Historiker Hans Mommsen ist tot
Er war einer der bedeutendsten Historiker der Bundesrepublik: Hans Mommsen prägte mit seinen Arbeiten die Diskussionen über den Nationalsozialismus. Nun ist der Urenkel des Literaturnobelpreisträgers Theodor Mommsen im Alter von 85 Jahren gestorben.
Hans Mommsen war einer der führenden Köpfe jener Historikergeneration, die den deutschnational gefärbten Nachkriegskonsens in der Zunft aufbrachen und neue Wege gingen.
"Wir suchten nach neuen Wertgrundlagen, wussten, dass wir nicht so weitermachen konnten wie die Alten, weil die natürlich irgendwo unglaubwürdig waren und auch nur alte Ideen fortsetzten, und ich glaube, dass es dann auch relativ die Symbiose mit der amerikanischen Wissenschaft war, die eine Veränderung geschaffen hat."
Hitler und die ihm ergebene verbrecherische Clique seien für alles verantwortlich gewesen: Diese verbreitete Ansicht erklärte nach Mommsens Überzeugung nicht das komplexe Phänomen der NS-Herrschaft. Er suchte Herrschaftsstrukturen aufzudecken und Mechanismen eines Systems zu beschreiben, in dem nicht nur einer befahl und alle gehorchten, sondern viele Verantwortung trugen.
Hans Mommsen verabschiedete die alten Deutungsmuster zum NS
Dabei geriet Hans Mommsen in einen wissenschaftlichen Streit, der ihn fast sein ganzes wissenschaftliches Leben begleitet hat: Wer hat 1933 den Reichstag angesteckt? Haben dies die Nazis getan, um sich eine Gelegenheit zur Eliminierung ihrer Feinde zu verschaffen? Oder war der holländische Kommunist Marinus van der Lubbe, der vor Ort gefasst und für die Brandstiftung zum Tode verurteilt wurde, tatsächlich ein Alleintäter? Mommsen verfocht seit Anfang der 60er-Jahre mit Vehemenz und materialreichen Beweisführungen die Alleintäterthese – um deutlich zu machen, dass Hitler keinen diabolischen Plan ausführte, sondern auf Zufälle reagierte und Gelegenheiten nutzte. Letzte Klarheit zur Urheberschaft des Reichstagsbrandes gibt es bis heute nicht, wird es vielleicht nie geben.
Aber das ist im Grunde nebensächlich. Denn das wichtigste Ziel hat Mommsen und hat seine Historikergeneration, deren akademische Lehrer noch ins NS-System verstrickt waren, längst erreicht: den Abschied von den alten und bequemen Deutungsmustern in der NS-Forschung, und einen thematischen und methodischen Aufbruch in der Geschichtswissenschaft, durch den die deutschen Historiker wieder international Anschluss fanden. Damit verbunden war auch eine politische Öffnung – etwa wenn Mommsen bei der Erforschung des deutschen Widerstandes die Ausgrenzung der Kommunisten kritisierte:
Eigentlich wollte Hans Mommsen gar nicht Historiker werden
"Diese Debatte ist ein Zeichen für den anhaltenden deutschen Autismus. Nämlich den Glauben, alleine in der Welt zu sein. Kein anderer Europäer kann im Ernst auf die Idee kommen, dass die Kommunisten nicht zum antifaschistischen Widerstand gehören. Es wäre gut, wir würden uns endlich, wenn man will, auf die europäischen Ideen des deutschen Widerstands besinnen."
Eigentlich wollte Hans Mommsen gar nicht Historiker werden – genauso wenig wie sein 2004 verstorbener Zwillingsbruder Wolfgang. Er studierte zunächst Germanistik, aber die Herkunft prägte dann doch den Lebensweg der beiden: Ihr Vater Wilhelm Mommsen war einer der bedeutenden Geschichtswissenschaftler der Weimarer Republik, ihr Urgroßvater der berühmte Althistoriker und Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen. So gelangte Hans Mommsen in einen Elitezirkel um den Tübinger Gelehrten Hans Rothfels, wurde Mitarbeiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte und 1968 Professor an der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum. Mommsen gründete dort das Institut zur Geschichte der Arbeiterbewegung, wurde einer der bedeutendsten deutschen Historiker der Arbeiterbewegung, des Nationalsozialismus und des Widerstandes.
Einer der Wortführer im Historikerstreit
Mit Leidenschaft mischte sich Mommsen in politische Debatten ein. Seine vehementen und intelligenten Kommentare aus Historikersicht waren gefragt und machten ihn berühmt. Als in den 80er-Jahren der Besuch von Bundeskanzler Kohl und US-Präsident Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg die Gemüter erregte, meldete sich auch Mommsen zu Wort:
"Ich hätte ja vielleicht gewünscht, dass die Bundesregierung mal einen Zeithistoriker fragt, ob Bitburg denn vielleicht geeignet wäre, der hätte dann vielleicht sagen können, dass bekanntlich in der Ardennenoffensive die Amerikaner die einzige wirkliche, denn Pearl Harbour war ein Überfall, die einzige wirkliche große Niederlage im Zweiten Weltkrieg erlitten haben. Ich würde als Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls nicht auf die Idee kommen, mir ausgerechnet diesen Friedhof auszusuchen und noch in dem Glauben, dort lägen Amerikaner begraben."
Hans Mommsen war einer der profiliertesten Köpfe der linksliberalen Historikergeneration, die in den 60er-Jahren groß geworden ist. Er war einer der Wortführer im Historikerstreit 1986/87. Weil er beides verstand: die Zuspitzung und die sorgfältige Abwägung historischer Erfahrungen, hat er die großen und wichtigen Debatten der Bundesrepublik Jahrzehnte lang außerordentlich bereichert. Am Donnerstag ist er an seinem 85. Geburtstag gestorben.
Zu Hans Mommsens 85. Geburtstag haben wir erst am Mittwochabend mit dem Historiker Lutz Niethammer gesprochen:
Audio Player