Nachtwanderer

Wenn Ältere die Jungen im Nachtleben begleiten

Drei Mitglieder der Initiative Nachtwanderer sind am 5.6.2010 unterwegs in einer Bremer Straßenbahn.
Drei Mitglieder der Initiative Nachtwanderer sind unterwegs in einer Bremer Straßenbahn. © imago /epd
Von Almuth Knigge |
Kümmerer und keine Hilfspolizisten: Im Bremer Stadtteil Huchting leisten ein paar mittelalte bis ältere Herrschaften den Jugendlichen Gesellschaft, wenn sie nachts unterwegs sind. Die Idee stammt aus Schweden – und hat viele positive Effekte.
Der Bremer Stadtteil Huchting ist einer, bei dem Außenstehende gerne mal die Nase rümpfen. Von hanseatischer Gediegenheit ist auf den ersten Blick nicht viel zu sehen und in der Tat ist es Samstagabend kurz vor Ladenschluss auf dem fast leeren Parkplatz zwischen Spielhalle, Einkaufszentrum und Busbahnhof wenig anheimelnd. Aber wo ist es da schon.
Im Häuschen der Bremer Straßenbahn AG brennt noch Licht.
Es ist 21.30 Uhr und nach und nach trudeln ein paar mittelalte bis ältere Herrschaften ein, Lothar, 72 Jahre, Gaby, 56 und Sang-Hee ist mit 46 die Jüngste in der Runde.
"Möchte jemand von euch einen Kaffee – ich hab Kaffee gekocht – nein"
Ulla Ulland begrüßt sie. Es Zeit für die Nachtwanderer.
Ulla Ulland: "Als damals in Paris die Autos brannten."
Das war im Herbst 2005.
"Da brannte hier in Huchting auch alles, was man sich vorstellen kann. Mülltonnen, ne Schule haben sie angesteckt, Autos und da haben wir uns dann zusammengetan und gesagt, wir müssen was im Stadtteil unternehmen."
Ulla Ulland ist das, was man eine kleine, patente Person nennt. Sie hat ihr Leben lang in der Behindertenhilfe gearbeitet und wo es was zu tun gibt, da ist sie dabei. Auch jetzt noch, mit 68:
"Ja und dann haben wir erstmal ne Bürgerversammlung gemacht, die Bürger darauf hingewiesen, was wir hier vorhaben, wir hatten einen Zulauf ohne Ende. Aber dann mussten wir ganz schnell feststellen, dass viele in Huchting ja eigentlich hier mit 'ner Keule rumlaufen wollten und hier aufräumen wollten."
Eine Bürgerwehr? Das wollte Ulla nicht. Die Nachtwanderer, so stand mal in der Zeitung, sind der etwas andere Sicherheitsdienst. Keine Hilfspolizisten.
Lothar: "Die Motivation ist, dass wir uns auf der Straße zeigen wollen als Erwachsene und mehr auch nicht."

Eine Idee aus der schwedischen Hauptstadt

Die Wiege der Initiative ist Stockholm. Wir brauchen Erwachsene, die sich kümmern, lautet das Motto der dortigen Nachtwanderer. Seit 1987 sind hier Erwachsene nachts auf den Straßen unterwegs, statt besorgt wach zu liegen und auf die Rückkehr ihrer halbwüchsigen Kinder zu warten. Inzwischen zählt man in Schweden jährlich etwa 200.000 Nachtwanderer, über 300 Orte verteilt.
Und auch in Deutschland machte die Initiative Schule. Spendenfinanziert. In Skandinavien sank die Jugend-Kriminalität nachweisbar, weil die Nachtwanderer im Einsatz waren. Aber das ist nur der positive Nebeneffekt. Das Kümmern steht im Vordergrund, Ansprechpartner sein. Ein Angebot machen, nennt Sang-Hee das.
Sie hat selber Kinder – und hat sich deshalb vor Jahren der Gruppe angeschlossen. Weil sie wissen wollte, wie es da draußen so ist:
"Wir sind ja auch nicht aufdringlich, wir laufen ja auch nicht durch die Gegend mit erhobenem Zeigefinger sondern wir sind da, präsent, aber die können uns ansprechen, was sie auch tun, aber wir drängen uns nicht auf."
Es beginnt meist mit einem "Hallo, wie geht es euch":
"So. Und dann kommst du ins Gespräch, die Gespräche waren früher lang, unendlich lang, dass ich manchmal gedacht habe, dass ich schon immer auf den Kantsteinen gesessen habe, weil ich konnte nicht mehr stehen."

Zu Hause ist niemand da zum Reden

Probleme eines Teenager-Lebens, die für andere locker bis zur Rente reichen.
"Warum erzählen die mir das alles, und ich bin da spät drauf gekommen: Weil die zu Hause niemanden zum Reden haben."
Das hat sich geändert – aber nicht, weil die Situation der Jugendlichen sich auf einmal verbessert hätte.
Ulla Ulland: "Aber was natürlich auch früher noch war, ganz schlimm dieses Rumgegammel auf der Straße und es wurde sehr viel Alkohol getrunken, das haben wir nicht mehr so im Stadtteil. Seitdem Twitter, Facebook und alle Medien sich verändert haben, sind die Jugendlichen nicht mehr so auf der Straße, wie sie vorher waren."
Aber sie sind ja nicht weg – sie verabreden sich gezielter – treffen sich nicht mehr an Bushaltestellen oder auf Spielplätzen. Einsatzbesprechung:
"Wo wollen wir denn heute - ich weiß gar nicht, regnet das noch? Hat gerade aufgehört. Regnet nicht mehr?"
"Wollen wir Richtung Rewe, da am Burgerking vorbei und dann Obervielanderstraße?"
"Muss noch jemand zum Klo?"
Okay, Aufbruch.
Ulla Ulland: "Nachtwanderer Huchting, hallo Frau Lindhorst. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir jetzt loslaufen, wir wandern jetzt durch Huchting, Richtung Heerstraße, ich melde mich, danke."

Die Polizei ist immer informiert

Die Polizei soll Bescheid wissen, wer da nachts warum wo rumwandert. So ist es abgesprochen. Anfangs sind sie noch jedes Wochenende unterwegs gewesen. Doch Mitstreiter zu finden ist nicht leicht.
Ulla Ulland: "Also es sind auch schon Mütter hier gewesen in der Anfangszeit, in den ersten Jahren, die nachts auf der Straße ihre betrunkenen Mädchen gesehen haben und aufgehört haben. Das konnten sie nicht ertragen, das haben sie nie erwartet und das kommt auch hinzu, dass man dann total enttäuscht ist, was mein Kind gerade gemacht hat."
Sie gehen immer mindestens zu dritt los. Ein Mann muss dabei sein.
"Bedrohliche Situation hatten wir auch schon, aber wir sind noch nie bedroht worden. Noch nie."
Trotzdem haben viele Menschen auch Angst und schließen sich deshalb den Nachtwanderern nicht an.
"Wir hatten mal ne Auseinandersetzung am Bahnhof, die hatten sich auf den Schienen gekloppt wie die Wilden, und dann haben wir uns aufgeteilt. Der eine ist zu dem gegangen, der andere zu dem, und so haben wir die auseinander gekriegt. Das geht auch, man muss nur wissen, wie man das macht - und immer so unauffällig wie möglich…"
Die Gruppe biegt in ein Wohngebiet.
"Ach Mensch, wieso muss das denn immer regnen."
Brenzlig sei das Viertel hier, sagt Ulla Ulland.
"Bei uns hat der Schwächste, wenn der was sagt, müssen wir alle Rücksicht darauf nehmen."
Außerdem organisiert sie Weiterbildung. Erste Hilfe, Gewaltprävention, Deeskalation – konnte sie alles schon gebrauchen:
"Deeskalation? Ja früher immer, jedes Wochenende. Heute nicht mehr."
Die Nachtwanderer Huchting posieren für ein Gruppenfoto.
Die Nachtwanderer Huchting posieren für ein Gruppenfoto.© Almuth Knigge

Eine ruhige Nacht auf Huchtings Straßen

Das Auch heute ist es ruhig. Das Meiste, sieht man an den Lichtern der Häuser, spielt sich drinnen ab.
"Heute ist so gar nichts los."
Das Angebot für Jugendliche ist allerdings auch sehr überschaubar. Eine Disco gibt es nicht.
"Wo sollen die hin? Darum ist das ja auch kein Wunder, dass die immer alle in die City fahren."
Die Nachtwanderer fahren dann mit. Das ist meist Teil zwei ihrer Nachtwanderung. Die BSAG unterstützt das, der Vandalismus ist zurückgegangen.
Ulla Ulland: "Es ist auch witzig, wenn sie jetzt zum Beispiel in den öffentlichen Verkehrsmitteln Bier trinken und wir steigen ein und die kullern dann durch die Gegend, die stehen auf und holen die Bierflaschen und nehmen die mit."
"Es gibt Mädchen, die fragen, ob wir sie nach Hause bringen können. Dann bringen wir sie auch nach Hause. Bis zur Tür. Ja, und das ist dann auch, was dann eben auch Spaß macht, für die dann auch da zu sein."
Sang-Hee: "Und für die ein gutes Gefühl. Oder für einen selber ist das ja auch ein gutes Gefühl, zu wissen, die sind jetzt heil nach Hause gekommen."
Mittlerweile ist die kleine Gruppe wieder am Ausgangspunkt angekommen. Heute steigen sie nicht mehr in die Bahn.
"Wie spät ist das denn? 23.30 Uhr - wo ist mein Schlüssel. (Seufzer)"
"Schreibt noch einer ein Protokoll?"
"Ja, ich."
Das wird ein leeres Blatt sein – weil nix passiert ist.
Sang-Hee: "Eigentlich war es ja ein erfolgreicher Abend, weil ja nichts los war, da alles friedlich war."
Lothar: "Die schönsten Tage sind immer die, wo nichts ist."
Bleibt jetzt nur noch, sich bei der Polizei abzumelden:
"Ulland, Nachtwanderer Huchting, wir haben aufgehört, es regnet, ist nix los, schöne Nacht noch! Tschüss!"
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