Vordenker einer Politik des Mitgefühls
Der deutsch-jüdische Psychoanalytiker Arno Gruen hat sich sein Leben lang für Mitgefühl und Empathie eingesetzt. Sie zu stärken, müsse das Ziel aller Politik sein. Denn die Gesellschaft erziehe zur Herzlosigkeit, so der Autor, der als Kind mit seinen Eltern in die USA flüchten musste.
Arno Gruen:"Man könnte paradoxerweise sagen: Ich verdanke Adolf Hitler meine Freiheit. Das hört sich verrückt an. Aber das ist, was passierte."
Es sollte nicht die einzige Paradoxie in seinem Leben bleiben: Als Arno Gruen mit 13 Jahren als Flüchtling in New York eintraf, konnte er sich endlich sich von seinen Eltern lösen. Von dem Vater, mit dem er konkurrierte, und von der überbesorgten Mutter, da beide nun mit dem Überleben beschäftigt waren. Und Arno Gruen bekam Zugang zu den geistigen Quellen, die ihm vorher, im Deutschland der Nazis, verwehrt gewesen waren: In den kostenlosen, öffentlichen Bibliotheken der Stadt New York entdeckte er die Schriften Sigmund Freuds, Carl Gustav Jungs und Wilhelm Reichs.
Psychoanalytisch Erklärung für die Katastrophe des 20. Jahrhunderts
Er studierte Psychologie, eröffnete eine psychoanalytische Praxis und begann zu schreiben. Gruens Erklärung für die Katastrophe des 20. Jahrhunderts war eine psychoanalytische: Die Erziehung weg von der Empathie führt zu einfachen, polarisierenden Weltbildern, und zur Neigung, starken Personen blind zu folgen. Gruen hat diese Diagnose nie allein auf die Deutschen bezogen. Dass aber mit den Kindern in Deutschland etwas nicht stimmte, spürte er, als er selbst noch eines war. An einem Tag in den Zwanzigerjahren beschloss die Lehrerin, einen Rohrstock anzuschaffen und fragte, welcher der Schüler bereit sei, loszugehen, um ihn zu kaufen. Die Finger aller Schüler gingen in die Höhe, außer einem, dem von Arno Gruen.
Gruen: "Die meisten kamen aus Familien – wir lebten ja im Wedding –, die entweder Kommunisten waren, oder Sozialdemokraten. Und trotzdem waren die alle so gehorsam. Und sie wollten Gehorsam zeigen und meldeten sich freiwillig, den Rohrstock zu kaufen, mit dem sie alle geschlagen wurden."
Die Familie nutzt eine Urlaubsreise zur Emigration
Am 26. Mai 1923 wurde Arno Gruen in Berlin geboren, seine Eltern waren Einwanderer: der Vater polnischer Sozialist, die Mutter Russin, staatenlos. In der Volksschule erfuhr der Siebenjährige, dass er Jude war. Das hatte ihm vorher niemand gesagt. Vor dem Religionsunterricht wurde er von der Lehrerin nach Hause geschickt. Dort klärte ihn der Vater auf, ein Freidenker und Atheist. Es gibt Juden, sagte er, Christen und Muslime, Deutsche, Engländer und Franzosen. Der kleine Arno wunderte sich: Er hatte gedacht, wir wären alle Menschen. 1933 wurde seine Klasse zunächst vom sozialdemokratischen Rektor unterrichtet, der die Schüler aufrief, Hitler zu misstrauen – bis er gehen musste. Sein Nachfolger, ein Nazi, ließ die Schüler Hasslieder auswendig lernen.
"Und das Lied hatte damit zu tun, dass jüdisches Blut spritzt von unseren Messern. Und dann kam ich nach Hause und sagte zu meinem Vater, ich gehe nicht zurück. Und er nahm mich sofort aus der Schule und gab mich in eine jüdische Schule hinein."
Gruens Vater James machte sich über die Absichten der Nationalsozialisten keine Illusionen. 1936 erfuhr er, dass die Gestapo hinter ihm her war, wegen seiner Verbindungen zu Sozialisten in Polen. Diskret verkaufte die Familie einen Teil ihrer Möbel und nutzte eine Urlaubsreise zur Emigration in die Vereinigten Staaten. Zwar feierte er auf dem Weg dorthin seine Bar Mitzwa. Die Dogmen dieser und jeder anderen Religion lehnte er jedoch Zeit seines Lebens ab, für ihn war der Glaube an einen Gott nicht mehr, als die Sehnsucht der Menschen nach einem idealisierten Vater. Seit über 5000 Jahren, seit es große Zivilisationen gibt, werden Menschen seinem Befund zufolge dazu erzogen, das Menschliche im anderen, aber auch in sich selbst, zu verneinen.
"Die Erziehung zur Empathielosigkeit findet in allen Gesellschaften statt"
Gruen: "Von Kindheit an werden sie ja weggetrieben von ihren eignen Wahrnehmungen. Überhaupt empathischen Wahrnehmungen des anderen. Seinen Schmerz, seine Freude, ihren eigenen Schmerz und ihre eigene Freude. So kommt es zustande, dass wir vom Gehirn aus reagieren und nicht auf der Basis unseres Herzens und unserer empathischen Fähigkeiten."
Ich war Amerikaner, sagte Gruen über sich, aber ich wurde zu keinem. Denn auch in den USA stellte er eine seltsame Entfremdung der Menschen zu ihrer wirklichen Gefühlswelt fest: Im American Way of Life, sagte er, wird zum Verräter, wer Gefühle wie Kummer und Schmerz zeigt. Die Erziehung zur Empathielosigkeit findet in allen Gesellschaften statt, nicht nur in Diktaturen. Es schafft die Voraussetzungen für Kriege und Exzesse.
1979 übersiedelte Arno Gruen der Liebe wegen in die Schweiz. Dort behandelte er weiter Patienten – und er schrieb, auf Deutsch. "Der Verrat am Selbst", "Der Wahnsinn als Normalität", "Der Fremde in uns", entstanden. In seinen Büchern plädierte Arno Gruen dafür, realistisch zu sein – und das Fühlen ins Denken mit einzubeziehen. Die Wirklichkeit, sagte Arno Gruen, kann man nur fühlend begreifen.
Der Mut auf das Herz zu hören
Gruen: "Diese Vorstellung eines Lebens ohne Mitgefühl ist eigentlich auf Feinde angewiesen. Wir beginnen uns selbst durch das Feindbild, das wir heraufbeschwören, zu definieren. Und indem das abstrakte Denken, also das sogenannte Kognitive, das Empathische in uns ersetzt, entfernen wir uns immer mehr von jeder unmittelbar gefühlten Wirklichkeit. Und dadurch wenden wir uns eigentlich dem Untergang zu."
Arno Gruens Unwohlsein angesichts des Verrückten, das von einer Mehrheit als normal gehalten wurde, verschwand sein ganzes Leben nicht. Zu Gruens wissenschaftlicher Leistung gehörte es, nachgewiesen zu haben, dass auch autoritätshörige Gewalttäter über Mitgefühl verfügen, das gestärkt werden kann. Und dass in jeder Gesellschaft der Anteil der zur Empathie befähigten gleich groß ist, er liegt bei etwa 20 Prozent. Diejenigen zu befähigen, authentisch von Erlittenem und Erlebtem zu erzählen, und die Mehrheit der Schweigenden und Schwankenden zum Mitfühlen zu ermuntern, muss Arno Gruen zufolge das Ziel aller Politik sein.
Gruen: "Das Hoffnungsvolle ist ja, dass diejenigen, die mit ihrer Empathie noch in Verbindung stehen, mehr Mut haben, das auszudrücken. Wenn andere sie ermahnen, das gibt denen Mut, auf ihr Herz zu hören, und nicht auf das Abstrakte."