Inge Deutschkron ist gestorben

Unermüdliche Erzählerin gegen das Vergessen

05:42 Minuten
Die Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron sitzt bei einer Veranstaltung und schaut in die Kamera.
Inge Deutschkron (1922-2022) © dpa | Wolfgang Kumm
Von Christiane Habermalz · 09.03.2022
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Die Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron kämpfte mit ihrer Lebensgeschichte gegen das Verdrängen der Erinnerung. Nun ist die Schriftstellerin und Berliner Ehrenbürgerin im Alter von 99 Jahren gestorben.
Sie war eine streitbare Frau. Wenn ihr etwas nicht passte, dann machte sie keinen Hehl daraus. Das Bundesverdienstkreuz hat sie mehrfach abgelehnt. Begründung: Zu viele ehemalige Nazis seien nach dem Krieg damit ausgezeichnet worden.

„Wir Überlebende waren Müll“

Nach Kriegsende hatte sie miterleben müssen, wie deutsche Flüchtlinge Soforthilfen des Staates bekamen. Die Juden, die überlebt hatten, dagegen nicht. „Wir Überlebende waren Müll“, erzählte sie später, „das vergebe ich dem deutschen Staat nicht.“
Inge Deutschkron, die Journalistin und Autorin, war vor allem eine unermüdliche Erzählerin gegen das Vergessen und Verdrängen. In ihrer 1978 erschienenen Autobiografie „Ich trug den gelben Stern“ erzählte sie, wie sie mit ihrer Mutter die Shoah versteckt in Berlin überlebte. Dem blinden Bürstenmacher Otto Weidt, der in seiner Werkstatt versuchte, Juden vor der Deportation zu bewahren, hat sie darin ein Denkmal gesetzt. Für die Würdigung der vielen stillen Helden, die Juden halfen oder versteckten, hat sie sich immer wieder eingesetzt.

Die einfachen Leute halfen

Es waren ja sehr, sehr oft die einfachen Leute, die uns geholfen haben. Wir hatten eine Bäckersfrau und viele andere. Die kamen auch von sich aus.

Inge Deutschkron

Deutschkron war 21 Jahre alt, als sie selbst untertauchen musste und auf Gedeih und Verderb auf die Hilfe anderer angewiesen war. Ihr Vater, ein sozialistischer Lehrer, konnte noch 1939 nach England emigrieren. Mutter und Tochter sollten nachkommen. Doch der Kriegsausbruch machte kurz darauf jede Ausreise unmöglich. Als die Deportationen begannen, hätte sich niemand unter den Berliner Juden vorstellen können, was das tatsächlich bedeutete, erzählte Deutschkron.

Und wir haben oft darüber diskutiert: "Ach, das ist doch ausgeschlossen. Ein Staat kann doch nicht eine Mordmaschinerie aufbauen."

Inge Deutschkron

"Und dann hat man gesagt 'Ja gut, wir werden Zwangsarbeit machen müssen und schrecklich arbeiten müssen.‘ Und dann sagte man: ‚Aber was haben die Babys da auf dem Transport zu suchen? Oder die jungen Leute oder die Frauen? Also zankte man sich geradezu und wusste es nicht – und ahnte es wohl.“
Am Ende war es die Wäscherin ihrer Mutter, die sie bedrängte unterzutauchen. Ein Wehrmachtssoldat auf Urlaub hatte ihr erzählt, was mit den Juden in Osteuropa geschah.

Die Frau kam zu uns – das werde ich nie vergessen, unvergesslich –, die kam zu uns und sagte: ‚Frau Deutschkron, Sie müssen mir jetzt was versprechen.‘

Inge Deutschkron

"Und meine Mutter sagte: 'Was soll ich Ihnen denn versprechen?' - 'Das sage ich Ihnen nicht.' - 'Ich kann Ihnen ja nicht was versprechen, wenn ich nicht weiß, was.' - 'Ach, das müssen Sie aber. Sonst würden Sie es vielleicht nicht versprechen.' Da sagte meine Mutter: ''Okay, ich akzeptiere das jetzt. Was habe ich jetzt versprochen?' Und da sagte die Frau unter Tränen: 'Wir werden Sie verstecken.' Sie rief uns das noch nach, als wir schon weitergingen: 'Ihr habt mir‘s versprochen!'"

Zwei Jahren auf der Flucht

Inge Deutschkron und ihre Mutter überlebten den Holocaust nach über zwei Jahren auf der Flucht in zahllosen Verstecken und in ständiger Angst vor dem Entdeckt-werden. Doch der Rest der Großfamilie wurde ermordet, 18 Personen. Für immer im Gedächtnis geblieben war ihr der Abschied von ihrer Lieblingstante in Berlin-Spandau.
„Und da saßen diese alte Dame und ihr Mann und weinten. Die hatten sie in so ein fürchterliches Zimmer gesetzt. Und dann plötzlich sagt die: ‚Du, ihr müsst jetzt gehen, die werden gleich kommen, euch abzuholen.' Und tatsächlich. Und wir gingen schnell. Und dann sah ich, wie man die da auf den Lastwagen raufschmiss, mehr oder weniger. Das waren also Menschen, die über 60 waren. Das ist unvergesslich. Für mich unvergesslich.“

Beobachterin im Auschwitz-Prozess

Nach dem Krieg ging Inge Deutschkron zunächst nach England, kehrte aber 1955 nach Deutschland zurück, um als Journalistin in Bonn zu arbeiten. Für die israelische Zeitung "Ma'ariv" verfolgte sie als Beobachterin den Auschwitz-Prozess in Frankfurt.
Anfang der 70er-Jahre verließ sie aus Protest gegen die antiisraelische Haltung der 68er-Bewegung die Bundesrepublik und wanderte nach Tel Aviv aus. Erst 20 Jahre später kehrte sie wieder in ihrer alte Heimatstadt Berlin zurück. Seitdem machte sie es sich zur Aufgabe, Zeugnis abzulegen über das, was war. Immer wieder erzählte sie in Schulen und den Vorträgen ihre Geschichte – temperamentvoll und mit dem ihr eigenen Witz. Auf ihre Initiative hin wurde 1999 in Berlin das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt gegründet.
2013 hielt sie im Bundestag die Rede zum Holocaust-Gedenktag. Darin erzählte sie, wie ihr Vater, ein zeitlebens engagierter Sozialist und Demokrat, nach dem Krieg in London darauf wartete, dass man ihn nach Deutschland zurückrufe, um ein demokratisches Deutschland aufzubauen. Der ersehnte Brief kam nie.

Keine Post aus Berlin

Jeden Morgen suchte er im Briefkasten nach Post aus Berlin. An seiner Stelle kam ein Brief von einer englischen Schulbehörde, die ihm nahelegte, die britische Staatsangehörigkeit anzunehmen, wenn er weiter in England lehren wollte. Tagelang überlegte er, kämpfte er mit sich. Dann sagte er zu.

Inge Deutschkron

Seine Tochter ließ sich nicht abhalten, nach Deutschland zurückzukehren, auch ungefragt. Zum Glück. Inge Deutschkron machte den Kampf für Freiheit und Recht zu ihrer Lebensmaxime. Jetzt ist sie im hohen Alter gestorben.
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