Nadja Küchenmeister: Im Glasberg
Schöffling & Co., Frankfurt am Main
112 Seiten, 20,00 Euro.
Der Heimat so fern
06:27 Minuten
Ob das Elternhaus oder der im Morgengrauen aufbrechende Geliebte, Nadja Küchenmeisters Lyrikband "Im Glasberg" erzählt mit dichtem Bildrepertoire von den Verlusterfahrungen des Daseins. Im winterlichen Blues bietet allein der Vers den nötigen Halt.
Könnte man noch einmal wieder einholen, was im Laufe eines Lebens alles verloren geht – von dieser Sehnsucht zeugen die Gedichte in Nadja Küchenmeisters aktuellem Band "Im Glasberg". Wir befinden uns im Umland von Berlin, wo sich ein Ich an den Ort seiner Herkunft begibt. Es öffnet alte Schubladen und erblickt vor dem geistigen Auge die Krimibücher der Eltern.
Es erinnert sich genauso an den Schnee entlang der durch Brandenburg fließenden Wuhle wie auch an dunkle Tage der Ausgrenzung in der Schule. Hätte man im Rückblick manches anders angehen können? wer weiß, klar ist: "Aus der ferne // dringt das hintergrundrauschen / alles versäumten". Wie schon den Poemen aus "Alle Lichter" (2010) und "Unter dem Wachholder" (2014) wohnt auch den neuen Texten der typische Küchenmeister-Blues inne.
Durchdrungen wird ihre Dichtung von einem winterlich-herben Lamento, das von existenzieller Melancholie und Einsamkeit herrührt. Und so sitzt das Textsubjekt zumeist "mit geöffnetem brustkorb da // alles läuft ab und aus, wie süße / sich in salz verwandelt".
Das lyrische Ich fühlt sich von allem getrennt
Um die Wunden und Verluste sichtbar zu machen, bricht die 1981 geborene Lyrikerin immer wieder Wörter entlang von Versgrenzen entzwei und greift auf ein dichtes Bildrepertoire zurück. Die Rede ist von dem sich letztlich nie vereinigenden Paar aus Sonne und Mond oder von Wurzeln, die – ohne Anfang und Ende – keinen Halt mehr stiften. Dass das lyrische Ich sich von allem getrennt fühlt, veranschaulicht darüber hinaus die titelgebende Großmetapher des Bandes: In der Märchentradition steht der Glasberg mitunter für ein den Zugang zu einem geliebten Menschen verwehrendes Hindernis. Durch ihn hindurch schaut der Träumer allerdings nicht nur auf die einstige Heimat, sondern gleichsam auf ein abwesendes Du. Was von letzterem geblieben ist, sind Schemen:
ich habe von dir geträumt. du hast mich
im traum getragen, wie man eine schlafende trägt.
ich habe im traum geschlafen. ich habe im traum geträumt
von dir. du hast diesen traum getragen. ich habe dich
im traum gelassen. du bist dort. und ich bin hier.
Dem Chaos eine Ordnung geben
Hoffnung sucht man in Küchenmeisters Poesie vergebens. Ihr lyrisches Ich, das immerzu mit ehemaligen Weggefährten und nicht zuletzt mit dem eigenen Selbstbild ringt, kommt sich trotz alledem nicht abhanden. Denn obwohl ihm so vieles zu entgleiten droht, dient ihm die Sprache zur Formgebung. Gliedert sich ein Großteil der Gedichte in Terzette, wird man in ihnen dem Versuch gewahr, dem Chaos eine Ordnung zu geben.
Schönheit der Lyrik besteht in den Rätseln
Glücklicherweise geht dieses Bemühen nicht mit einem künstlichen Drang zur Geschlossenheit einher. Zu unbestimmt, zu offen muten Küchenmeisters poetische Miniaturen an vielen Stellen an. Das kann man nur begrüßen. Warum eines ihrer Subjekte etwa immer wieder am Haus des Vaters vorüberfährt, ohne stehen zu bleiben, und welche Wünsche es seinem im Morgengrauen aufbrechenden Geliebten in einem Brief mitteilt – solcherlei Leerstellen lösen sich nicht auf. Die Schönheit dieser Lyrik, sie besteht gerade in den Rätseln, dem so geheimnisvollen und unerschöpflichen Raum zwischen den Versen und Worten.