Nach EU-Wahl

"Das Bild von Frankreich ist eine Lüge"

Französische Flaggen auf dem Balkon des Bürgermeisteramts in Aix-en-Provence
Quo vadis, Frankreich? Cecile Wajsbrot befürchtet das Schlimmste. © deutschlandradio.de / Daniela Kurz
Moderation: Susanne Führer |
Frankreich sei lange nicht mehr die "Grande Nation" von früher, meint die französische Schriftstellerin Cecile Wajsbrot. Die einzige mögliche Zukunft des Landes sieht sie in und mit Europa - und ist deshalb schockiert vom Wahlergebnis.
Susanne Führer: Was ist nur mit unseren Nachbarn los? Die französische Partei, die die meisten Abgeordneten in das Europäische Parlament schicken wird, ist der rechtsextreme Front National. Knapp 25 Prozent der Stimmen der Franzosen hat die Partei bei den Europawahlen erhalten und damit zum ersten Mal in der Geschichte mehr als alle anderen Parteien. – Am Telefon ist nun die französische Schriftstellerin Cecile Wajsbrot. Bonjour! Schön, dass Sie Zeit für uns haben.
Cecile Wajsbrot: Bonjour! Guten Morgen.
Führer: Früher hieß es ja mal "Patient Deutschland". Heute steckt ja offenbar Frankreich in einer schweren Krise, nicht nur in einer wirtschaftlichen. Mal angenommen, Frankreich würde sich in Therapie begeben und auf die Couch legen, welche Symptome würde dann der Patient Frankreich beklagen?
Wajsbrot: Ich glaube, Angst und Verzweiflung. Das sind die Hauptsymptome.
Führer: Welche Diagnose würde der oder die Therapeutin/Analytiker stellen?
Wajsbrot: Depression, tiefe Depression, und das ist leider nichts Neues. Jetzt ist es viel mehr sichtbar als vor ein paar Jahren, aber ich glaube, es dauert mindestens seit 20 Jahren schon.
Führer: Und warum meinen Sie, dass jetzt unter anderem das gute Ergebnis für den Front National ein Ausdruck dieser Depression ist? Wie hängt das miteinander zusammen?
"Front National sieht aus wie eine normale Partei"
Wajsbrot: Das ist einfach zu erklären und auch schwer, denn es gibt mehrere Gründe. Aber vielleicht ist der Hauptgrund, dass der Front National jetzt mit Marine Le Pen viel kluger geworden ist, als ihr Vater an der Macht war, die Partei geführt hat.
Führer: Jean-Marie Le Pen damals.
Wajsbrot: Jean-Marie Le Pen, genau. Sie sieht wie eine normale Partei aus sozusagen, und das ist schon ein Grund. Ich glaube nicht, dass es der Hauptgrund ist. Man hat lange gesagt, wenn jemand für den Front National abgestimmt hat, dass es eine Protestabstimmung war, aber dass sie nicht mit den Ideen des Front National einverstanden waren. Aber ich glaube, es stimmt nicht. Jetzt ist es klar, dass sie mit den Ideen ganz einverstanden sind.
Führer: Aber wenn wir noch mal auf diese Diagnose Depression blicken, Frau Wajsbrot: Es wird ja von vielen Seiten, nicht zuletzt von den Franzosen selbst, seit vielen, vielen Jahren gesagt, dass sich etwas ändern muss im Land. Das erinnert mich auch ein bisschen an einen depressiven Menschen, der auf dem Sofa liegt und genau weiß, er müsste jetzt eigentlich aufstehen und rausgehen und einkaufen und zur Arbeit gehen, es aber nicht kann und nicht tut und all das nicht tut, was ihm gut tut. Da scheint mir auch so eine Übereinstimmung zu herrschen, denn jeder Präsident, jeder Regierungschef bisher, der versucht hat, tatsächlich Reformen einzuleiten in Frankreich, ist wieder aus dem Amt gejagt worden.
Wajsbrot: Ja, genau. Und ich glaube, es ist auch, weil in Frankreich gibt es leider kaum Wahrheitsrede und kaum mutige Reden.
Führer: Was meinen Sie mit Wahrheitsrede? Die Politiker sagen nicht, wie es wirklich ist, oder?
Wajsbrot: Ja, oder sie sagen etwas und machen etwas anderes. Etwas stimmt nicht, zum Beispiel mit Hollande. Die Politiker, die haben eine leere Sprache. Es ist wie ein leerer Umschlag und keine Worte darin, oder nur Worte, aber kein Denken.
Führer: Floskeln würde man hier sagen.
"Es ist wirklich entmutigend"
Wajsbrot: Ja. Lügen, Lügen. Es ist wirklich entmutigend.
Führer: Und ist das auch der Grund dafür – Politiker haben in Deutschland ja auch kein hohes Ansehen -, dass die Franzosen meiner Meinung nach ihren Politikern noch viel, viel mehr misstrauen als die Deutschen ihren Politikern?
Wajsbrot: Ja und leider hat Marine Le Pen eine Sprache, die alle verstanden haben und die ganz konkret ist. Aber diese Politiker in Frankreich, sie kommen fast alle aus dieser Hochschule. Die haben, nicht alle natürlich, aber viele haben diese leere Sprache, diese technokratische Sprache, und es trifft niemanden. Auch die Intellektuellen trifft es nicht, nicht nur, was man das Volk nennt. Es gibt wirklich einen Abgrund zwischen Politikern, zwischen der Macht und den Franzosen, den Leuten, die nicht dazu gehören.
Führer: Frankreich in der Krise, das ist mein Thema mit der französischen Schriftstellerin Cecile Wajsbrot hier im Deutschlandradio Kultur. – Frau Wajsbrot, Sie haben vorhin gesagt, dieses Wahlergebnis ist schockierend, aber die Ursachen liegen schon viel tiefer, das hat vor über 20 Jahren angefangen. Was hat denn da angefangen? Kann man da irgendwo etwas festmachen, wo etwas verpasst wurde, wo ein falscher Weg eingeschlagen worden ist Ihrer Ansicht nach?
"Das Bild von Frankreich ist eine Lüge"
Wajsbrot: Ja, schon früher. Ich glaube, die ganze Nachkriegsgesellschaft hat sich auf einer Lüge aufgebaut. Das heißt, Frankreich war auf der Seite der Sieger nach dem zweiten Weltkrieg. Und es hat keinen Bruch gegeben, nur eine Kontinuität, und das dauert bis heute. Das heißt, das Bild von Frankreich, das die Franzosen haben oder das die Politiker mitteilen, ist eine Lüge. Das Erzählen ist kein echtes Erzählen.
Das ist ein grandioser Epos, aber das gibt es nicht, und Frankreich ist jetzt ein mittleres Land. Die einzige mögliche Zukunft in Frankreich liegt in und mit Europa, und das sagen sie kaum. Es ist immer noch die Rede von "La Grande Nation" und so weiter, und ich glaube, die einzige Hoffnung, die wir haben können, ist, dass jetzt im Land dieser Abgrund zwischen Reden und der Wirklichkeit wahrgenommen wird. Das heißt, die Leute, die wissen, dass etwas nicht stimmt, Depression kommt auch daraus, und vielleicht, wenn jemand etwas Wirkliches und etwas Wahres sagen würde, dann würde die Stimmung auch sich ändern.
Führer: Frau Wajsbrot, in Ihren Romanen geht es ja sehr häufig um das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, um Erinnern, Vergessen und Verschweigen. Sie haben vor Jahren schon einmal in einem Interviews mit einer deutschen Zeitung gesagt, gemünzt auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs, Frankreich stelle sich seiner Geschichte nicht, und da ging es dann aber auch noch mal um die Resistance, um die Verfolgung der Juden und so weiter. Und ich finde es sehr interessant, dass Sie das jetzt auch auf die jetzige politische Situation noch mal münzen, dass Sie sagen, auch da ist einer der Gründe die Geschichtsvergessenheit Frankreichs, beziehungsweise das falsche Selbstbild, sich selbst als große Siegernation des Zweiten Weltkriegs, die geschlossen in der Resistance gekämpft habe, darzustellen.
Wajsbrot: Ja, ja. Es geht weiter! Es ist dasselbe! Natürlich kommt nicht alles davon, dieser Krieg ist schon lange her. Aber die Stimmung, die Art, wie das Land sich darstellt, das ist geblieben.
Führer: Und wie wird es nun weitergehen? Wie sehen Sie, wie wird sich die Angst, die Depression weiter entwickeln?
"Ich habe Angst vor dieser Angst"
Wajsbrot: Ich habe auch Angst vor dieser Angst. Ich glaube, man sieht keine Zukunft, keine Perspektive in Frankreich. Ich weiß nicht. Ich glaube, es kann sich nur weiterentwickeln, wenn Hollande, denn er ist jetzt an der Macht, etwas ändern würde. Aber anscheinend ist das nicht so. Gestern hat er noch fünf Minuten gesprochen und es gab nichts in dieser Rede.
Führer: Er hat nichts gesagt.
Wajsbrot: Nein, nein! Und das ist auch typisch. Den ganzen Tag wussten wir nicht und wusste er nicht, ob er sprechen würde oder nicht. Das waren die Nachrichten gestern in Frankreich: Hollande wird sprechen, und dann nein, er wird nicht sprechen, oder er weiß noch nicht, vielleicht und so weiter.
Führer: Das heißt, Marine Le Pen als Madame le président ist nicht ausgeschlossen?
Wajsbrot: Es gibt noch Zeit. Ich hoffe trotzdem, dass etwas sich ändern wird, obwohl ich keine konkrete Lösung sehe. Es ist nicht unmöglich, aber ich hoffe, dass es nicht möglich ist.
Führer: Das sagt die französische Schriftstellerin Cecile Wajsbrot. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Wajsbrot.
Wajsbrot: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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