Nach der Mauer der Abgrund?

Von Uli Müller |
Die literarische Landschaft der DDR gerät allmählich in Vergessenheit. Um das zu verhindern, haben die Literaturwissenschaftler Norbert Eke und Michael Hofmann im Berliner Literaturforum ein internationales Symposium auf die Beine gestellt.
Der Saal des Literaturforums im Brecht-Haus ist überfüllt. Die Organisatoren müssen zusätzliche Stühle für die vielen Neugierigen aufstellen, die hierher in die Berliner Chausseestraße gekommen sind. Norbert Eke und Michael Hofmann haben die Idee für dieses internationale Symposium gehabt. Die beiden Literaturwissenschaftler der Universität Paderborn haben von Dienstag bis Donnerstag die Fachwelt und Interessierte eingeladen, um mit ihnen die Literaturlandschaft der DDR neu zu vermessen.

"Als ich mir überlegt habe, über die DDR-Literatur noch einmal wieder ein Symposium zu machen, stand im Hintergrund, dass merkwürdigerweise am Rand der Zwanzigjahrfeiern zur Wiedervereinigung sich eigentlich niemand mit der Kultur und Literatur im engeren Sinne dann der DDR mehr auseinandersetzen wollte. Es ist gerade so, als ob 40 Jahre DDR-Literatur, unser Thema, nicht existiert hätten", sagt Eke.

Vielen ist zumindest der deutsch-deutsche Literaturstreit in Erinnerung geblieben: Damals, im Vereinigungsjahr 1990, hatte Christa Wolfs Erzählung "Was bleibt" eine heftige Kontroverse ausgelöst.
Zwei Welten stießen aufeinander. Ostdeutsche verteidigten das politische Engagement von Schriftstellern. Westdeutsche pochten auf die Eigenständigkeit der literarischen Ästhetik.

Für viele ostdeutsche Autoren markierte dieser Streit einen Bruch in ihrem Selbstverständnis. Aus wissenschaftlicher Sicht aber blieb er ein Strohfeuer. Das findet Eke:

"Jedenfalls kann man sehr deutlich sehen, dass im Unterschied zu den 80er-Jahren, als ich angefangen habe, mich mit DDR-Literatur zu beschäftigen, kein allzu großes Interesse mehr auch in der Wissenschaft besteht an der Auseinandersetzung mit der DDR-Literatur. Die Beschäftigung mit einzelnen Autoren in Dissertationen und vielen Forschungsprojekten mal ausgenommen. Aber der große systematisierende Zugriff, den gibt es heute nicht."

Genau dort versucht die Tagung anzusetzen, und dazu haben Eke und Hofmann ein wahres Mammutprogramm zusammengestellt: In insgesamt 25 Vorträgen analysieren Wissenschaftler aus Deutschland, Italien und Polen die Darstellung der Gründungsmythen durch Autoren wie Willi Bredel, Volker Braun und Stefan Heym. Sie spüren einzelnen Gattungen und Autoren nach und diskutieren über die Literatur, die um und nach 1990 entstand. Und Wolfgang Emmerich versucht sich an einem neuen Theorie-Baustein zur Beschäftigung mit der DDR-Literaturgeschichte:

"Ich habe darauf abgehoben, dass die DDR eine lange Zeit, nämlich 40 Jahre existiert hat, fast so lange wie die Kaiserzeit, drei- bis viermal so lang wie die Nazi-Zeit, mehr als doppelt so lang wie die Weimarer Republik. Das wird immer vergessen. Man denkt nur an die letzten DDR-Jahre. Es waren vier ganze Jahrzehnte, und ich habe versucht, diese Zeit als einen geschlossenen Zeitraum zu beschreiben, in dem die DDR sehr homogen, sehr einheitlich geworden ist. Es war ja auch eine Bevölkerung, die weitgehend deutschstämmig war, die weitestgehend, 90 Prozent protestantisch war, wo es also viele gleichartige Voraussetzungen gab. Und dann gab es die geschlossenen Grenzen, endgültig ab 1961.

Also ich finde, man kann die DDR sehr gut verstehen als eine geschlossenen Raum-Zeit, auch wenn natürlich ab Anfang, Mitte der 60er-Jahre das Fernsehen ständig vom Westen her in die DDR hinein strahlte, ihre Literatur auch durch Weggänge, Ausbürgerungen einige ihrer besten Köpfe verloren hat", sagt Emmerich.


Und dann kommt das Jahr 1990. Seitdem ist der zuvor relativ geschlossene Raum offen. Neue Phänomene wie Migration und Globalisierung treten hinzu. Emmerichs These, es ginge um ein Hineinwirken der DDR-Literatur in einen ganz neuen offenen gesellschaftlichen Raum, findet Anklang im Literaturforum.

Doch was wird von diesem ambitionierten Tagungsprojekt übrig bleiben? Emmerich zumindest hofft auf einen Nachhall der vielen hier gesprochenen Worte.

"Eine solche Tagung kann dazu beitragen, neue Impulse zu geben. Es ist aber auch wichtig, weil wir lange nicht bei einer einheitlichen deutschen Literaturlandschaft gelandet sind. Zum Beispiel man kann es sehr genau benennen. Autoren wie Erwin Strittmatter, Eva Strittmatter, Hermann Kant und andere werden fast nur in den fünf neuen Bundesländern gelesen, in dem, was einmal DDR war, und viele westdeutsche Autoren, ich nenne einmal Botho Strauß oder Brigitte Kronauer, die werden, soweit ich sehe, kaum von Ostdeutschen gelesen, außer jüngeren Menschen, und ich denke, Wissenschaftler, Forscher, Universitätslehrer können durchaus ihren Beitrag dazu leisten, dass die Literaturlandschaft sich verändert, dass auch neue wichtige Werke kanonisiert werden, und dass wie Willy Brandt es einmal so schön gesagt hat, wirklich dann zusammenwächst, was zusammengehört."