"Ich war immer ein überzeugter Europäer"
Ein Mann wie ein Denkmal: Helmut Kohl wird in die Geschichtsbücher als "Kanzler der Einheit" eingehen. Nach seiner Abwahl 1998 bekam das Denkmal Kratzer durch die Parteispendenaffäre. Sein Vermächtnis aber bleibt das konsequente Eintreten für die europäische Einigung.
Kohl: "Ich finde, wenn ich mein Leben betrachte, habe ich mehr Grund zur Dankbarkeit. Mein Leben, das war ein engagiertes Leben, ereignisreich, erfüllt, ein Leben mit viel Höhen und auch mit sehr viel Tiefen. Ein Leben mit viel Verantwortung und viel Gestaltungsmöglichkeiten. Also ein Leben, von dem ich sagen darf: Es hat einen Sinn gehabt." (Applaus)
Er hat am Ende noch einmal seinen Frieden gemacht: mit der Welt, mit seiner Partei und – das bereitete ihm am wenigsten Schwierigkeit – mit sich selbst. Die öffentlichen Auftritte in den letzten Jahren – bei Ehrungen oder Buchvorstellungen – mündeten immer wieder in emotionale Bekundungen der Dankbarkeit und Versöhnlichkeit. Orte und Anlässe waren stets sorgfältig ausgewählt. Oft stand Kai Diekmann, Freund, Trauzeuge und Chefredakteur der "Bild"-Zeitung, im Hintergrund oder am Rande der Bühne.
Noch zu Lebzeiten wurde Helmut Kohl als Denkmal seiner selbst inszeniert.
Die letzten Erscheinungen des gelähmten Altkanzlers entfalteten ihre Wirkung auch durch den beklemmenden Gegensatz zu der hünenhaften Gestalt, mit der Helmut Kohl – der Kanzler der Einheit, der große Europäer, der Machtmensch und Patriarch der CDU – der Welt noch vor Augen stand:
Kohl: "Wenn Sie meine Statur haben und noch dazu meine Art, so zu sein, wie ich bin, dass das auf andere dominierend wirken muss, das war Zeit meines Lebens so."
Körperliche Physis und politische Größe
2003, fünf Jahre bevor ein schwerer Sturz ihn selbst in einen Rollstuhl zwingen sollte, sinnierte Kohl in einem mehrstündigen Fernsehinterview mit den Journalisten Stephan Lamby und Michael Rutz über die Frage, ob er im Verhältnis zu Wolfgang Schäuble, seinem einstigen Weggefährten und Nachfolger im Parteivorsitz, Fehler gemacht habe:
Kohl: "Ich kann mir vorstellen, ich habe ja … was ich hier sage, muss ich also sozusagen mir selber denken, weil ich ja die eigene Erfahrung nicht habe, dass meine körperliche Präsenz gelegentlich negative Folgen hatte. Er saß in diesem Wägelchen und war gehemmt. Und der andere schien zumindest kraftstrotzend zu sein."
Körperliche Physis und die Zuschreibung politischer Größe waren in der öffentlichen Wahrnehmung ebenso wie in der Selbstwahrnehmung Helmut Kohls immer eng miteinander verbunden.
"Ich will Kanzler werden. Ich will die Wahl gewinnen und will Kanzler werden!"
1976 trat Kohl erstmals als Kanzlerkandidat an und erzielte bei der Bundestagswahl mit 48,6 Prozent das zweitbeste Ergebnis in der Geschichte der Unionsparteien. Zugleich arbeiteten die politischen Gegner am Bild des tumben Provinzpolitikers, der auf der großen Bühne der Bonner Politik nicht bestehen werde.
Schmidt: "Ich kann nur sagen, er muss noch sehr viel an fachlicher Politik dazu lernen. Ob das Außenpolitik ist oder Wirtschaftspolitik oder Finanzpolitik oder Sozialpolitik. Einstweilen bleibt er mehr im Allgemeinen....",
...ließ sich der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt herab. Und wieder kam auch der Körper ins Spiel. Kohl wurde zur physisch und intellektuell ungelenken "Birne". Die Karikatur überlagerte das Bild, das sich zuvor jüngere Unionsanhänger und eine interessiert nach Mainz blickende Öffentlichkeit von dem aufstrebenden Ministerpräsidenten gemacht hatte.
Der damals Anfang dreißigjährige Politikwissenschaftler Horst Teltschik wechselte 1972 aus der Bonner Parteizentrale als Referent in die Mainzer Staatskanzlei von Helmut Kohl:
Teltschik: "Ja, Kohl war - für meine Generation damals, Anfang der 70er-Jahre - schon eine politische Persönlichkeit, die wir für interessant empfanden. Er hatte ein Spitzenkabinett in Rheinland-Pfalz, die Namen sind ja bekannt: Geißler, Vogel. Er holte Leute wie Biedenkopf, Weizsäcker in die Politik. Er galt als ein Ministerpräsident, der deutschlandweit das beste Kabinett hatte. Er hat in Rheinland-Pfalz Strukturreformen durchgeführt, eine Verwaltungsreform, eine Schulreform, gegen erhebliche Widerstände."
Akademische Exzellenz, Gestaltungswille, Verwurzelung in der katholischen Soziallehre oder dem politischen Protestantismus waren Kriterien, nach denen Kohl an Universitäten, in Verwaltungen und im persönlichen Umfeld nach den Talenten suchte, die er in seinen Regierungsmannschaften um sich scharte.
Biedenkopf war ein an den Spitzenuniversitäten in Deutschland und den USA erfolgreicher Jurist gewesen. Geißler hatte Verstand und Diskussionslust als Novize im Jesuitenorden geschärft. Rita Süssmuth leitete ein Forschungsinstitut zur Rolle von Frauen in der Gesellschaft, bevor Kohl sie in sein Bundeskabinett holte.
Süssmuth: "Ich habe ihn immer als beides erlebt. Als jemand, der durchaus wusste, wo Lücken waren, wo etwas nachzuholen war. Also, er hat mit seinen Generalsekretären dann, Biedenkopf, Geißler, wirklich sich geöffnet für das, was in der CDU dazugelernt werden musste. Also, wenn man ihm das abspricht, wird man ihm wirklich nicht gerecht."
Von seinen Kritikern aber wurde Kohl mit dem Regierungsantritt 1982 der Versuch eines konservativen Rollbacks unterstellt. Der Begriff der "geistig moralischen Wende", der schnell als Beleg dafür galt, wurde Kohl indes - wie viele seiner Wortwendungen – nicht ganz korrekt zugeschrieben:
Kohl:"Wir werden eine Wiederbelebung unserer Wirtschaft, eine Wiederbelebung unseres Leistungswillens, unserer Leistungskraft, die notwendige Opferbereitschaft – etwa um den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen – nur dann in der Tat bewegen können, wenn eine geistig-moralische Herausforderung erkannt und angenommen wird, wenn wir also wissen, dass diejenigen, die die Bundesrepublik gegründet haben – Adenauer, Erhardt und Kurt Schumacher, um mal die drei wichtigsten Repräsentanten zu nennen – wenn Sie diese Generation betrachten, dann hatte sie einen geistig-moralischen Antrieb bei der Wiederbegründung der Stunde Null unseres Landes. Ein Stück dieses Antriebs ist uns verloren gegangen. Wir reden häufiger über das Ich als über das notwendige Wir. Und sie können die ökonomischen Dinge nur in Ordnung bringen, wenn jeder einsieht, dass er nicht auf Kosten der Allgemeinheit leben darf, sondern seinen Beitrag leisten muss, wenn man nicht mehr über die Rechte redet, sondern auch über die Pflichten."
Rekordergebnis bei der Bundestagswahl 1983
Die Bundestagswahl 1983 gewinnt Kohl mit einem Rekordergebnis von fast 49 Prozent. Als Kanzler festigt er seine Macht an der Spitze der Partei, die er bis in die tiefsten Gliederungen kennt und steuert: Per Telefon aus dem Kanzleramt – und wie sich später herausstellt auch mit "Bimbes", mit Geld - werden Personalmanöver dirigiert, in Bonn genauso wie in den Landes- und Kreisverbänden.
Kohl legt immer Wert darauf, dass er dabei nie zum Eigennutz, sondern immer nur im Interesse der Partei gehandelt habe. Er allerdings bleibt das Zentrum des dicht gewobenen Beziehungsgeflechts aus Seilschaften, Abhängigkeiten und Rivalitäten.
Rühe: "Das war, glaube ich, immer eine große Stärke von Helmut Kohl, auch Leute reingebracht zu haben, die vielleicht irgendwann später auch mal gesagt haben, was der kann, kann ich auch, und dann zum Rivalen vielleicht geworden sind, Biedenkopf und Geißler und Weizsäcker und andere. Aber er hat es trotzdem gemacht. Das gibt es heute viel zu wenig."
Erinnert sich Kohls einstiger Generalsekretär und Verteidigungsminister Volker Rühe. Und auch Rita Süssmuth bekommt die Macht des Vorsitzenden zu spüren, wenn Kohl die Interessen der Partei berührt sieht.
Süssmuth: "Die Auseinandersetzungen, die ich mit Helmut Kohl hatte, waren manchmal gar nicht inhaltliche, sondern verfahrensmäßige. Wenn ich die Oder-Neiße-Grenze anerkannte, dann gab es einen Riesenknall in der Vorstellung, die macht da was, was meiner Partei schadet und Machtverlust bedeutet!"
In der zweiten Wahlperiode macht sich auch in den Reihen der einst von Kohl geförderten Nachwuchspolitiker und Quereinsteiger Überdruss breit. Im September 1989 versuchen die innerparteilichen Gegner auf einem Parteitag in Bremen eine Revolte. Einer der Anführer der gescheiterten Freunde war Lothar Späth.
Späth: "So ist es, das Ding habe ich verloren, das ist keine Frage, und das gehört auch zur Politik. Ich habe es aber auch für richtiger gehalten, zunächst mal diese Diskussion zu führen. Ich habe zu spät wahrscheinlich erkannt, dass der Helmut Kohl, das hätte ich schon merken müssen rein fachlich, dass er die Mehrheit der Partei eben ganz stark gebunden hat durch die Art, wie er mit der Partei umgegangen ist. Der kannte jeden in der Partei persönlich, der hatte für jeden eine Geschichte, und da war er einfach unschlagbar. Und außerdem hat er, als er gemerkt hat, dass da Unruhe entsteht, hat er gesagt: Ich nehme den Kampf auf, und so ist das halt gelaufen."
Kohl erkennt die historische Chance der Einheit
Dennoch: Im Herbst 1989 sind Risse im Machtgefüge Kohls sichtbar. Innenpolitisch angeschlagen ist der Kanzler am 9. November 1989 zu politischen Gesprächen in Warschau. An seiner Seite der inzwischen zum außenpolitischer Berater aufgestiegene Horst Teltschik. Es ist das ausgehende 20. Jahrhundert, die Epoche vor der Verbreitung von Mobiltelefonen und Kurznachrichtendiensten im Internet.
Teltschik: "Das Problem war: Wie erfahren wir etwas? Weil: Sie konnten damals aus Warschauer-Pakt-Staaten, also auch aus Warschau heraus, nicht einfach in Bonn anrufen. Wir hatten ein Standgerät dabei, einen Holzkasten mit einer Kurbel, dann mussten wir kurbeln, um eine Standleitung zum Lagezentrum im Bundeskanzleramt zu bekommen. Und dort hat man uns dann weiter verbunden. Und da haben wir gehört, dass der Bundestag stehend die Nationalhymne gesungen habe und dass sich in Berlin etwas abzeichne."
Am Tag nach dem Mauerfall trifft Kohl in Berlin ein. Vor dem Rathaus Schöneberg steht er neben Willy Brandt und dem regierenden Bürgermeister Walter Momper – und wird von den Menschen auf dem John F. Kennedy Platz ausgepfiffen.
Die ersten Bilder Kohls in einer neuen Epoche passen zum längst fest etablierten Klischee des unbeholfenen Provinzpolitikers, der auf eine für ihn zu große Bühne der Weltpolitik gestellt wird. Stolpernd geht Kohl die ersten Schritte zur historischen Größe als Kanzler der Einheit.
Kohl (über Pfiffen): "Eine Botschaft, die sagt, dass in dieser glücklichen, aber auch schwierigen Stunde in der Geschichte unseres Volkes, es wichtig ist, besonnen zu bleiben und klug zu handeln."
Innerhalb von Tagen aber erkennt und ergreift Kohl die historischen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich ihm bieten. Am 19. Dezember 1989 steht er erneut vor einer unüberschaubaren Menschenmenge, dieses Mal in Dresden:
"Der Vorplatz vor der Frauenkirche, wo der Bundeskanzler in wenigen Minuten erwartet wird, ist gesäumt von Tausenden von Menschen. Die meisten von ihnen führen Fahnen mit sich, schwarz-rot-goldene Fahnen ohne das DDR-Symbol von Hammer und Zirkel."
Kohl: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine lieben jungen Freunde, liebe Landsleute. Das Erste, was ich Ihnen allen zurufen will, ist ein herzlicher Gruß all ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik Deutschland."
Die Einheit als persönliches Beziehungsnetzwerk
Kohl treibt die Deutsche Einheit auf dem internationalen Parkett so voran, wie er sich zuvor auch an die Spitze seiner Partei gesetzt hat: als politischen Prozess in einem höchstpersönlichen Beziehungsnetzwerk. Vertrauen, freundschaftliche Gesten, sorgfältig gewählte Zeichen der wechselseitigen Wertschätzung sind das Kapital, mit dem er vor allem den einstigen Siegermächten und den Nachbarländern Deutschlands die Zustimmung zur Vereinigung abringt. Horst Teltschik erinnert sich:
Teltschik:"Ich habe an beispielsweise über 70 Gesprächen Helmut Kohls mit Präsident Mitterand teilgenommen. Es gab fast kein Gespräch, wo die beiden nicht irgendeinen historischen Bezug diskutiert haben. Gorbatschow, der sehr emotional ist, der Helmut Kohl bei seinem Besuch 1988 in Moskau erzählt hat, dass seine Mutter gerade, die in Südrussland lebe, Geburtstag gehabt hätte, dass sie jetzt alt sei, dass der Vater nicht mehr lebe, dass sie dort ja deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg erlebt haben und so weiter, und sehr bewegend von seiner Mutter und sehr mitfühlend über seine Mutter gesprochen hat und Helmut Kohl mir anschließend sofort den Auftrag gab, ein Geschenk für die Mutter von Gorbatschow zu beschaffen, was ihm Gorbatschow nicht vergessen hat."
Den Deutschen – so wurde ihm später oft vorgeworfen – macht er die Einheit mit lockenden, aber realitätsfernen Versprechungen schmackhaft. Doch das viel zitierte und instrumentalisierte Wort von den "blühenden Landschaften" hat im Rückblick und im vollen Zusammenhang auch andere Nuancen:
Kohl: "Meine Damen und Herren, ich bin mir bewusst, dass der Weg, den wir jetzt einschlagen, schwierig sein wird – und das wissen auch die Menschen in der DDR. Aber sie sagen uns auch allen missverständlich 'Der Staatsvertrag muss kommen'. Nur die rasche Verwirklichung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bietet die Chance, dass Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder blühende Landschaften sein werden, in denen es sich zu leben und arbeiten lohnt."
Nüchtern wie immer denkt Kohl auch bei der Wiedervereinigung, wenn es um die eigene Partei geht. Kühl kalkulierend verleibt er der Union die Ost-CDU als einstige Blockpartei samt Mitgliedern und Vermögen ein. Und es dauert nicht lange, bis er auch im Osten politische Talente entdeckt und an sich bindet.
Merkel: "Ich bin dann mit klopfendem Herzen dorthin gegangen, hatte versucht, mich gut vorzubereiten – und er hat mich dann eigentlich nur gefragt, wie ich mit Frauen auskomme. Und da habe ich ihm erzählt, dass ich mit meiner Schwester und meiner Mutter und auch Freundinnen immer sehr gut auskomme. Und dann sagt er: 'Das reicht'. Und später wurde ich dann Frauenministerin."
Erst Jahre später, als ihm selbst im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 das Ende seiner Ära klar vor Augen steht, lösen sich auch die Beziehungsnetze auf, die Kohl um sich gewoben hat. Am härtesten wird der Bruch mit dem, den er noch mit letzter Kraft zum Nachfolger küren wollte.
Kohl:"Ich habe zu jedem Zeitpunkt gesagt, dass ich Wolfgang Schäuble für eine unserer größten Begabungen halte. Und ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, wen ich mir als Nachfolger wünsche."
Doch für Wolfgang Schäuble war schon die überraschende und mit niemandem abgestimmte Ausrufung zum Nachfolger das vergiftete Anzeichen für den Verfall von Macht, Kontrolle und über Jahre aufgebauten Vertrauensverhältnissen.
Schäuble: "Wenn man über seine Nachfolge redet, hilft es den Chancen für die eigene Wahl nicht. Und das Ergebnis haben wir ja '98 gesehen."
Kohl taumelt durch die Spendenaffäre
Der endgültige Absturz folgt ein Jahr nach dem Machtwechsel zu Rot-Grün.
Kohl: "Diese Spender haben mir diese Summe anvertraut unter der Voraussetzung, dass die Spender nicht genannt werden. Ich habe nicht die Absicht, deren Namen zu nennen, weil ich mein Wort gegeben habe."
Berlin, das im Herbst 1999 nach dem Umzug von Parlament und Regierung gerade zur Hauptstadt des vereinten Landes geworden war, wird zum Schauplatz eines politischen und persönlichen Dramas.
Kohl: "Haben Sie denn keine anderen Fragen? Fragen Sie doch wenigstens mal richtig! Jetzt bleib ich bei Ihnen stehen und jetzt sind Sie nicht mal in der Lage 'ne richtige Frage zu stellen!"
Wie ein schwer verwundetes und umso bissigeres Raubtier taumelt Kohl in der Parteispendenaffäre durch das Fegefeuer der Untersuchungsausschüsse und Medien.
Kohl:"Das wissen Sie doch, was das heißt. Das hat noch mit Journalismus nichts zu tun! Hören Sie doch auf!"
Journalist: "Wofür haben Sie denn das Geld bekommen?"
Kohl: "Damit ich ihr Gesicht betrachte, das reicht mir."
Es ist Angela Merkel, die mit einem offenen Brief in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" den Schnitt zwischen Kohl und der eigenen Partei vollzieht - und damit zugleich beweist, dass Kohl selbst die Frau in der CDU herangezogen hat, die ihm, was politischen Instinkt, Machtwillen und Zähigkeit angeht, mindestens ebenbürtig ist.
Merkel:"Das war für uns eine sehr schwierige Zeit und natürlich war das alles nicht einfach. Aber ich glaube, es war notwendig, und die CDU kann deshalb auch mit diesem Zeitpunkt umgehen und trotzdem wieder ein gutes Verhältnis zu Helmut Kohl haben."
Europa als Lebensthema
Dass auch die CDU und auch weite Teile der Öffentlichkeit am Ende tatsächlich noch einmal ihren Frieden mit Kohl geschlossen haben, liegt an dem Thema, das ihn wie kein anderes bewegt hat: Europa. Das Erleben des Kriegsendes als 15-jähriger Jugendlicher, der Tod des älteren Bruders, der in letzten Kriegswochen bei einem Fliegerangriff umgekommen war, blieben ein Leben lang die Leitmotive seiner Politik.
Über diese autobiografischen Erfahrungen stellte er auch immer den gemeinsamen, moralischen Grundakkord mit seinen außenpolitischen Weggefährten wie Francois Mitterand, Michael Gorbatschow, George Bush oder Shimon Peres her.
Kohl: "Viele Menschen befürchten ein zentralistisches Europa. Sie fragen sogar 'Werden wir in einem solchen Europa noch Deutsche, Italiener, Belgier oder Franzosen sein?'. Die Antwort des Vertrages ist eindeutig: Wir bleiben fest in unserer Heimatregion verwurzelt, wir bleiben Deutsche, Italiener und Franzosen und wir sind zugleich Europäer."
Vereinigung Deutschlands, Einheit Europas und die Einführung des Euro waren für ihn Friedensprojekte, die er mit der Vorstellung eines europäischen Bundestaates verband. Der Historiker und Kohl-Biograf Hans-Peter Schwarz sieht darin eine visionäre Kraft, wie sie in der Europapolitik der Gegenwart kaum mehr zu finden ist.
Schwarz: "Im Unterschied zu Adenauer war Kohl ein 150-prozentiger Föderalist. Kohl wollte einen Bundesstaat, das war seine Vision, ist es wahrscheinlich bis heute. Er ist zwar Enkel Adenauers und hat den auch so interpretiert, aber er war ein Föderalist, und zwar im Sinne von Walter Hallstein, der dieses berühmte Buch geschrieben hat, 'Der unvollendete Bundesstaat', wo er im Grunde dann in den europäischen Institutionen, wie sie schon bestanden – der Kommission, die ja als Exekutive konzipiert war, dem Parlament, das eigentlich eine Versammlung war, noch nicht direkt gewählt damals, dem Rat und dem EuGH –, hat er im Sinn des deutschen Föderalismus ein Konzept eines Bundesstaates entwickelt. Und das hat Kohl übernommen."
Am Ende seines Lebens scheint es, als verblasse im krisengeplagten Europa gerade diese Vision eines sich nach dem Vorbild des deutschen oder amerikanischen Föderalismus immer enger zusammenschließenden Europas. Kohl hat das bis zuletzt mit Sorge und zugleich ungebrochener Überzeugung wahrgenommen.
Bei seinen letzten Auftritten fühlte man sich an den späten Papst Johannes Paul II. erinnert, der dem offen zur Schau gestellten Verfall des eigenen Körpers die ungebrochene Kraft des Glaubens entgegensetzte. Das letzte Credo Helmut Kohls war ein politisches Glaubensbekenntnis, gerichtet an die Nachgeborenen in einer Zeit, in der Europa um seine Gestalt und Zukunft ringt.
Kohl: "Ich habe nie aufgehört, an Europa zu glauben. Ich war immer ein überzeugter Europäer."