Ein Leben voller Umbrüche
Von der kolonialistischen Ausbeutung Afrikas über die Asymmetrien in der Geschlechterordnung bis zum Raubbau an den Ressourcen des Planeten - Mit ihrem Werk hat Doris Doris Lessing alle Krisen, Irrtümer und Katastrophen des 20. Jahrhunderts thematisiert.
Doris Lessing wurde als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers und einer schottischen Krankenschwester 1919 im Iran geboren und wuchs ab 1924 auf einer Farm in der britischen Kolonie Rhodesien (heute: Zimbabwe) auf, wo sich der Vater ziemlich erfolglos als Maisfarmer betätigte. Eine rebellische Tochter, im Dauerkrieg mit ihrer dominanten Mutter und ihrem schwachen Vater, floh sie mit 14 von zu Hause, schlug sich in der Hauptstadt Salisbury (dem heutigen Harare) mit diversen Jobs wie Kindermädchen, Haushälterin oder Schreibkraft durch und stürzte sich mit 19 in ihre erste Ehe, mit einem Kolonialbeamten, von dem sie zwei Kinder bekam. Eine zweite Ehe, mit dem deutschen Kommunisten Gottfried Lessing, einem Onkel Gregor Gysis, folgte (und scheiterte) bald darauf. (Gespräch mit Gregor Gysi zum Tod vom Doris Lessing)
Als zweimal geschiedene Frau von 30 Jahren, ihren jüngsten Sohn Peter an der Hand und zwei unveröffentlichte Romane im Gepäck, übersiedelte sie 1949 nach London, entschlossen, fortan als Schriftstellerin zu leben. Den Namen Lessing behielt sie bei. Sie trat der Kommunistischen Partei bei und begann, ihre stürmische Kolonialjugend in Rhodesien literarisch auszuschöpfen. Tatsächlich hat Doris Lessing die Erlebnisse ihrer ersten 30 Jahre ihr ganzes Autorenleben lang immer wieder aufs Neue auf- und umgeschrieben. In den späteren Varianten hat sie ihre Lebensthemen allerdings merkbar verwässert und sentimentalisiert. Eine schwächlich-moralisierende, sozial-ethische Larmoyanz machte sich darin breit. Mit der einprägsamen Kraft und Originalität ihres Frühwerks konnten es die späteren Aufgüsse nicht mehr aufnehmen. Alle ihre Hauptwerke entstanden in den 1950er und 1960er Jahren.
Schlüsseltext der Frauenbewegung
Diese ersten 30 Lebensjahre waren ein atemloses Taumeln durch ein Chaos ständig umgestürzter Lebens- und Liebespläne – ein Rohstoff von solch unerschöpflicher Üppigkeit, Dichte, Fülle und Buntheit, dass die Schriftstellerin Doris Lessing lebenslang davon zehren konnte. Das erste Ergebnis ist eine stark autobiografische fünfteilige Roman-Serie mit dem Obertitel "Kinder der Gewalt". Diese Pentalogie ist über lange Strecken ein weiblicher Bildungs- und Entwicklungsroman, weitet sich aber schließlich zum Epochen-Fresko und Gesellschaftspanorama und wurde in den 1960er und 1970er Jahren als ein Schlüsseltext der Frauenbewegung gefeiert.
Thema des Fünf-Teilers ist die Selbstfindung eines Mädchens aus den Kolonien, das den Sprung in die politische Welt wagt und sich in den grauen und harten Nachkriegsjahren in der Weltmetropole London zu behaupten sucht. Ihrer literarischen Doppelgängerin in diesem Roman-Zyklus gibt Doris Lessing den sprechenden Namen Martha Quest – ihr fiktives Alter Ego, eine Frau auf der Suche, die genau wie ihre Autorin geprägt ist von quälender Unruhe, panischem Fluchtbedürfnis und nervöser Abneigung gegen immer die Stelle, an der sie sich gerade befindet. Wie Doris Lessing selbst durcheilt auch ihre Romanheldin im Schnelldurchlauf binnen kürzester Zeit mehrere Frauenleben, zwei Zufallsehen und drei Mutterschaften und politisiert sich in einer Gruppe radikaler Linker und Emigranten, die es vor dem Krieg in Europa nach Salisbury verschlagen hat. Diese kommunistische Zelle öffnet ihr die Augen über Kolonialismus und Rassentrennung, aber auch über die Intrigen und die zerstörerische Gruppendynamik in dieser kleinen KP-Zelle in einem entlegenen Winkel des British Empire.
Lessings umfangreiches literarisches Werk umfasst mehr als zwei Dutzend Romane, dazu zahlreiche Erzählungen und Essays und wurde 2007 - deutlich verspätet - mit dem Nobelpreis geadelt. Wobei der Nobelpreis inhaltlich und thematisch, nicht aber literarisch begründet wurde. Verliehen wurde ihr die Ausszeichnung für ihre Stoffe, nicht für ihre stilistische Brillanz: für ein Werk, das alle Krisen, Irrtümer und Katastrophen des 20. Jahrhunderts thematisiert und moralische Fundamentalkritik an allen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen übt, von der kolonialistischen Ausbeutung Afrikas über die Asymmetrien in der Geschlechterordnung bis zum Raubbau an den Ressourcen des Planeten.
Gemeinsam ist ihren Werken der furchtlose Zugriff (bei nachlassender sprachlicher und gestalterischer Kraft) auf die großen Probleme und gewichtigen Themen des 20. Jahrhunderts: Kolonialismus und Entkolonialisierung am Beispiel Afrikas, Kommunismus, Rassismus, soziale Ungerechtigkeit, Feminismus, Geschlechterproblematik, Evolution und Ökologie. Sie zieht die literarische Summe aus den großen politischen Bewegungen des Jahrhunderts.
Sie schreckte auch vor dem Intergalaktischen nicht zurück: In ihrer fünfteiligen Romanserie "Canopus in Argos" (1979-83) fantasierte sie - in Science-Fiction-Form und deutlich inspiriert von persischer Sufi-Mystik - über männliche Militanz und weibliche Zivilisation, Zwangsregimes und freiheitliche Gesellschaftsentwürfe in fernen Äonen - eine Fortschreibung von Erfahrungen mit Faschismus, Stalinismus und feministischen Gegenentwürfen in eine ferne planetarische Zukunft. Ihre Versuche, unter dem Pseudonym "Jane Somers" Frauenliteratur zu schreiben, stellte sie wegen Erfolglosigkeit rasch wieder ein und publizierte lieber wieder unter ihrem eingeführten Markennamen Doris Lessing.
Das große Ganze
Erkennbar ist bei Lessing ein Wandel im Schreibstil: Bis in die 60er, 70er Jahre schrieb sie psychologisch-realistische Romane, nach dem Muster der gesellschaftskritischen bürgerlichen Romane des 19. Jahrhunderts, dazu Bildungsromane und Entwicklungsromane. Danach weitete sich ihr Erzähl-Ehrgeiz ins Globale, ins Planetarische, ins Kosmische. Seither ging es ihr meistens ums große Ganze - um das Schicksal des Planeten Erde aus kosmischer Sicht. Ihre Genres wurden mystische Zukunftsvisionen, Science Fiction, Weltuntergangs- und Weltrettungsparabeln, Zivilisationskritik, die ins Übermorgen oder ins Vorgestern projiziert wird. Der späte Roman "Die Kluft" (2007) beispielsweise ist ein Ursprungsmythos der Menschheit, eine rückwärtsgewandte spekulative Evolutions-Fantasy über prähistorische Geschlechterkriege zwischen Ur-Frauen und Ur-Männern, wie sie sich kein Charles Darwin hätte träumen lassen.
Als Doris Lessings Hauptwerk gilt nach wie vor der Roman "Das goldene Notizbuch" (1962), in den die problematischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend ebenso eingingen wie die schwierigen Anfangsjahre in London, mit allen Gefühlen der Entwurzelung, Entfremdung und Vereinsamung. Stark spürbar ist in diesem Roman auch der Einfluss der Anti-Psychiatrie des schottischen Psychiaters Ronald D. Laing. In keinem anderen ihrer Bücher hat sich Lessing intensiver mit der Krise des Selbstverlusts auseinandergesetzt, die ihre ersten Londoner Jahre prägte.
Ihre Doppelgänger-Figur in diesem Roman ist die Schriftstellerin Anna Wulf; sie durchleidet stellvertretend eine dreifache Krise - erotisch, politisch, schöpferisch. Von ihrem Geliebten verlassen, tritt sie aus der Kommunistischen Partei aus und verfällt in eine qualvolle Schreibhemmung. Das innere Chaos ist nicht mehr zu bändigen, der emotionale Zusammenbruch ist nicht aufzuhalten. "Das goldene Notizbuch" ist unter vielem anderen auch die Erkundung einer therapeutischen Reise in den Wahnsinn. Die Grenzen der Normalität werden erforscht, Verrücktheit wird neu definiert und ins Positive umgedeutet und ausgeweitet.
London hat Doris Lessing durchgerüttelt, doch sie ist aus der Krise als ein anderer Mensch hervorgegangen. Der Zusammenbruch war letztlich eine positive Erfahrung, ein Weg der Selbstheilung, durch die sie in ein neues Lebensmuster geschüttelt wurde. Alle Werke danach waren nur noch Varianten eines starken, lebensprägenden Musters.