Der Fremde von nebenan
Wer kennt heutzutage noch seine Nachbarn? Nicht einmal jeder zweite, hat eine Studie herausgefunden. Doch das heißt nicht, dass Nachbarschaft keine Rolle mehr spielt. Denn vielerorts entstehen on- und offline Nachbarschaftsprojekte und -Netzwerke.
"Im Kern ist die Nachbarschaft um uns alle herum, ob wir wollen oder nicht", sagt Erdtrud Mühlens. "Dieses positiv zu gestalten, in dem Sinne, wir helfen uns gegenseitig und wir machen gemeinsame Sache, dieser Impuls, den habe ich mitgebracht und umgesetzt."
Erdtrud Mühlens hat 2004 in Sri Lanka den Tsunami überlebt – nur Dank der Hilfe ihrer direkten Nachbarn. Das Erlebnis hat die Hamburgerin bis heute geprägt:
"Was sie bei mir ausgelöst haben, war, dass so eine Gemeinschaft, so eine nachbarschaftliche Gemeinschaft sehr, sehr viel erzeugen kann, sehr viel Sicherheit vermitteln kann. Die Solidarität, also, da gab's kein langes Zögern…. Wir hätten das sonst nicht überlebt."
Wie sehr diese Nachbarschaftshilfe sie berührt und getragen hat, merkt Ertrud Mühlens, als sie 2005 zurück nach Hamburg zieht. Die Anonymität der deutschen Großstadt macht ihr zu schaffen. Dieses Land, in dem sich nur 35 Prozent einen engeren Kontakt zu ihren Nachbarn wünschen. Jeder Zweite hierzulande kennt nicht einmal den Bewohner direkt nebenan. Das hat eine Studie der TU Darmstadt ergeben. Die Nachbarschaftmuffelei beginnt offensichtlich schon beim Einzug: In Städten sind nur noch drei Prozent aller neuen Mieter bereit, bei ihrem direkten Nachbarn zu klingeln und sich vorzustellen.
"Ich selbst lege größten Wert darauf, in einem Haus zu wohnen, in dem ich die Menschen kenne, wo man sich freundlich begegnet, wo man auch gemeinsame Regelungen findet, wie ist es mit Urlaub, mit Blumen gießen bis hin zur Paketannahme", betont Erdtrud. "Das funktioniert ja in jedem Haus, wo man ein normales Nachbarschaft-Management hat, was wir alle ja betreiben."
Es ist riskant, beim Nachbarn zu klingeln
Aber was ist normal?
Professor Walter Siebel, Soziologe an der Uni Oldenburg beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Erforschung von Nachbarschaftsbeziehungen. Wer kann mit wem? Wer nicht? Warum ist das so? Wie viel Distanz, wie viel Nähe kann man zu den Fremden von nebenan ertragen?
"Nähe hat sehr zwiespältige Konsequenzen", sagt Siebel. "Um sich zu prügeln, müssen Sie sich physisch nahe kommen. Und um sich zu umarmen, müssen sie sich auch physisch nahe sein. Aber die Tatsache der räumlichen Nähe erlaubt überhaupt keine Prognose, ob nun eine Prügelei herauskommt oder eine Umarmung. Das hängt ausschließlich von den sozialen Bedingungen der Begegnung ab."
Es steht also einiges auf dem Spiel, wenn man beim Nachbarn das erste Mal klingelt. Das Verhältnis, das sich da begründet, wird lange bestehen bleiben. Warum also überhaupt klingeln? In einer Umfrage von TNS Emnid im Auftrag der Zeitschrift "Chrismon" sagten 84 Prozent der Befragten, sie würden beim Nachbarn vor allem dann klingeln, wenn er oder sie Post für einen angenommen hat. 72 Prozent würden klingeln, um sich ein Werkzeug zu leihen. Und 68 Prozent würden darum bitten, die Blumen zu gießen, während man weg ist. Schon mit solch kleinen Gefälligkeiten entsteht ein heikles Schuldverhältnis.
"Man stellt sehr schnell fest, dass die Hilfe sehr vorsichtig erfragt und auch gegeben wird", so Siebel. "Man achtet sehr darauf, dass man wieder zurückhilft oder die Hilfe mit Gegengeschenken dann gleichsam bezahlt. Also, man möchte seinem Nachbarn nicht verpflichtet sein."
Die Zauberformel heißt "höfliche Distanz". Und so grüßt man und hilft, lässt sich aber ansonsten in Ruhe. Die eigene Wohnung begreifen viele als Rückzugsort, als privates Himmelreich, als Schutzhaut gegen die stressige Außenwelt. Zu der gehören auch die Nachbarn. Etwa dann wenn sie Lärm verursachen. Ärgerlich, aber selbst das ist für die meisten Menschen kein Grund beim Nachbarn zu klingeln. Gerade mal 40 Prozent würden sich beschweren, wenn die Musik zu laut ist, 15 Prozent klingeln, wenn die Nachbarskinder zu sehr toben, Grillgeruch begründet bei 12 Prozent der Befragten eine persönliche Beschwerde und 7 Prozent würden bei Nachbarn klingeln, wenn die zu laut beim Sex sind.
"Je ähnlicher die Menschen in ihren Verhaltensweisen, Auffassungen vom Leben usw. sind, desto geringer ist die Chance, dass es in einer Prügelei endet", sagt Siebel.
Trotzdem: Nachbarschaftsstreit kommt immer wieder vor.
Bundesweit berühmt wurde dieser bizarre Konflikt um einen Knallerbsenstrauch, der in den Maschendrahtzaun der Nachbarin gewachsen ist, nachdem TV-Moderator Stefan Raab passend dazu ein Lied produziert hatte.
Dabei sind solche erbitterten Streitereien unter Nachbarn eher die Ausnahme, glaubt Erdtrud Mühlens:
"In den Medien wird hier häufig gerne über Streits gesprochen. Man hat den Eindruck, dass Nachbarn nur streiten. Faktisch ist es so, dass 10.000 Nachbarschaftsstreitigkeiten vor Zivilgerichten ausgetragen werden. Und wenn man sieht, dass es 60 oder 50 Millionen erwachsene Nachbarn gibt, ist das sehr gering."
Mit dem "Netzwerk Nachbarschaft" soll Gemeinsinn gefördert werden
Erdtrud Mühlens setzt auf die positiven Effekte einer funktionierenden Nachbarschaft und gründete – auch als Reaktion auf ihre Erlebnisse in Sri Lanka - das "Netzwerk Nachbarschaft". Eine bundesweite Initiative zur Förderung von Gemeinsinn und Kooperation. Seit über zehn Jahren lobt die Inhaberin einer Werbeagentur im Rahmen dieser Initiative regelmäßig Wettbewerbe aus:
"Die Wettbewerbe sind ein sehr gutes Instrument, um Aktionen zu motivieren, um auch die Expertise von Nachbarn auszuloten. Die Vorstellung der Projekte dient dazu, dass andere auch neue Orientierung bekommen. Darum geht es im Wesentlichen. Raus aus der lokalen Begrenzung in das Bundesweite hinein, um zu zeigen: ob jetzt Flensburg oder Konstanz, Nachbarschaft trägt sich mit bestimmten Maßnahmen und Verabredungen und kann viel Freiraum neu schaffen."
Skatrunden, Gemeinschaftsgärten, Spazier-Patenschaften, Tauschläden, Fußballturniere, Schatzsuchen, Spiele-Nachmittage, Flohmärkte, Einkaufshilfen und andere überraschende Initiativen haben sich so schon gegründet. The bank for better understanding.
"Das ist eine kleine Wohnstraße in einem dörflich aufgestellten Ort, wo man eine Bank aufgestellt hat, die von Haus zu Haus wandert, und wo man sich einmal die Woche trifft zum Gespräch", so Mühlens. "Auf jeden Fall rund um die Bank herum passiert etwas in der Öffentlichkeit, also auf der Straße. The bank for better understanding, das kann nur aus dem Rheinland kommen. Ich finde das eine sehr schöne Initiative aus Irlenbusch bei Rheinbach."
Auch Straßenfeste sind ein beliebtes Mittel, um sich mit seinen Nachbarn auszutauschen. Beim gemeinsamen Organisieren lernt man sich kennen und beim Feiern kommt man sich nahe.
"Und der große, große Vorteil ist gerade in Zeiten wie diesen, wo wir viel mit Komplexität zu tun haben, wo Komplexität als Überforderung auch häufig empfunden wird, dass wir die Nachbarschaften überschauen können. Und dass wir uns den Radius sozusagen selber gestalten können, in dem wir mit Nachbarn umgehen wollen."
Nachbarschaft wird heute oft inszeniert
Rund 2000 Nachbarschaftsprojekte hat Ertrud Mühlens in den letzten Jahren vorgestellt, und sie hat für ihr Netzwerk starke Kooperationspartner gewonnen: den Deutschen Städtetag etwa, die Krankenkasse AOK und das Kuratorium Deutsche Altenhilfe. Die Schirmherrschaft hat das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend übernommen. Ist das Interesse an Nachbarschaft gewachsen? Gibt es so etwas wie eine Renaissance?
"Wie immer man das nennt, es ist auf jeden Fall zu beobachten, dass die Leute Nachbarschaft immer mehr als Möglichkeit sehen, sich einzubringen und gegenseitige Hilfe auch in Anspruch zu nehmen und zu geben", sagt Erdtrud Mühlens. "Es ist eine sehr überschaubare Größe, die Nachbarschaft und diese Sehnsucht nach einer Sinnhaftigkeit, danach, etwas zu tun, etwas ganz praktisch, die wächst gerade im Zusammenhang mit der großen globalen Komplexität und den vielen Negativnachrichten, die man heute so empfängt. Also, der Wunsch etwas dagegen zu halten, ist tatsächlich gewachsen."
Der Soziologe Walter Siebel hat in der Vergangenheit weniger ein Wachstum an Nachbarschaft beobachtet als eher einen Wandel:
"Ob die soziale Wirklichkeit eine solche Rede von Renaissance grundsätzlich rechtfertigt, da hätte ich meine Zweifel. Denn wenn wir heute Nachbarschaft empirisch vorfinden, dann handelt es sich keineswegs immer um die klassische Nachbarschaft, also ein soziales Beziehungsnetz, das aufgrund der Tatsache des räumliche Nebeneinanderwohnens überhaupt erst zustande gekommen ist."
Heute, so der Soziologe, seien Nachbarschaften oft inszeniert. Menschen würden gezielt zueinander in die Nähe ziehen, weil sie gemeinsame Interessen haben, sich auf einer ähnlichen Wellenlänge wähnen. Ganz im Gegensatz zu früher, als Nachbarschaften noch Zwangsgemeinschaften waren.
"In vormodernen Dörfern lebten Menschen gleichsam ihr Leben lang unter sehr ähnlichen Bedingungen mit ähnlichen Berufen wie in der Landwirtschaft."
Aus dieser Zeit stammt auch der mittelhochdeutsche Begriff "Nahgebur", der "nahe Bauer". Die Nachbarschaft war die Basis für den Aufbau gegenseitiger Hilfe, abgesichert durch zahlreiche Normen. Und wer sich an diese Norm nicht hielt, bekam das sehr schnell zu spüren.
"Das heißt, diese Nachbarschaften waren sehr wirksame Instanzen der sozialen Kontrolle", erklärt Siebel. "Man musste sich helfen, bei plötzlich einsetzenden Regen die Ernte einbringen, in strengen Wintern und bei vielen anderen Gelegenheiten war es eine soziale Beziehung auf der Basis im Wesentlichen gleicher sozialer Lage und ökonomischer Notwendigkeit."
Nachbarschaft mit möglichst wenig Konfliktpotenzial gesucht
Heute dagegen sind Wohnen und Arbeiten räumlich getrennt. Die Nachbarschaft ist keine Produktionsgemeinschaft mehr, wenn dann teilt man höchstens noch Freizeit und Konsum. Und weil der Sozialstaat seine Bewohner weitgehend unabhängig macht, sind Kontakte zum Nachbarn nicht mehr notwendig. Informationen aus der Nachbarschaft verkommen so zum reinen Klatsch, diagnostiziert Walter Siebel. Deshalb scheue man davor zurück, den Nachbarn zu viel Einblick in die eigene Privatsphäre zu geben:
"Nachbarschaft ist immer noch eines: sie ist unentrinnbar. Wenn Sie einmal Krach mit ihrem Nachbarn haben, dann können Sie nur mit sehr hohen Kosten, nämlich durch Umzug, dieser unangenehmen Nachbarschaft entweichen. Und das ist einer der Gründe, weshalb man heute gerade bewusst auf eine höflich vorsichtige Distanz hält zu seinen Nachbarn. Eben weil das auch gefährlich ist, den Nachbarn allzu sehr in die eigene Nähe zu lassen."
Menschen suchen sich deshalb heute immer mehr Nachbarschaften aus, in denen sie möglichst wenig Konfliktpotenzial vermuten:
"Nachbarn, die sich anders verhalten, in anderen Zeitstrukturen leben, andere Sauberkeitsstandards haben, andere Prinzipien der Kindererziehung verfolgen, alle solche gemischten Nachbarschaften mit sehr hohen Unterschieden in der Lebensweise sind sehr konfliktträchtig. Und man kann ihnen entgehen, indem man mit seinesgleichen benachbart ist. Und deswegen suchen die meisten Menschen Wohnungen auch dort, wo man mit seinesgleichen benachbart ist."
Modell Nachbarschaftshilfe in Chicago
Einen radikal anderen Weg wählte Jane Addams. Die Tochter eines US-Senators zog 1889 nicht in ein vornehmes Viertel, sondern in ein Chicagoer Elendsquartier, wo Einwanderer aus aller Welt mit Müllbergen, feuchten Kellern und Typhus lebten. Sie litten unter Unterernährung und Arbeitslosigkeit, ihr Leben war geprägt von Alkoholismus und Hoffnungslosigkeit. All dem stellte sich Jane Addams entgegen. Sie gründete das "Hull House", ein Ort der Gemeinschaft und des Austauschs.
"Das war ja die Grundidee: Wir gehen in diese Viertel, geben nicht nur Almosen und Spenden, wie sonst es üblich war, sondern wir stellen alles zur Verfügung, was wir haben, auch unsere Bildung. Und indem wir die Leute tatsächlich selbst ermächtigen, durch mehr Bildung auch andere Ressourcen zu haben."
"Hull House" entwickelte sich schnell zum Treffpunkt, erzählt Nivedita Prasad, Dozentin an der "Alice Salomon Hochschule" in Berlin. Für Sozialwissenschaftlerinnen wie sie gilt Jane Addams heute noch als Pionierin des "Community building", der Nachbarschaftshilfe. Anfangs bot Jane Addams Englisch-Sprachkurse an, um die Integration der Einwanderer zu fördern, später gab sie Näh- und Kochkurse. Vor allem Frauen profitierten von diesem Nachbarschaftsmodell.
"Zum Beispiel, wenn die Kinder krank sind, die Mütter aber arbeiten gehen müssen. Oder die Mütter arbeiten fast bis Mitternacht und müssen dann noch kochen. Also, die Idee war tatsächlich, dass die Frauen sich gegenseitig entlasten", betont Prasad.
Jane Addams Projekt lockte auch Wissenschaftler an, die die Wechselwirkungen von Bildung, Gesundheit und Einkommen untersuchten. Die Studien, die damals entstanden, waren wegweisend:
"Das Hull-House hat ja damals diese Hull-House Maps and Papers erstellt. Das war zum einen also qualitativ und quantitative Forschung. Sie haben so etwas wie einen Sozialatlas farblich dargestellt. Das ist wirklich sehr, sehr spannend, da konnten sie sehen, in welchen Straßenzügen wer wohnt, in welchen Häusern, wer wieviel verdient, in welchen Häusern Bordelle waren, welche Häuser andere Arbeitende waren. Plus teilnehmende Beobachtungen und Interviews, mit Fabrikarbeiterinnen und teilnehmende Beobachtungen in Fabriken."
Die Ergebnisse dieser Studien führten zu einer realen Verbesserung der Lebenssituation vor Ort. Die Müllabfuhr wurde staatlich kontrolliert, stickige Keller wurden belüftet, die Kindersterblichkeit verringerte sich.
Auch heute noch interessieren sich Soziologen für Nachbarschaft und welche Effekte sie hat. Wie gut eine Nachbarschaft tatsächlich ist, lässt sich empirisch messen. Es gibt verschiedenen Indikatoren. Einer ist Wirksamkeit. Walter Siebel:
"Das kann man zum Beispiel dadurch messen, indem man in einem Viertel einen Brief 'verliert'. Und in einer wirksamen Nachbarschaft findet jemand den Brief, tut ihn in den Briefkasten und Sie bekommen ihn nach einiger Zeit zugeschickt. Und in einer nicht wirksamen Nachbarschaft werden Sie den Brief nie wieder sehen."
Auch hat die Qualität der Nachbarschaft einen starken Einfluss auf Lebensqualität und Zukunftschancen. Studien zeigen: Nachbarn entscheiden mit, wie hoch der Intelligenzquotient bei Kindern ist, wie oft sie krank sind, wie viele Teenager-Schwangerschaften es gibt und wie gut die Jobaussichten sind. Unabhängig davon, wer man selbst ist oder wie man lebt. Forscher sprechen dabei vom "Nachbarschaftseffekt." Und so wundert es wenig, dass auch Gewaltbereitschaft, Drogenkonsum und Risikoverhalten zu- oder abnehmen, je nach Nachbarschaft.
"Es gibt eine neuere, außerordentlich aufwendige, hochinteressante Untersuchung von einem amerikanischen Wissenschaftler, Robert Sampson, der nachgewiesen hat, wie außerordentlich folgenreich das positive oder negative Selbstbild einer Nachbarschaft ist und zwar unabhängig von der Realität", sagt Walter Siebel. "Also, wenn Sie etwas über die Zukunft einer Nachbarschaft wissen wollen, dann ist es wichtiger zu wissen, welches Image diese Nachbarschaft hat, als etwa die realen Zahlen der Kriminalitätsbelastung oder der gegenseitigen Hilfe."
Problematische Nachbarschaft: Großsiedlungen
Man kann sich seine Nachbarschaft also schönreden. Kanadische Forscher haben zudem herausgefunden, dass ein auskömmlicher Lohn und ein positives Familienklima die negativen Auswirkungen des Nachbarschaftseffekts abmildern. Und ebenso wichtig: eine unterstützende Gemeinschaft im unmittelbaren Umfeld hilft auch. Und die kann man sich aufbauen. Auch wenn das in manchen Vierteln, in Großsiedlungen etwa, nicht so leicht zu realisieren ist.
"Das sind vor allem die durch Kommunale Wohnungsunternehmen bewirtschafteten Großsiedlungen", sagt der Soziologe Bernd Hunger. "Wohngebiete des 20. Jahrhunderts. Und dort hat es dann zu einer Schieflage in der Belegungspolitik geführt, das heißt, man hatte Vermietungsprobleme, man hatte immer Probleme, schlicht und ergreifend dadurch, dass die angestrebte soziale Mischung in dem Wohngebiet nach und nach verschwunden war."
Bernd Hunger ist Mitautor einer Studie mit dem alarmierenden Titel: Überforderte Nachbarschaften. Darin wies der Soziologe und Stadtplaner schon 1998 auf die soziale Erosion in Hochhaussiedlungen hin:
"Wenn sich eine Häufung von einkommensschwächeren Mietern ergeben hat, was ja an sich nichts Schlimmes ist, aber Einkommensschwachheit korreliert sehr oft mit einem hohen Anteil von Bewohnern mit Migrationshintergrund und mit einem hohen Anteil von Bewohnern, die keine Arbeit hatten beziehungsweise auf Sozialhilfe angewiesen waren. Und so ergab sich in der Tendenz eine Abkopplung dieser Nachbarschaften von der normalen Stadt."
Die Studie entstand im Auftrag des Bundesverbands "Deutscher Wohnungsunternehmen", in der alle kommunalen Wohnungsunternehmen und alle Wohnungsgenossenschaften in Deutschland organisiert sind. Sie betreuen insgesamt sechs Millionen Wohnungen und damit zwölf Millionen Mieter, die alle eines gemeinsam haben: Sie können sich nichts Besseres leisten.
"Wenn man es völlig laufen lässt, hat man Ghettos. Sozial segregierte Milieus", warnt Hunger. "In gewisser Weise könnte man sagen, das ist dann die ehrliche Antwort auf die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft. Nur dann eskalieren Konflikte, und die Gesellschaft insgesamt ist nicht sonderlich produktiv."
Eine Konsequenz hatte diese Studie: Die Bundesregierung startete das Programm "Soziale Stadt", nach dem zukünftige Baumaßnahmen immer auch mit einem sozialen Programm begleitet werden sollten. Und auch die Wohnungsunternehmen haben begriffen, dass es sich rentiert, in Nachbarschaft zu investieren, leere Wohnungen sensibel zu vergeben und regelmäßig die Mieter zu befragen.
"Und diejenigen, die solche Sachen zu Grunde legen, sind auch die wirtschaftlich erfolgreichen. Da geht der Leerstand zurück, da hat man Mieterhöhungsspielraum. Da habe ich das Gefühl, ist die Branche auf einem ganz guten Weg. Es geht nicht mehr darum, Wohnungen zu verwalten und zu verteilen, sondern wirklich Nachbarschaften zu organisieren. Einige der großen Unternehmen haben das sogar als Leitbild."
Auch auf dem Land braucht man Nachbarschaftsprojekte
Ziegendorf, ein kleiner Ort am südlichen Rand Mecklenburgs. Mit 16 Einwohnern pro Quadratkilometer sind die fünf zugehörigen Ortsteile das Gegenteil eines Ballungsgebiets. Schon gar kein sozialer Brennpunkt. Trotzdem eine Problemregion.
"Es bröckelt", sagt die Ziegendorferin Sabine Uhlig. "Also, es ist über viele Jahre gebröckelt und gebröckelt. Und auf einmal erkennt man, dass es auch tiefe Risse gibt. Und dass die Gefahr besteht, dass vieles auseinanderbricht. Und je mehr Infrastruktur schwindet, umso mehr wird auch abgebaut."
Die Schule ist geschlossen, für die Sanierung des Kindergartens fehlt das Geld, Busse fahren weniger oft. Sabine Uhlig beobachtet den schleichenden Niedergang ihrer Nachbarschaft schon lange. Sich dagegen zu stemmen erfordert viel Kraft:.
"Einer alleine kann das nicht machen. Das heißt, es geht nur in einem Netzwerk. Und deswegen ist einfach Nachbarschaft zwischen den direkten Nachbarn, aber auch zwischen den Dörfern, die Grundlage dafür."
Wer Nachbarschaft will, muss sie langsam wachsen lassen, gerade in einem Dorf:
"Man muss auch immer dran bleiben. Und sich immer wieder in Erinnerung bringen und sagen, wir sind da und wir gehören dazu und wir können in Anspruch genommen werden und auch die anderen in Anspruch nehmen. Wisst ihr, wer ein Gerüst hat? Und so darüber. Und dann musste ein Kaffee getrunken werden und ein Schnaps, und wenn man das durch hat, dann lernt man neue Nachbarn kennen."
Gemeinsam mit anderen Ziegendorfern ist Sabine Uhlig aktiv geworden, sie haben Nachbarschaftsprojekte angestoßen, um ihr Dorf wieder zukunftsfähig zu machen - attraktiv für Senioren und junge Familien. Sie haben Filme in der Kirche gezeigt, den Dorfplatz bepflanzt und einen untergepflügten Weg zwischen zwei der Dorfgemeinden wieder begehbar gemacht. Und ganz wichtig: Sie haben immer wieder zusammen gefeiert. Das Vertrauen in die eigenen Kräfte ist so immer mehr gewachsen.
"Da stehen wir auch alle noch so ein bisschen davor und es ist für uns ein kleines Wunder. Und es hat auch viel ermutigt, hat viele Menschen ermutigt, zu sagen: Ja, da hängen wir uns jetzt richtig mit rein und machen unsere Angebote."
Heute helfen Rentner Schülern bei den Hausaufgaben, es gibt einen Obstbaumschnittkurs, einen Computerkurs. Und die Ziegendorfer nähen und kochen gemeinsam.
"Da treffen sich auch immer wieder unterschiedliche Leute, auch aus unterschiedlichen Dörfern", sagt Uhlig.
Vor Ort gemeinsam Verantwortung übernehmen
Das neuste Nachbarschaftsprojekt heißt "Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz". Sabine Uhlig holt weiße Stoffbeutel aus einem Karton. In die Beutel packt sie Notizblöcke, Kugelschreiber und Papiertaschentücher. Geschenke vom Bundesfamilienministerium für die Gäste der heutigen Feier. Ein Förderbescheid über 10.000 Euro wird überreicht, für das neueste Nachbarschaftsprojekt.
"Menschen aus allen Dörfern und Gemeinden, die sich zugehörig fühlen, sind eingeladen, mehr über Demenz und über Demenzerkrankungen zu erfahren, damit sie sich auch sicherer fühlen können im Umgang mit Menschen mit Demenz. Ich wünsche mir schon, dass daraus auch ein Helferkreis entsteht, der in allen Dörfern nachbarschaftliche Hilfe oder auch ehrenamtliche Betreuungsunterstützung bietet", so Uhlig.
Das können Tanzabende mit Demenzkranken sein oder kleine Wanderungen, ein Erzähl-Cafe oder gemeinsames Gärtnern. Auch das Ministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend hat ein Interesse daran, dass Demenzkranke möglichst lange zuhause bleiben. Das spart Kosten und die Kranken fühlen sich wohler, sagt Kornelia Folk, Referentin für ältere Menschen und Demenz. Voraussetzung dafür sind aber intakte Sozialstrukturen. Leute, die vor Ort gemeinsam Verantwortung übernehmen.
"Die Erfahrung, jetzt auch gerade bei den lokalen Allianzen, die wir bundesweit in allen möglichen Facetten haben, zeigt, dass es immer dann gut gelingt oder auch auszubauen ist, oder ein Weiterentwicklungseffekt in Gang setzt, wenn so eine gute dörfliche oder städtische Quartiersentwicklung schon da ist."
"Wir haben jetzt um die 500 und 600 Nachbarschaften", sagt Torsten Lührs. "Es ist alles natürlich im Start und es ist alles noch relativ klein, wir haben in dieser Pilotphase, in der wir sind, schon national Nachbarschaften aufgebaut. Berlin, Köln, Hamburg, München und Zürich sind so die Hauptstädte, in denen wir unterwegs sind."
Ohne großen Werbeetat, nur mit netten Youtube-Filmchen und viel Mund-zu-Mund-Propaganda will Torsten Lührs die Internetplattform "WirNachbarn.com" zur Nummer eins der Nachbarschaftsplattformen im deutschsprachigen Raum machen. Es gibt schon mehrere solcher Plattformen, die meisten in Anlehnung an das US-amerikanische Vorbild nextdoor.com. Seit 2011 haben sich zwischen San Francisco und New York über 120.000 solcher Online-Nachbarschaften registriert.
"Es geht ja nicht nur darum, dass sich die Leute auf der Plattform dann tummeln, sondern dass sie sich auch real wieder kennenlernen", meint Lührs.
Die Plattform funktioniert wie ein Schwarzes Brett. Einer fragt nach einer Bohrmaschine, andere bieten Babyklamotten an oder werben für die Gründung einer Volleyballgruppe. Und man muss nicht beim unbekannten Nachbarn klopfen. Man klickt ihn an.
"Das ist natürlich aber auch die Chance, die die Plattform bietet. Also, ich kann ja darüber letztendlich mir diesen Abstand bewahren. Ich suche irgendwas, ich kann darauf reagieren, ich muss es aber nicht. Es klingelt der Nachbarn und ich will nicht öffnen, und da ist das Unbehagen sehr viel größer, als wenn die Kontaktaufnahme oder die Vermittlung einer Bohrmaschine, was auch immer, eben schon stattgefunden hat."
Ziel ist es trotzdem, sich persönlich kennenzulernen, Nachbarschaftliche Normalität eben. Pakete annehmen, Blumen gießen. Oder im fortgeschrittenen Stadium: Gemeinsame Aktionen organisieren.
"Also, es gibt Bücherschränke oder Spielplätze, wo öffentliche Gelder fehlen, wo es darum geht, das zu finanzieren aus der Nachbarschaft heraus", erklärt Lührs. "Das ist auch so: Da gehen Leute mit dem Klingelbeutel herum und versuchen die Gelder zusammen zu bekommen. Oder fürs Straßenfest genauso. Wir haben gesagt: Okay, da passt super ein Crowdfunding-Modul dazu."
Ein guter Nachbar - was braucht es mehr?
So bildet sich mit Online-Hilfe neues Sozialkapital. Der Wert von Nachbarschaften ist unbestritten und in Geld schwer messbar. Der Wert einer Nachbarschaftsplattform hingegen schon. Nextdoor.com in den USA wird auf eine Milliarde Dollar geschätzt, obwohl es noch gar kein Einnahmemodell dafür gibt. WirNachbarn.com will später lokale Werbung schalten und über die Einnahmen die eigenen Kosten amortisieren.
Eine gute Nachbarschaft lässt sich heute immer auch noch analog anschieben, sagt Ertrud Mühlens.
Eine gute Nachbarschaft lässt sich heute immer auch noch analog anschieben, sagt Ertrud Mühlens.
"Vielleicht wählen Sie den, der Ihnen wirklich am nächsten ist, also den direkten Nachbarn auf der gleichen Etage sozusagen, klingeln, sagen mein Name ist, ich wohne neben Ihnen, das wissen Sie ja. Wie wär's denn, wenn wir uns mal zusammensetzen, einfach kennen lernen und kucken, was können wir füreinander tun?"
Den ersten Schritt gehen, ist eine Herausforderung, die Mut braucht und im besten Fall Stärke verleiht. Aber das ist allemal besser, als zuhause allein fernzusehen. Denn eine gute Nachbarschaft macht stark, sorgt für Wohlergehen und Gesundheit. In Zeiten von immer größerer Segmentierung kann ein guter Nachbar auch schon mal Familie ersetzen. Was also braucht es mehr?