Nachkriegs-Avantgardisten werden 100 Jahre alt

Musik nach Stunde Null

Sean Panikkar (als Emigrante) und Gloria Rehm (als Seine Gefährtin) sowie Ensemble während der Fotoprobe für "Intolleranz" von Luigi Nono an der Komischen Oper Berlin.
Luigi Nono ist einer der wichtigen Nachkriegs-Avantgardisten, dessen "Intolleranz" während der Spielzeit 2022 in der Komischen Oper Berlin zu sehen ist, hier mit starkem Blick auf die Flüchtlingswellen, die heute und auch nach 1945 im zerstörten Deutschland über die Bevölkerung herein brach. © IMAGO / Martin Müller
Welche Musik kann nach dem grausamen Zweiten Weltkrieg folgen? Eine voller Rückbesinnung oder Musik mit Bruch aller Traditionen? Die Antworten waren vielfältig. Ausgehend vom 100. Geburtstag von György Ligeti blicken wir auf die Nachkriegs-Avantgardisten.
Der Zweite Weltkrieg hatte Trümmer in allen Lebensbereichen hinterlassen, in den Städten, innerhalb der Familien, in der Kultur und so auch in der Musikszene. Welche Musik konnte diese Ereignisse verarbeiten oder überwinden?
Dieser Frage mussten sich die Komponisten der Nachkriegszeit stellen. Und viele fanden eigene Antworten und entwickelten eigene Kompositionsprinzipien und Wege. Wir blicken auf die Generation der Nachkriegs-Avantgardisten, ausgehend von György Ligeti, und stellen einige Komponisten vor, die das klassische Musikleben in Europa, Amerika und Asien nach 1945 geprägt haben.

György Ligeti (1923 - 2006) 

Als sich der Meisterregisseur Stanley Kubrick entschied, die ätherisch schwingenden, bedrohlich vibrierenden und endlos strömenden Klangflüsse von György Ligeti für seinen Film zu nutzen, holte er die Musik György Ligetis aus der Ecke der Avantgarde.
Der Komponist György Ligeti während seiner Dankesrede am 13.9.2003 in Frankfurt, nachdem er mit dem Theodor W. Adorno-Preis ausgezeichnet wurde.
Der Komponist György Ligeti mit 80 Jahren© picture alliance / dpa / APA / Alexander Rüsche
Auszüge aus den Werken „Lux Aeterna“, „Atmosphères“, „Aventures“ oder seinem „Requiem“ boten neuartige wie atemberaubenden Sounderkundungen, die auf ideale Weise mit den spektakulären Zukunftsbildern einer in den Tiefen des Weltraums verlorenen Menschheit korrespondierten. Auch Martin Scorsese setzte „Harmonies“ und „Lontano“ von Ligeti in seinem Film „Shutter Island“ mit Leonardo DiCaprio ein.
Damit wurde die neue Musik, die oftmals auch als verkopft und elitär empfunden wurde, mit einem Schlag populär. Und sie ist es geblieben, wie die Konzertprogramme belegen. Ligeti und Xenakis gehören inzwischen zum Repertoire wie Bach, Beethoven, Mahler und Schostakowitsch.

Iannis Xenakis (1922-2001)

Der Grieche Iannis Xenakis erlebte ganz unterschiedliche Lebensphasen. Zuerst war sein Leben von politischen Revolten geprägt, als er sich als gelernter Ingenieurswissenschaftler in Athen dem Widerstand gegen die deutschen Nazi-Besatzer anschloss. Schließlich floh er als illegaler Einwanderer nach Frankreich und arbeitete von da an als Architekt, bis er sich nach einem Zerwürfnis mit seinem Büro voll und ganz der Musik widmete.
Sein berühmtesten Werke lebten von den Erlebnissen im Widerstand, die als dichte Klangmassen hörbar werden. Dabei findet er nie zuvor gefundene Klangfarben und schreibt unaufhaltsame Glissandi, die nie im Lyrischen enden, sondern immerzu rau und schroff klingen. Zudem sprengt Xenakis das tradierte Notensystem. Viele seiner Partituren haben graphische Qualität.

Luigi Nono (1924-1990)

Luigi Nono gehörte zu den führenden seriellen Komponisten Italiens und war Vorreiter der elektronischen Musik. Seine Familie trotzte ihm ein Jurastudium ab, doch die Musik setzte sich durch. Sein Werk ist durchweg vom Engagement gegen Unterdrückung, Krieg und soziale Missstände geprägt. International fanden seine Vertonungen von Abschiedsbriefen von zum Tode verurteilten Widerstandskämpfern in "Il canto sospeso" von 1956 große Aufmerksamkeit. Lange lebte er in Darmstadt, wo er zuerst als Teilnehmer, dann als Lehrender der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik wirkte.
Oft ist die Dynamik in seiner Musik ins Extreme getrieben, vom achtfachen Pianissimo bis zum Dreifachen Forte. Gerade in den langsamen und leisen Stellen seiner Werke zwingt er seine Hörer zur Konzentration.

Luciano Berio (1925-2003)

Wer in den Nachkriegsjahren als Komponist ernst genommen werden wollte, sollte Tonalität in seinen Werken strikt unterlassen. Genau das hat der Luciano Berio nicht getan. Der Italiener demonstrierte immer wieder, dass traditionelle, volkstümliche Weisen eine kulturelle Würde ausstrahlen und benutzte immer wieder tradiertes Musikgut für seine Werke, bediente sich bei den historischen Musikstilen und stellte sie grenzenlos nebeneinander.
Damit provozierte er das Etikett "Postmoderne" für sein Schaffen.

Pierre Boulez (1925-2016)

Der Franzose Pierre Boulez war Komponist, Dirigent und Vermittler wie Organisator des Musikbetriebes. In seinem seriellen Schaffen spielen zahlenhafte Ordnungen eine große Rolle, auch wenn dem Hörer dies oft verborgen bleibt. Sein Markenzeichen: ständige Veränderung im Kompositionsprozess.
Oft tauchen verschiedene Pole in seinen Werken auf. Dann treffen ungestüme, nervöse bis aggressive Wildheit auf eine bitter-süße, lyrische Zartheit. Seine Musik wird immer wieder mit "klanglichen Kaleidoskopen" verglichen.

Hans Werner Henze (1926-2012)

Hans Werner Henze war deutscher Komponist wie Dirigent, der in Italien lebte. Er bekannte sich zum Pazifismus und solidarisierte sich mit den Studentenaufständen. Er wurde vor allem mit seinen Opern bekannt und blieb damit dem traditionellen Verständnis dieser Gattung treu. "Wir haben alle guten Gründe zur Hand, um Musik als darstellende Kunst begreifen zu dürfen", so Henze.
Sein Weg war die "Musica impura", das Heranziehen historischer Vorbilder, die er unendlich miteinander zu verquicken wusste. Henze wurde deshalb von der westlichen avantgardistischen Komponistenriege angefeindet und gemieden.

Karlheinz Stockhausen (1928-2007)

Er gilt als einer der egozentrischsten Komponisten seiner Generation, der die elektroakustische Musik vorantrieb und mit wahnwitzigen Aktionen wie der Uraufführung seiner Musik auf vier Hubschraubern immer wieder von sich Reden machte oder groß angekündigte Interviews ins Leere laufen zu ließ. Seine Radikalität bestand darin, als kompromissloser Modernist, als konsequenter Überspitzer sämtlicher aktueller musikalischer Tendenzen gelten zu wollen.
Wichtigste Arbeitsstätte war ihm das inzwischen abgewickelte WDR betriebene Studio für elektronische Musik in Köln, zu dessen Leiter er ernannt wurde. Im Laufe seines Lebens offenbarte er einen immer skurrileren Religionsansatz voller Transzendenz.

Morton Feldman (1926-1987)

Der US-Amerikaner Morton Feldman drückte der zeitgenössische Musik in Amerika seinen Stempel auf. Er entdeckte die Langsamkeit, die Stille wieder und wurde auch als Meister der "variierten Repetition“ gefeiert. Ein Klavierstudium lehnte er ab. Eine pädagogische Institution besuchte er nie wieder, um seinen ganz eigenen Weg zu suchen.
Zuerst wurde er von John Cage stark beeinflusst, dessen graphische Partituren er übernahm, um sie dann wieder zu verwerfen, denn sie räumte den Instrumentalisten zu viele Freiheiten ein. Für Feldman gehörte schon das Erschaffen einer Partitur, die er immer handschriftlich mit Tinte ausführte, zum künstlerischen Akt.

György Kurtág (*1926)

Der ungarisch-französische Komponist György Kurtág ist ein Langsamarbeiter, der ständig verwirft, neu ansetzt und wieder prüft, um am Endes eines langen Evolutionsprozesses oft überraschend kurze Werke vorzuweisen, die er immer wieder zu Zyklen zusammenfasst.
Die strenge Auslese während der Arbeit am Werk, die ständige musikalische Verdichtung, mit der Kurtág arbeitet, führen erstaunlicherweise nicht zu „Kopfgeburten“, sondern zu ausdrucksstarker Musik, hinter der Verweise auf Klänge anderer Komponisten und Anklänge an die jeweilige Musiktradition zu finden sind.

Themen-Sendungen zur Generation der Nachkriegs-Avantgardisten


Weitere Sendungen zu György Ligeti

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