Nachwuchskicker und deutsche Tugenden

Von Wolf-Sören Treusch |
Charkiw am vergangenen Mittwoch: Sieben deutsche Nationalspieler singen die Hymne mit, vier schweigen. Wegen ihrer ausländischen Wurzeln haben Boateng, Khedira, Özil und Podolski die Hymne noch nie mitgesungen, seitdem sie für Deutschland kicken.
Müssen sie auch nicht, Bundestrainer Joachim Löw stellt es ihnen frei.

DFB-Sportdirektor Matthias Sammer ärgert das kolossal. Wenn es nach ihm geht, werden wenigstens die Stars der Zukunft alle mitsingen. Bei den Junioren-Nationalmannschaften hat er eine freiwillige Singpflicht eingeführt. Wer nicht mitsingt, wird dafür nicht bestraft, muss allerdings begründen, warum er nicht mitsingt:

"Es gibt fünf Leistungsvoraussetzungen im Fußball oder fünf Säulen, die man im Fußball immer wieder bearbeiten muss: Das ist die Konstitution, das ist die Kondition, es ist die Technik, es ist die Taktik und die Persönlichkeit."

Zur Persönlichkeit gehören nach Meinung des DFB-Sportdirektors nicht nur Wurzeln und Hautfarbe, sondern auch, dass sich ein Fußballer identifiziert mit dem Land, für das er spielt. Sammers Appell:

"Wir geben den Jungs unser Trikot, dafür wollen wir ihre Stimme."

Leonardo Bittencourt, U19-Nationalspieler mit brasilianischen Wurzeln, von Energie Cottbus, in der neuen Saison beim deutschen Meister Borussia Dortmund unter Vertrag, hat dafür Verständnis:

"Wenn bei uns die Hymne kommt, hört sich das schon laut an, dass alle mitsingen, vielleicht bewegen manche auch nur die Lippen, aber ich kann jetzt nur von mir aus sprechen, ich kann die Hymne schon, vielleicht nicht so perfekt, aber ich kann die Hymne bis zum Schluss singen, und wie das bei den anderen ist, ja, das weiß ich jetzt nicht."

Und Fritz Pflug, U16-Nationaltorwart von Energie Cottbus, ergänzt:

"Jetzt mal davon abgesehen, dass es immer ein Gänsehautmoment ist, wenn man da die Nationalhymne singt und es schon ziemlich emotional ist: also bei uns vor jedem Länderspiel bei der Besprechung, wo die Aufstellungen und die taktischen Vorgaben bei Standardsituationen gezeigt werden, da ist immer ein Flip Chart, wo dransteht '90 Minuten Aggressivität' oder darauf achten, darauf achten, und ein Punkt davon ist immer 'Hymne mitsingen'.

Deswegen steht die Frage bei uns gar nicht, ob man die mitsingt. Bei uns singen die alle mit."

So wie im Mai auch die U17 vor dem EM-Endspiel gegen die Niederlande: Die Startelf sang komplett mit - auch die Spieler mit Migrationshintergrund.

Nur wer als Spieler eine stabile Persönlichkeit hat, kann dem deutschen Fußball helfen, Weltspitze zu bleiben. Davon ist Matthias Sammer überzeugt, und darauf will er Einfluss nehmen. Deshalb hat er für die Juniorennationalspieler einen Leitfaden entwickeln lassen, Titel: 'die Seele unseres Spiels'.

Seit 2009 gilt der Wertekatalog. Viel ist darin von deutschen Tugenden die Rede, aber auch von einfachen Verhaltensregeln: dass ein Nationalspieler zum Beispiel die linke Hand aus der Tasche nehmen möge, wenn er jemanden begrüßt:

"Der Titel dieser kleinen Fibel 'Seele unseres Spiels' bedeutet ja in dem Sinne, wenn wir junge Menschen auch zu etwas bewegen wollen, müssen wir ihre Seele erreichen, und in der heutigen Zeit gibt es sehr viele Spieler mit Migrationshintergrund.

Wir erhoffen uns von der heutigen Generation tolle Persönlichkeiten, die erfolgreich sind, die gleichzeitig anständig sind, die lieb sind, die nett sind, die bescheiden sind, die vielleicht auch ein bisschen unterschiedlich sind, aber keiner hat den Mut mehr, gewisse Richtlinien aufzustellen und in diesen Richtlinien den Jungs auch die möglichen Freiheiten zu geben. Wir haben wirklich die Erfahrungen gemacht: mit diesen Richtlinien gibt es Orientierung, und wenn wir sie nicht zu eng gestalten, fühlen sich unsere Spieler einfach wohl."

Stimmt. Findet U16-Nationalspieler Fritz Pflug. Er bekam die Fibel zu seinem Länderspieldebüt geschenkt:

"Wenn man denn beim Frühstück sitzt und der Nationaltrainer kommt rein und sagt dann laut und selbstbewusst: 'Guten Morgen Deutschland', das ist schon ein besonderes Gefühl für die Nationalmannschaft, und man ist da stolz darauf."

Und noch etwas hat sich DFB-Sportdirektor Matthias Sammer einfallen lassen. "Ich spiele für Deutschland" ist der Titel einer Plakatserie, die seit Neuestem bei Lehrgängen der Junioren-Nationalmannschaften an den Wänden hängt. In der Kabine, im Massage-, Besprechungs- oder Essensraum, quasi überall.

Schwarzrotgold, ein Fußball und dann: "Ich spiele für Deutschland", "für den Erfolg" und so, und dann stehen halt so Stichpunkte wie "Streitkultur und irgendwas bringen mich weiter", also so deutsche Tugenden, oder wie man es auch nennen will, also so was hängt da rum, ...

"Themen wie Streitkultur, ist doch vollkommen klar: Wenn Sie heute den Mut haben, über Streitkultur zu reden, dann wird Ihnen ein 15-Jähriger erstmal sagen: 'Entschuldigung, das habe ich in meinem Leben noch nie gehört'.

Und dann kommen wir in die Diskussion und stellen fest, dass man um die Sache kämpfen muss. Wenn der Mitspieler ein paar Dinge macht, die den Erfolg gefährden, dann kommen wir in eine wunderbare Diskussion, dann haben wir doch schon gewonnen."

Pflug: "... war jetzt länger mal kein Lehrgang, aber ich weiß immer noch, dass mit 'Streitkultur bringt mich weiter', dass das da dransteht. Also das bringt schon was."

Eine ganzheitliche Fußballerausbildung nennt das der DFB. Ob die Spieler später die Nationalhymne mitsingen oder nicht, ist da fast schon wieder zweitrangig.

Sammer: "Wir müssen doch ehrlich sein. Auch bei einer U16, das ist Eliteförderung bei den besten Spielern, es kommen die allerwenigsten oben an, wir können doch nicht versaute Spieler für diese Gesellschaft entwickeln und sagen: 'Uns interessiert keine Erziehung, wir legen nur Wert auf den Sport'. Wenn sie unser Trikot tragen, dann wollen wir sie entsprechend auch beeinflussen."