Nachbarschaft im Netz

Klicken statt Klopfen

Ein Mann sitzt im Garten mit seinem Smartphone.
Immer mehr Menschen organisieren die Nachbarschaft mit dem Smartphone. © imago/Panthermedia/Goodluz
Von Gerhard Richter |
Nachbarn können extrem nerven. Einen virtuellen Puffer beim Kennenlernen bieten Nachbarschaftsnetzwerke im Internet. Die boomen gerade in Deutschland - doch die ersten Mitstreiter dafür zu gewinnen, ist gar nicht so einfach.
Theo rennt von Mama zu Papa. Auf dem Arm: seine zwei Wochen alte Schwester. Sein Vater hat gerade einen großen braunen Umschlag aus der Post geholt. Theo ist ganz neugierig. Im Umschlag ist ein dicker Stapel DIN-A4-Bögen, alle mit dem gleichen Text bedruckt. 180 Einladungen, sich bei einem Nachbarschaftsnetzwerk zu registrieren. Patrick Ewald will so ein Netzwerk in Friesack gründen.

Überall klingeln - das macht ja keiner

Vor zwei Monaten sind die Ewalds aus Berlin ins brandenburgische Friesack gezogen. Hier haben sie ein Haus gekauft, Patrick Ewald pendelt jetzt jeden Tag anderthalb Stunden mit dem Zug zu seiner Arbeit und anderthalb Stunden zurück. Viel Zeit für Kontakte bleibt da nicht, aber eine gute Nachbarschaft ist ihm und seiner Frau wichtig. Bei den direkten Hausnachbarn lief die Kontaktaufnahme noch ganz klassisch.
"Wir sind einfach in der zweiten Woche an die Haustür gegangen und haben geklingelt und haben uns vorgestellt. Und jetzt wollen wir noch mehr Leute kennenlernen. Und es ist halt, ja, etwas schwierig, an jedem Haus zu klingeln, macht man ja auch nicht unbedingt, da mag ich es doch etwas unverbindlicher und da ist das Internet eine ganz gute Lösung."
Mit dem dicken Packen Einladungen in der Hand macht er sich auf den Weg. Einige Nachbarn kennt er schon vom Sehen. So wie den älteren Herrn über 80 und dessen 60-jährige Tochter. Vielleicht ja schon zu alt für ein Netzwerk im Internet. Ewald steckt trotzdem eine Einladung in den Briefkasten.
Patrick Ewald verteilt Einladungen
Patrick Ewald verteilt Einladungen im brandenburgischen Friesack.© Gerhard Richter
Man könnte mehr Informationen austauschen als nur bei zufälligen Begegnungen am Gartenzaun, auf der Straße oder mal beim Einkaufen. Patrick Ewald schaut sich schon lange im Internet nach geeigneten Plattformen um. Dabei hat er auch die Akteure von "Pumpipumpe" gefunden. Die haben sich eine Methode ausgedacht, wie man die Bewohner eines Hauses anregen kann, sich gegenseitig Dinge zu borgen, also zu pumpen.
"Die verschicken Sticker, die man sich auf den Briefkasten klebt, um zu zeigen, ok, ich hab 'ne Bohrmaschine anzubieten, oder ich verleihe Brettspiele oder dergleichen. Das fand ich ganz schön, und sowas hab ich mir wirklich vorgestellt."
Von solchen Initiativen gibt es mehrere im Internet. Mal geht's ums Teilen, mal um Kontakte, mal um Sicherheit vor Einbrüchen. Auch hier in Friesack offensichtlich ein Thema, denn die Gartentore und Zäune der Einfamilienhäuser sind massiv. Wer da wohl wohnt, und ob man sich mit denen gut versteht? In so einem Ort wie Friesack mit seinen 2500 Einwohnern trifft man sich wenn ja üblicherweise auf Festen und lernt sich kennen.

Jede Einladung ein potenzieller Knoten des Netzwerks

Auch heute scheint irgendwo ein Fest zu sein, denn kaum jemand ist an diesem Samstagnachmittag zu Hause. Haus für Haus, Briefkasten für Briefkasten. Jede Einladung, die er einwirft, ist ein möglicher Knoten des neuen Netzwerks.
"Also mir geht's nicht nur darum, dass ich hier Teil der Nachbarschaft werde, sondern dass die Nachbarschaft als solche funktioniert. Denn ich glaub schon, dass in Nachbarschaften viele Potenziale stecken, die einfach nicht genutzt sind, und vielleicht kann ich jetzt dabei helfen, so ein paar ungehobene Schätze zu heben."
Für sich und seine Familie hätte er gern ein Spiele-Netzwerk. Er hat viele Gesellschaftspiele zu Hause und sucht nach Mitspielern.
Am Ende seiner Runde trifft Patrick Ewald dann doch noch jemanden an, gerät quasi in eine Art Familientreffen. Ein Opa dreht mit dem Enkel Runden auf dem Moped und der Vater - kurze Haare, tätowierte Unterarme - hat Zeit, sich die Einladung erklären zu lassen.
"Kannst du dir so vorstellen wie Facebook für Nachbarn, und Ziel ist es halt eine Nachbarschaft aufzubauen. Einfach halt, keine Ahnung, wir haben einen Kühlschrank gerade abzugeben, stell ich den da rein und sage wer möchte den haben, gebe ich umsonst ab. Oder einfach mal Spieleabende, Kneipenabende zu organisieren, einfach mal reinschauen. Ich bin Patrick übrigens."

Hoffen auf den Schneeballeffekt

Patrick und Daniel drücken sich die Hand. Opa, Enkel und Moped kommen zurück. Für ein weiteres Gespräch ist es jetzt viel zu laut. Immerhin: ein erster Händedruck. Und 50 Einladungszettel verteilt. Müde kommt er nach Hause. Jetzt hofft er auf den Schneeballeffekt.
"Ich werde, denke ich, nicht im ganzen Ort Einladungen verteilen, deswegen hoffe ich schon, dass das die Runde macht. Dass sich Leute davon erzählen, und sich gegenseitig einladen und das für eine gute Idee halten."
Vorher aber muss er mindestens zehn Friesacker animieren, sich anzumelden, sonst kommt das Netzwerk nicht zustande.
Michael und Christian Vollmann
Michael und Christian Vollmann betreiben das Portal "nebenan.de".© Gerhard Richter
60 Kilometer entfernt, in Berlin-Kreuzberg, liefern sich vier junge Menschen ein Pausenmatch am Tischkicker. Sie arbeiten für ein Start-up, das seit 2015 "nebenan.de" betreibt. Das Büro liegt in einer ehemaligen Fabriketage in Berlin Kreuzberg. Große Fenster, Betonfußboden, Poster an den Wänden. 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sitzen vor ihren Monitoren an Schreibtischen oder mit ihrem Notebook in der großen Gemeinschaftsküche.

Inspiriert von einem US-Netzwerk

Christian Vollmann hat die Firma gegründet. Inspiriert wurde er vom US-amerikanischen Netzwerk "nextdoor". Deren Nutzer nutzen die Plattform in erster Linie dazu, sich vor Schießereien oder Einbrechern zu warnen.
"Mir war sofort klar, dass, wenn man dieses Thema nach Deutschland bzw. nach Europa muss ich eigentlich dazu sagen, bringen möchte, dass man das dann eben nicht über diese Sicherheitsschiene machen sollte. Sondern wir möchten das Thema eben über Nachbarschaftshilfe, über den sozialen Aspekt, wieder etwas mehr Gemeinschaft, mehr Solidarität. Und das Ganze mit kurzen Wegen, das sorgt für Ressourcenschonung. Und das sind eigentlich die Themen, über die wir kommen."

Selbstversuch in der eigenen Straße

Vollmann trägt seine dunklen Haare ein bisschen wie Jogi Löw und ein leuchtend blaues T-Shirt ohne Aufdruck. Er hat schon ein paar dutzend Start-ups gegründet und ist damit reich geworden. Dieses Start-up ist jetzt eine Herzensangelegenheit. Allerdings war sich Vollmann gar nicht sicher, ob die Menschen so eine Plattform annehmen würden. Nachbarschaft kann Spaß machen, kann aber auch unheimlich nerven. Entsprechend groß ist die Angst vor zu viel Nähe und Verbindlichkeit. Vollmann machte deshalb als erstes einen Selbstversuch. Er klingelte bei 20 Nachbarn, erzählte von seiner Idee und bat um deren E-Mailadresse.
"Und von 19 von 20 Nachbarn habe ich die bekommen. Und das war so für mich der kleine Markttest, ob da Akzeptanz da ist. Und die Leute waren begeistert davon und haben gesagt: 'Wann geht das denn los?`"
Mit einfacher kostenloser Software bastelte Vollmann ein Netzwerk für seine Straße, das war der Ursprung von nebenan.de. Heute ist das Netzwerk in Deutschland mit Abstand die größte Plattform. 6.500 Nachbarschaften sind online, mehr als 800.000 Menschen organisieren ihren Kiez-Alltag darüber. Gerade für ältere und hilfsbedürftige Menschen kann das ein Segen sein, erzählt Vollmann.
"Das habe ich in meiner eigenen Nachbarschaft gesehen. Da haben sich sechs Nachbarn zusammengetan, um für die Nachbarin, die erblindet ist, einmal die Woche abwechselnd einzukaufen. Jeder war nur alle sechs Wochen einmal dran. Und die Nachbarin kann länger da wohnen, wo sie gerne wohnen bleiben möchte."

Lauter kleine Dramen mit Happy End

Vollmann hat an der Bürowand einen großen Monitor anbringen lassen, darauf können alle Mitarbeiter verfolgen, was von Frankfurt/Oder bis Freiburg gerade passiert. Minütlich leuchten neue Posts auf. Eine Mutter sucht dringend jemanden, der einen Fotodrucker hat. Ihre Tochter muss noch heute ein Projekt für den Kunstunterricht ausdrucken. Ein paar Minuten später meldet sich ein Nachbar und lädt beide ein, bei ihm zu drucken. Ein kleines Drama mit Happy End und positiver Resonanz.
Angemeldete Nachbarschaften bei nebenan.de auf einem Display
Angemeldete Nachbarschaften bei nebenan.de© Gerhard Richter
"Und es ist tatsächlich so, wenn ich mal einen schlechten Tag habe oder etwas nicht so richtig lief, stell ich mich 5 Minuten davor und verfolge mal ein bisschen, worum es in den einzelnen Nachbarschaften so geht. Und danach gehe ich wieder beschwingt an die Arbeit, weil es wird geliehen getauscht, sich geholfen, gemeinsame Aktivitäten veranstaltet, das macht einfach Freude."
Und funktioniert in seinen Augen, weil keiner Nein sagen muss. Keiner muss antworten, ja, ich habe einen Drucker, aber ich lass dich damit nicht drucken. Wer seinen Drucker nicht zur Verfügung stellen will, der reagiert einfach nicht. Wer gerade nicht so viel Gemeinschaft erträgt, kann das online gut dosieren und so bleibt die Stimmung positiv. Das ist eines der Geheimnisse, warum die Community wächst.
Von einem Stapel in der Mitte des Büros nimmt Jonas Baumgart eine Handvoll Flyer, ein paar Luftballons und Poster. Das alles packt er in einen Klappkarton, klebt das Päckchen zu und schreibt die Adresse drauf.
Kommunen, Initiativen und Privatleute – täglich gibt es neue Anfragen. Baumgart verschickt Infomaterial an Nachbarschafts-Gründer, unterstützt Initiatoren und beantwortet Fragen am Telefon. Wie kann man sich registrieren, wie gründet man eine Gruppe. Er hat auch Patrick Ewald den Umschlag mit den vorgedruckten Einladungen nach Friesack geschickt. Und auch Beschwerden landen bei ihm.

Nur eine Beschwerde monatlich

Einmal pro Monat schätzt Baumgart. Anders als bei facebook oder anderen Plattformen, bei denen man sich hinter einem Pseudonym verstecken kann, gehen die Nachbarn bei nebenan.de in aller Regel respektvoll miteinander um. Jeder ist mit Klarnamen angemeldet. Man kennt sich oder könnte sich ja jederzeit persönlich begegnen. Das sorgt für mehr Respekt und Zurückhaltung. Wer unbedingt auffallen will, der kann das durch Engagement und positive Taten. Dann wird man zum Beispiel als ein "Ben" herausgefiltert. Ein besonders engagierter Nachbar.
Michael Vollmann mit einer Box voller Feierutensilien
Michael Vollmann zeigt die "Mitmachbox".© Gerhard Richter
Ebenfalls Unterstützung gibt es von der Stiftung Nachbarschaft. Die wird geleitet von Christian Vollmanns Bruder Michael. Der war vorher bei einem Netzwerk für sozial engagierte Unternehmer. Jetzt haben beide Brüder ihre Stehpulte mit den Notebooks im gleichen Büro, in Sichtweite voneinander. Beide arbeiten am gleichen idealistischen Ziel: Nachbarschaften fördern.
"Weil wir an die Wirkung glauben. Ich glaube einfach ganz fest dran, wenn wir es schaffen, dass die Leute mehr ineinander vertrauen, mehr miteinander reden, mehr miteinander machen, im echten Leben und auf der lokalen Ebene, das das dem Großen und Ganzen dann wirklich zuträglich ist."
In Zeiten von Fake News, Populismus und Provokationen statt Austausch ist es vielleicht auch mal wichtig mit Leuten zu reden, die ganz anders sind und denken. Weil sie eben einen anderen Alltag haben. Und die findet man ja oft eine Haustür weiter, sagt sein Bruder Christian. Da sind sich beide einig.

Begegnungen jenseits der Filterblase

"Wir wollen Begegnung im echten Leben fördern, die jenseits von Filterblase stattfindet. Also auch Leute anderer Altersgruppen, anderer Herkunft, anderer Bildungsschicht. Leute einfach auch... mit Leuten mich unterhalte, die ganz andere Probleme haben, eine ganz andere Perspektive haben auf Dinge haben als ich, das ist auch was, was eine Gesellschaft im Kern zusammenhält, am Ende des Tages."
Deswegen hat Michael Vollmann den Tag des Nachbarn ins Leben gerufen. Jedes Jahr am letzten Freitag im Mai sollen Nachbarn miteinander feiern. Über tausend Initiativen haben sich angemeldet und alle haben ein Päckchen bekommen. Sogenannte Mitmachboxen. Groß wie Pizzakartons und voller Utensilien für ein Nachbarschaftsfest.
Büroeingang von nebenan.de
In Berlin kann man die Macher von nebenan.de auch direkt aufsuchen. © Gerhard Richter
Auch Lissy Boost im brandenburgischen Wittstock ist dem Aufruf gefolgt. Morgen soll am Nachbarschaftstreff Röbeler Vorstadt gefeiert werden. Dafür druckt sie jetzt Zettel für die einzelnen Stände aus: Kinderschminken, Schachspiel, Glücksrad, Windräder basteln steht darauf.
Die 39-jährige Sozialpädagogin trägt ein blaues Sommerkleid, lange braune Haare. Und könnte eigentlich rundum zufrieden sein, wäre da nicht die Geschichte mit der Heliumflasche. Morgen Nachmittag pünktlich um fünf sollen hunderte Luftballons in den Himmel steigen, zeitgleich und als Höhepunkt aller Nachbarschaftsfeste in Deutschland. Das aber nur, wenn die Flasche bald hier auftaucht, sagt Lissy Boost und blickt etwas neidisch hinüber auf die Terrasse des Nachbarschaftstreffs. Dort sitzen ein paar ältere Damen und trinken gelassen ihren Kaffee.

Es geht auch analog

Vor neun Monaten hat Lissy Boost angefangen als Quartiersmanagerin der Volkssolidarität in dem frischsanierten Wohngebiet die Nachbarschaft zu organisieren. 20 Prozent der Bewohner sind sozial schwach, die Hälfte aller ist über 60, und bei den über 80-Jährigen sind die meisten alleinstehend.
Ein erster Erfolg ist die Gruppe "Nachbarn kochen für Nachbarn", zu der sich regelmäßig über zehn Leute treffen. Als nächstes soll ein Garten entstehen, die Hausverwaltung hat ein Stück Land zur Verfügung gestellt und Spaten und Gießkannen gestiftet.
Mit solchen Aktionen will Lissy Boost die Gemeinschaft fördern. Ganz analog. Mit Spendenbox statt Crowdfunding. Zettel in den Hausaufgängen statt Posting. Mund-zu-Mund-Propaganda statt Newsletter. Ein Netzwerk im Internet fände sie sehr hilfreich, hat sich im Internet auch einige Plattformen angeschaut. Sie glaubt aber nicht, dass das angenommen wird.
"Dafür ist die Nachbarschaft vielleicht auch schon zu alt teilweise, dass die diese Instrumente wenig nutzen. Wir haben jetzt schon eine Weile einen PC hier, wo man sich auch einloggen kann. Wenn man möchte. Es wird argwöhnisch begutachtet, aber nicht wirklich regelmäßig benutzt."
Lissy Boost lässt Luftballons steigen
Sozialpädagogin Lissy Boost hat im brandenburgischen Wittstock damit begonnen, die Nachbarschaft enger zusammenzubringen. © Gerhard Richter
Ein Phänomen, das auch in der hippen Büroetage bei nebenan.de in Berlin gesehen wird. Gründer Christian Vollmann kennt die Altersstruktur auf seiner Plattform. Der Durchschnittsnachbar ist über 40, also deutlich älter als bei anderen Netzwerken wie Facebook, Instagram oder snapchat. Das Interesse an erlebbarer Gemeinschaft wächst mit zunehmendem Alter, sagt Vollmann. Das beobachtet er ja selbst in seiner eigenen Nachbarschaft am Beispiel der blinden Frau und den sechs Nachbarn, die abwechselnd für sie einkaufen.

Der bedürftige Nachbar ist nicht unbedingt online

"Wenn ich nicht mehr so gut sehe und höre, das schränkt mich natürlich alles ein. Mein Radius wird kleiner und dadurch steigt natürlich der Wert der kurzen Wege für mich. Dadurch steigt mein Interesse an Nachbarschaft. Jetzt ist es aber so, dass die Online-, Digital-Affinität mit zunehmendem Alter leider sinkt."
Ein Dilemma für Gründer Christian Vollmann. Diejenigen, die nebenan.de am meisten bräuchten, können am wenigsten damit umgehen. Deswegen arbeitet nebenan.de mit Seniorenbüros in einigen Städten zusammen, unterstützt sie bei Computerschulungen.
"Und zum anderen kooperieren wir mit einer Firma, die haben eine integrierte Hard- und Softwarelösung ganz speziell für alte Leute entwickelt und mit 300 Menschen über 65 intensiv getestet und behaupten von sich, dass sie die einfachste Bedienoberfläche der Welt gebaut haben."
Aber das ist noch Zukunftsmusik. In Wittstock hat es Lissy Boost auch ohne digitale Netze geschafft, ihre Nachbarschaft zu mobilisieren. Zwischen den Flohmarkttischen drängeln sich die Bewohner der Röbeler Vorstadt ebenso wie am Kuchenstand.
Mit ihren 80 Jahren hat sich auch Renate Haaker mit ihrem Rollator auf den Weg gemacht. Erst vor vier Jahren ist sie hierher gezogen und erleichtert, so schnell Anschluss gefunden zu haben. Nachbarn haben sie zum Rommee-Spiel mitgenommen, das hat sie nun noch gelernt. Ins Internet will sie aber nicht mehr:
"Mit diesem neumodischem Zeug will ich nichts mehr zu tun haben, kann ich nicht. Und will es auch nicht mehr lernen."
Beherzt greift die Rentnerin zum Mikrofon, um sich zu bedanken.
"Allen Nachbarn in der ganzen Welt wünsch ich Frieden. Dass weniger Krieg auf dieser Erde ist, und jeder Nachbar zueinander hält. Sonst kann es nicht weitergehen."
Lissy Boost, die Quartiersmanagerin, applaudiert und schaut auf die Uhr. Kurz vor fünf. Doch von der Anspannung gestern – keine Spur mehr. Die Heliumflasche kam noch pünktlich und fünf Nachbarn haben spontan mitgeholfen, die bunten Ballons mit Gas zu füllen.

150 Einladungen, nur sechs Rückmeldungen

In über 1000 Orten in Deutschland wird an diesem Nachmittag der Tag der Nachbarn gefeiert. In Friesack leider noch nicht. Patrick Ewalds Netzwerk kommt nicht so richtig in die Gänge. An ihm liegt es nicht. Er hat schon 150 Einladungen in die Briefkästen der Nachbarn gesteckt. Bisher haben sich aber nur sechs Nachbarn gemeldet. Eine bescheidene Quote …
"Das ist auch schon etwas anstrengend. Vor allem, wenn da nicht so viel zurückkommt. Und abends nach der Arbeit Zettel einwerfen, kostet halt alles Zeit, deswegen ändere ich grad ein bisschen meine Strategie."
Der Familienvater hat das Baby auf dem Arm, wartet bis es einschläft. Mit der freien Hand tippt er auf dem Notebook. Er hat die Einladung von nebenan.de etwas modifiziert, die Vorteile des Netzwerks zusammengefast und einen QR-Code aufgedruckt. Die Internetadresse kann man sich als Schnipsel abreißen. Den Zettel will er nun an besonders gut besuchten Stellen in Friesack aushängen.

"Ich krieg' die schon"

"Wir haben ja nicht allzu viele Bushaltestellen hier im Ort, es gibt eins, zwei, … vier. Dann noch der Aldi-Supermarkt hier, dann vielleicht noch das Rathaus. Der Friseursalon, die Friseurin ist mir wohlgesonnen, vielleicht werd ich sie mal fragen. Ich bin da kreativ, ich krieg die schon."
Dann klickt er sich auf die Seite von nebenan.de. Dort kann man sehen, dass es unter den sechs bisher interessierten Nachbarn noch wenig Austausch gibt. Jedenfalls nicht online. Analog schon.
"Eine Nachbarin, mit der haben wir sogar regen Kontakt, zwei Häuser weiter, mit der hätten wir auch ohne nebenan.de ein gutes Verhältnis aufgebaut. Ja, und die kommt morgen rüber zum Kirschenpflücken."
Beim Stichwort Kirschenpflücken kommt Ewald plötzlich eine Idee. Mit dem Handy macht er ein Foto vom Kirschbaum. Das will er später bei nebenan.de posten.
"Also wenn sich jemand bereit fühlt, auf die Leiter zu steigen und zu ernten, ich hätte nichts dagegen."
Vielleicht lässt sich ja so ein weiterer Nachbar locken. Und wenn nicht heute, dann vielleicht morgen. Und wenn nicht morgen, vielleicht ja zur nächsten Kirschernte. Gute Nachbarschaft braucht manchmal auch Zeit zum Wachsen.
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