Mitgerissen von der Musik
Außerordentliches musikalisches Gespür und große Begeisterungsfähigkeit: Der lettische Dirigent Andris Nelsons ist ein Sympathieträger beim Publikum – und der jüngste Kandidat für die Nachfolge Sir Simon Rattles in Berlin.
Andris Nelsons ist der Kandidat mit den höchsten Sympathiewerten beim Publikum. Wo auch immer er hinkam, war der heute 36-jährige Lette einer der Jüngsten auf diesem Posten. Mit 24 Jahren wurde er zum jüngsten Generalmusikdirektor der Lettischen Nationaloper in seiner Heimatstadt Riga, und als die großen Opernhäuser und Symphonieorchester der Welt auf ihn aufmerksam wurden, war er auch dort regelmäßig einer der jüngsten Debütanten. Die ebenso regelmäßig geäußerten Befürchtungen, ob es nicht noch zu früh sei für eine so glanzvolle Karriere, wichen sofort einer großen Begeisterung für sein außerordentliches musikalisches Gespür. Nelsons ist das Kind einer Musikerfamilie und wurde schon früh mitgenommen an den Arbeitsplatz der Eltern. Mit fünf Jahren sah er vom obersten Rang des Rigaer Opernhauses Richard Wagners "Tannhäuser" und war tief beeindruckt.
Eine frische Herangehensweise an das klassisch-romantische Kernrepertoire
Diese Emotionalität hat Andris Nelsons sich bis heute erhalten, und bisweilen hatte man als Zuhörer den Eindruck, er lasse sich etwas zu sehr von der eigenen Begeisterung für die Musik – besonders der deutschen Romantik forttragen – und verliere dann gelegentlich die Kontrolle über den Klang. Doch in den letzten Jahren hat er spürbar an sich gearbeitet und an Souveränität gewonnen. Einer seiner Lehrer ist übrigens Mariss Jansons, der selbst zum Kandidatenreigen für die Philharmoniker-Chefposition gehört und dessen russische geschulte Schlagtechnik und Klangvorstellungen auch bei Andris Nelsons deutlich spürbar sind.
Andris Nelsons steht für eine frische Herangehensweise an das klassisch-romantische Kernrepertoire, weniger für Innovation und Zeitgenössisches. Er stürzt sich in die Musik, ist nach den Konzerten oft nassgeschwitzt und verausgabt sich total. Das teilt sich sowohl den Musikern als dem Publikum ganz unmittelbar mit, egal ob in der Oper oder im Konzertsaal.
Selbst sein größter Kritiker
Seit vorigem Jahr ist Andris Nelsons der Nachfolger von James Levine als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, sein Vertrag dort läuft bis 2019. Daneben bleibt er aber auch seiner ersten musikalischen Liebe, der Oper, treu. Er ist verheiratet mit der lettischen Opernsängerin Kristine Opolais, die er in seiner Generalmusikdirektorenzeit im Rigaer Opernchor entdeckte. Selbstverständlich ist auch zu Hause das Musizieren immer Gesprächsthema, kritisieren sich die beiden gegenseitig, wenn sie denn überhaupt die Gelegenheit haben, mal gemeinsam zu arbeiten oder die Auftritte des anderen anzuhören, da beide ihre eigenen, internationalen Karrieren verfolgen. Der größte Kritiker von Andris Nelsons wird er allerdings wohl immer selbst sein.