Tänzer am Pult und Virtuose des Taktstocks
Gennadi Roschdestwenski galt als Dirigent der alten Schule. Jedoch wuchs sein Ruhm in Deutschland nie so sehr, wie es seiner musikalischen Bedeutung entsprochen hätte. Nun starb er 87-jährig in Moskau.
Der russische Dirigent Gennadij Roschdestwenskij ist tot. Er starb im Alter von 87 Jahren in Moskau.
Roschdestwenski wuchs inmitten einer enormen Kultur auf – zu Hoch-Zeiten der sowjetischen Klassik. Seine Eltern waren Musiker, bei seinem Vater Nikolaj Anosow nahm der unge Gennadi Unterricht. Den (für westliche Zungen kaum zu bewältigenden) Familiennamen bekam er von seiner Mutter, damit keine Verwechslung zwischen Vater und Sohn aufkommt, so das Anliegen dahinter. Mit 20 debütierte er als Ballettdirigent am Bolschoj-Theater in Moskau. Das war viele Jahre eine Fronarbeit, denn die Choreografen interessierten sich nicht für die Musik, so wie sie sich die Komponisten ausgedacht hatten. Seine erste "notengetreue" Aufführung eines Balletts konnte Roschdestwenskij erst in London 1985 dirigieren.
Den politischen Subtext der Musik gelesen
Die Gegenwartsmusik hatte in der Sowjetunion eine Bedeutung, wie man sie sich außerhalb Osteuropas kaum vorstellen kann. Existentiell waren die Werke, die Dmitrij Schostakowitsch und Sergej Prokofjew, aber auch ihre jüngeren Zeitgenossen wie Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina und Edison Denissow schrieben. Gerade für die damaligen Newcomer hat sich Roschdestwenskij eingesetzt. Das technische Niveau der Musik, der Interpretation wie der Kreation, war extrem hoch, ebenso die Erwartungen des Publikums. Und das ließ sich außerhalb der Sowjetunion nie so richtig nachvollziehen, nicht einmal in den osteuropäischen Ländern.
Bei einem Konzert des Konzerthausorchesters Berlin im Jahr 2006 äußerte sich Roschdestwenski in einem Gespräch über die Frage "Wie versteht die Welt die Musik der großen sowjetischen Komponisten, Schostakowitsch vor allem, der weltweit gern und häufig gespielt wird mit seinen kolossalen Sinfonien?". Er meinte, im Westen könne man zwar die musikalische Qualität dieser Werke erkennen, aber nicht den sozialen und politischen Subtext nachvollziehen.
Keine Lust mehr zum Proben
Gern erzählte er auch eine Anekdote zu diesem Thema. Beim Cleveland Orchestra in den USA probte er in den 1970er Jahren die 4. Sinfonie von Schostakowitsch. Bei einer bizarr-trockenen Schlagzeugstelle mit Kastagnetten, Trommel und Woodblock hätten die Musiker gelacht. Das irritierte ihn und er erklärte den Amerikanern, dass das kein pittoreskes Pferdehufgetrappel sei, sondern dass ihn diese Klänge an das Klopfen auf Heizungsrohre erinnerten. Damit kommunizierten vor allem die politischen Gefangenen in der Sowjetunion miteinander. "Aber die können doch miteinander telefonieren", wandten die Musiker des Cleveland Orchestra ein.
Er hat es nie aufgegeben, die große sowjetische Musik im Westen zu dirigieren. Andererseits hat er auch viele grandiose Aufführungen von Werken klassischer westlicher Komponisten geleitet. Sein Ruhm in Deutschland ist sicher nicht so groß, wie es seiner musikalischen Bedeutung entsprochen hätte. Das mag auch daran liegen, dass er seit den 90er Jahren keine rechte Lust mehr zum Proben hatte. Viele Orchester wollten daraufhin mit ihm nicht mehr arbeiten.
Mehr Diktator als Kollege
Roschdestwenski war ein Dirigent der alten Schule, mehr Diktator als Kollege, aber ein wirklicher Virtuose des Taktstocks, ein grandioser Techniker, auch ein Clown und Schauspieler, nicht zuletzt ein Tänzer am Pult. Sein Äußeres hat das befördert, er hatte ein lustiges Gesicht mit einer recht großen Nase, aber hinter jedem Spaß steckte ein doppelter Boden - wie in der Musik seiner Lieblingskomponisten. Beim Dirigieren wahrte Roschdestwenski immer eine Balance zwischen Spaß und Ernst, zwischen Chaos und Ordnung, Freiheit und Disziplin. Das entsprach dem Lavieren, das er in der sowjetischen Kulturpolitik leisten musste, um durchzusetzen, was ihm wichtig war.
Roschdestwenski gelang vieles, was andere nicht erreichten. Zum Beispiel konnte er kurz vor Schostakowitschs Tod dessen satirische Oper "Die Nase" öffentlich rehabilitieren. Er habe nicht gelitten, er habe alle Repressionen überlebt, sagte Gennadij Roschdestwenskij immer wieder, aber er habe viel gesehen und miterlebt. Er konnte das allerbeste daraus machen, aus seinem Leben und aus seiner musikalischen Hochbegabung.