaßen gilt und der Sinn klar ist, steigt die Akzeptanz.
Doch unabhängig davon: Bürgerversammlungen wie in Frankreich wünschen sich auch deutsche Klimaschützer und werben für ihre Einrichtung. Es sind Vereine wie Mehr Demokratie oder Umweltbewegungen wie Extinction Rebellion
Extinction Rebellion belagerte im Oktober vergangenen Jahres den Reichstag in Berlin – zu dem Zeitpunkt als in Frankreich Mathilde Imer ihren ersten Bürgerkonvent eröffnete. Während in Frankreich die Regierung die Bürgerversammlungen organisiert, können Bürger hierzulande bei Klimafragen bisher kaum mitbestimmen.
Klimaschutz mit demokratischer Mitbestimmung
In der Coronakrise muss die Politik schnell reagieren. Jeder Tag, an dem nicht gehandelt wird, bringt Menschen in Gefahr. Für demokratische Mitbestimmung bleibt da kaum Zeit.
Beim Klimaschutz ist das schon eher möglich – aber auch dringend nötig, denn Wissenschaftler sagen voraus, dass die Menschheit in den nächsten 30 Jahren radikal umsteuern muss, um eine Erwärmung auf mehr als 1,5 Grad zu verhindern.
"Ich glaube die Bereitschaft ist jetzt da, Veränderungen vorzunehmen für das, was wir jetzt eben Resilienz genannt haben, zu erhöhen. Allerdings muss es gerecht zugehen. Die Akzeptanz gegenüber Maßnahmen, die als notwendig anerkannt werden, steht und fällt natürlich auch damit, dass bei der Bewältigung der Folgen sowas wie Gerechtigkeit berücksichtigt wird. Deswegen hat die Politik jetzt schon einen großen Einfluss darauf, ob die Gesellschaft weiter auseinanderdriftet oder ob sie stärker solidarische Elemente ausprägt."