Thalheimers Wimmelbild der Hoffnungslosigkeit
Michael Thalheimer interpretiert Maxim Gorki an der Berliner Schaubühne und baut ein finsteres "Nachtasyl". Er lässt seine virtuosen Schauspieler Gift und Galle spucken, jeder Satz und jedes Stöhnen muss herhalten für die Verkommenheit der Zivilisation.
Alle rutschen ab, aber jeder rutscht anders. Gorkis "Nachtasyl" ist an diesem Abend an der Berliner Schaubühne nur ein schmaler Breitwand-Spalt, einem Müllschacht nicht unähnlich, in den die Darstellerinnen und Darsteller jeweils auf ganz eigene Weise hineinschlittern – mit Schwung, oder ganz verhalten, mit dem Kopf oder mit den Beinen voran. Und wollen sie wieder abgehen von der Szene, müssen sie sich an der schlüpfrigen Rückwand regelrecht hinaufkämpfen, müssen sportliche Kunststückchen absolvieren, um das elendige Nachtlager wieder zu verlassen.
Ein starkes Bild, das Regisseur Michael Thalheimer und sein Bühnenbildner Olaf Altmann gefunden haben für den Existenzkampf der Deklassierten, für die trübsinnige Wohnstatt von ehemaligen Zuchthäuslern, alkoholkranken Ex-Schauspielern, sehnsuchtsvollen Dirnen, brutalen Schlägern und misshandelten, sterbenskranken Frauen. Doch sind sie erst einmal unten angekommen ("Ganz unten" lautet der wörtlich übersetzte Stücktitel), treten die verzweifelten Subproletarier eigentlich nur noch an die Rampe, demonstrieren Vereinzelung, sprechen zum Publikum gewandt, interagieren nur kurz und anfallsartig mit einander.
Es ist die Thalheimer-Methode, die konzentrierte Verdichtung anstrebt und dabei dem Ensemble ausdauernde Körper- und Stimmenvirtuosität abverlangt: Also schimpft Jule Böwe als finster verschlagene Wirtin mit Sturmfrisur und Netzstrumpfhose, bis die Wände wackeln, und ruft ihren Liebhaber mit spöttisch-geiler Ziegenmeckerstimme. Ulrich Hoppes Polizist verfällt in zwanghaftes Onanieren und klappert zum Orgasmus wie wild mit den Zähnen. Christoph Gawenda schlägt sich an die Brust, Alina Stiegler sagt immer wieder den einen Satz: "Ich sterbe." Und Tilman Strauß lässt den Pilger Luka mit einer derartig über-maskulinen Psychopathen-Stimme grollen, dass die Grenze zur Figurenkarikatur deutlich überschritten wird.
Verrohung allen Menschseins
Für sich genommen ist das alles eindrucksvoll, umkreist die Verrohung allen Menschseins, eine hoffnungslose soziale Mitleidlosigkeit, die nicht zuletzt diejenigen ergreift, denen es selbst schlecht geht. Gorkis Stück ist grausam, es ist lichtlos, schon bei der Lektüre schnürt es einem immer wieder den Atem ab. In Thalheimers geifernder Gift- und Galle-Inszenierung begreift man allerdings schnell, dass die Stärke des Textes ganz woanders liegt. Das naturalistische Stück von 1905 hat Figuren im Angebot, die sich mit völliger Selbstverständlichkeit in Selbstmitleid und Gewalt suhlen, deren Menschenverachtung Teil eines Alltags ist, zu dem der Wodka und das Kartenspielen ebenso gehören wie das Lesen kitschiger Liebesromane und das Freimachen von Liegepritschen, wenn wiedermal irgendwer verreckt ist.
An diese Szenen aber geht Gorki nicht anders heran als sein Kollege Tschechow, wenn er gelangweilte Adelige und Landärzte unter Kirschbäume setzt: Die unerhörtesten Dinge werden in einem geradezu apathischen Konversationsfluss abgehandelt. Hin und wieder branden große Gefühle auf – und für die hat Thalheimer auch an diesem Abend die adäquate Verdichtungslust, peitscht sie mit Beats und gewittrigem Pathos voran. Dann aber ist wieder alles beim Alten, abgestumpft und barsch und roh und ganz und gar alltäglich.
An diesem Gefälle jedoch scheitert die Inszenierung, verfängt sich in der Absicht, aus jedem noch so banalen Satz etwas bedeutungsvoll Großes zu machen, mit jedem Stöhnen den Beweis für die Verkommenheit der Zivilisation zu liefern. Aus einem vielstimmigen sozialen Wimmelbild der Hoffnungslosigkeit wird bei Thalheimer ein zuckendes Schmerzensoratorium der lauten Schreie, des körperlichen Aufbegehrens, der aufgerissenen Augen. So wild ist dieses eingepeitschte Wutschauspielern, dass bald schon alle Welt daraus verschwindet, dass nur noch Theater übrig bleibt.