Der wirbelnde Lockenkopf
Dirigenten von Barenboim bis Rattle haben Gustavo Dudamel gefördert: Wo er auftritt, versteht er es, sein Publikum mitzureißen. Dudamels musikalische Hochbegabung steht außer Zweifel, doch die Ergebnisse überzeugen nicht immer in jedem Detail.
Er ist der Brausekopf unter den Anwärtern auf die Rattle-Nachfolge bei den Berliner Philharmonikern, der venezolanische Dirigent Gustavo Dudamel. Er ist ein Volle-Kraft-Voraus-Musiker, bei dem es auch schon mal heftig wackeln darf, wenn die Musik nur allen Beteiligten Freude macht. Ob dieser Vertreter der Spassfraktion aber auch die nötige Ernsthaftigkeit mitbringt, um eines der weltweit besten, aber auch stolzesten Orchester zu leiten, bezweifeln auch seine Fans mitunter.
Kometenhafter Aufstieg
Gustavo Dudamel verdankt seinen kometenhaften Aufstieg dem Musikerziehungsprogramm "El Sistema", mit dessen Simon-Bolivar-Jugendorchester er die Welt bereiste und durch hemmungslose Musizierlust bezauberte. 2004 gewann er den Bamberger Dirigierwettbewerb, seit 2009 ist er nach einer Station beim Göteborger Symphonieorchester zum Chefdirigenten des Orchesters von Los Angeles ernannt worden. Seine Hauptaufgabe sieht Gustavo Dudamel weniger in der epochemachenden Interpretation verehrter Meisterwerke als in der Musikvermittlung:
"Das ist als würde man mich fragen, was ist der Unterschied zwischen deiner Familie und deinen Freunden. Das Orchester ist ein Teil meiner Familie, es ist ein Teil von mir."
Große Dirigenten von Daniel Barenboim bis Simon Rattle haben Gustavo Dudamel nach Kräften gefördert, und wo er auftritt, versteht er es sein Publikum mitzureißen. Unter den aktuellen Bewerbern um den Chefsessel in der Berliner Philharmonie ist er zumindest in dieser Hinsicht dem derzeitigen Amtsinhaber Rattle am ähnlichsten, auch der will bei jedem Werk vermitteln, dass Musizieren allen Beteiligten ungeheuren Spaß macht. Eine große Anzahl der Philharmoniker scheint dieser Ästhetik inzwischen aber ein wenig überdrüssig zu sein und wünscht sich wohl wieder eine größere Ernsthaftigkeit in ihrer Kunst.
Emphatische Hyperaktivität
Das soll nicht heißen, dass die Orchestermusiker den charismatischen 34-jährigen nicht mögen. Seit seinem Philharmonikerdebüt im Jahr 2008 wurde er so häufig eingeladen wie keiner anderer Nachwuchsdirigent seiner Generation. Für die großen Unterhaltungsformate wie das jährliche Waldbühnenkonzert vor tausenden Zuschauern kann man sich auch keinen besseren Dirigenten denken als ihn, der mit großer Geste und heftig wirbelndem Lockenkopf für gute Stimmung sorgt. Dudamels musikalische Hochbegabung steht vollkommen außer Zweifel, aber obwohl er in den letzten Jahren seine emphatische Hyperaktivität immer besser in den Griff bekommt, überzeugen die Ergebnisse nicht in jedem Detail.
Ob sich die Philharmoniker auf das Wagnis einlassen, einen jungen Wilden an ihre Spitze zu wählen, der sicher bei ihnen noch einiges zu lernen hätte, das darf man mit guten Gründen für wenig wahrscheinlich halten. Schafft er es doch, sich beim Rennen um die Rattle-Nachfolge durchzusetzen, so wäre das ein echter Coup und die Musikwelt würde wieder einmal gebannt auf die Berliner Philharmonie schauen, um mitzuerleben, wie Dudamel an der Herausforderung, das äußerst selbstbewusste Orchester zu leiten.