Die Angst vor Isolation am Lebensende
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Die Besuchsverbote zum Schutz vor Corona treffen Patienten und Angehörige hart. Besonders aber leiden Menschen in Hospizen. Pflegerinnen und Begleiter suchen Wege, wie Nähe trotz des räumlichen Abstands möglich ist.
Mensch ärgere Dich nicht per WhatsApp, tanzen per Zoom-Meeting: Seit September 2019 begleitet Sabine Dalchow, ehrenamtliche Mitarbeiterin im Familien-Hospizdienst der Malteser in Berlin, die 8-jährige Vanessa. Deren Mutter schwer erkrankt ist.
Einmal die Woche gehen die Beiden Eis essen und in den Zoo, sprechen über Schule und Freunde – auch über das Sterben der Mutter und wie es Vanessa damit geht. Seit wegen der Corona-Pandemie persönliche Treffen nicht mehr erlaubt sind, sind sie auf Video-Chats umgestiegen.
"Wir haben gleich losgelegt und haben am ersten Tag Mensch ärgere Dich nicht gespielt – es hat schon Spaß gemacht", sagt Dalchow. "Und sie war auch voll dabei."
Allein die Malteser in Berlin begleiten jährlich knapp 500 schwerkranke und sterbende Menschen, darunter etwa 70 Familien mit einem sterbenden Elternteil oder Kind. Die derzeit geltenden Kontaktbeschränkungen treffen sie besonders hart. Sie haben Angst – begründet oder nicht – dass aus Ressourcenmangel gewünschte Behandlungen nicht mehr stattfinden. Und sie haben Angst vor Isolation am Lebensende. Begleitung per Telefon – auf die viele Hospiz- und Sterbebegleitdienste in den letzten Wochen umgestellt haben – schafft da Abhilfe. Aber nur in Grenzen.
Und wenn sie jetzt den Erstkontakt auch per Zoom hätten herstellen müssen – wäre das dann genauso gut gelaufen? "Nein", sagt Dalchow. "Bestimmt nicht."
Keine Kraft für Telefonate
"Ja. Das ist einfach sehr sehr schwierig. Dann haben die zum Teil keine Nerven zum Telefonieren", sagt Antje Rüger-Hochheim, Koordinatorin beim Malteser-Familien-Hospizdienst. "In einer Familie hatte ich das jetzt – da fanden regelmäßig Telefonate statt, und bei einem Telefonat habe ich sie gar nicht erreicht. Und am nächsten Tag hat sie mir dann geschrieben, sie hat keine Kraft mehr für Telefonate und für sie kommen nur noch persönliche Gespräche infrage."
Gespräche in der Palliativpflege sind oft Krisengespräche, sagt Antje Rüger-Hochheim – und in der Krisenkommunikation wird deutlich, worauf Sprachwissenschaftler und Psychologen seit vielen Jahren hinweisen: sich verständigen – das geschieht über viele Kanäle. Neben der Sprache etwa auch über Augenbewegung und Mimik, die Körperhaltung oder sogar über die Position, die man im Raum zueinander einnimmt. Ist eine dieser Ebenen blockiert, kann es zu Missverständnissen und Konflikten kommen.
"Auch zum Beispiel diese Pausen in den Gesprächen, wie wichtig diese Pausen sind. Dass man innehält auch wartet und immer wieder schauen kann: Okay, können die anderen auch jetzt so mitgehen? Und wenn am Telefon eine Pause entsteht, kann das schnell sein, dass es so kommt: Hallo? Sind Sie noch dran? Und im Zweifel legt einer auf."
Um den Bedürfnissen Schwerstkranker so gut wie möglich zu entsprechen, haben die Malteser einen neuen Begleitungs-Leitfaden entwickelt, sagt Leiterin Kerstin Kurzke. Er greift vor allem auf die Erfahrungen der Telefon-Seelsorge zurück: konzentriert zuhören und mitschreiben, Verständnis mit "mhm" bestätigen, in kurzen Sätzen und Bildern sprechen.
"Und dann dachte ich: Oh! Manche Begleitungen können eine Tiefe am Telefon entwickeln, das hätte ich nicht für möglich gehalten", sagt Kurzke.
Fehlende Zwischentöne
"Die Chance ist, dass wir da beginnen, etwas zu reflektieren: Wie kann ich etwas kompensieren, was mir jetzt fehlt?", sagt Dr. Astrid Steinmetz. Die Therapeutin und Autorin arbeitet seit Ende der 1990er-Jahre mit Palliativ- und Demenzpatienten – und beschäftigt sich mit den verschiedenen Möglichkeiten von Kommunikation, wenn diese nur noch eingeschränkt stattfinden kann. Ihre Erfahrung:
"Sicherlich spüren wir das Fehlen, aber das führt dazu, dass wir andere Ebenen durchaus in den Vordergrund stellen können. Dass durch das Fehlen der Zwischentöne, die gerade auf der nonverbalen Ebene so möglich sind, so manch einer es bewusster in Worte fasst, was ihm die Begegnung mit dem anderen bedeutet. Anstatt es nur mit einem Lächeln auszudrücken."
"Und jetzt bin ich wieder an einem Punkt, wo ich denke: Okay, aber es gibt weiterhin Grenzen", sagt Kerstin Kurzke. "Es gibt Leute, die uns signalisieren: Ich halte es nicht mehr aus. Die weinen. Und wir merken auch – zum Teil gibt’s Sprachbarrieren, es gibt Leute, die schwerhörig sind und manche Menschen haben auch durch die Erkrankung zum Beispiel mit Hirnmetastasen oder auch weit fortgeschrittene Demenz einfach nicht die Möglichkeit, sich wirklich über ihre Gefühle zu äußern. Und die das einfach total überfordert. Und die dann sagen: Bitte kommt!"
Sprache, Ansprache und Stimme können Inhalte vermitteln und Vertrauen schaffen – erfordern allerdings vom Gegenüber auch ein Maß an Aufmerksamkeit, das nicht immer gegeben ist.
"Natürlich ist die Stimme etwas, also der Klangraum ist von der Wahrnehmung natürlich viel diffuser als zum Beispiel eine Berührung", sagt Astrid Steinmetz. "Eine Berührung hat einen ganz präzisen Punkt, auf den sich dann die Wahrnehmung des Gegenübers auch fokussieren kann. Wenn also jemand in einem Zustand von Aufregung, Unruhe und Anspannung ist, dann erlebe ich manchmal, dass die Stimme allein nicht erreicht. Und in diesen Momenten entscheide ich als Therapeutin zu berühren."
Fehlende Berührung kann depressiv machen
Zwischen 300 und 600 Tastsinnes-Rezeptoren befinden sich in der menschlichen Haut, in Gelenken, Muskeln und Sehnen – das Vermögen auf Berührungsreize zu reagieren übersteigt damit die Verarbeitung von Seh- und Höreindrücken um ein Vielfaches. Ein Punkt, auf den vor allem der Leipziger Haptik-Forscher Martin Grunwald schon oft hingewiesen hat:
"Und dann senden diese berührungssensitiven Rezeptoren ihre elektrischen Signale an das Gehirn – und im Gehirn werden dann Signale ausgesendet, die zum Beispiel das Oxytocin ausschütten, ein ganz wichtiges Bindungshormon. Und der Inselkortex ist zum Beispiel dafür verantwortlich, dass wir während Umarmungen positive Emotionen empfinden und weniger Angstkognitionen ausbilden."
Wer lange ohne Berührung auskommen muss, kann im schlimmsten Fall Depressionen entwickeln – bei berührungsloser Kommunikation, etwa über einen Video-Chat, fehlt zumindest eine entscheidende, sinnliche Ebene. Scheitern müssen Gespräche deshalb dennoch nicht, sagt Astrid Steinmetz. Und: Auch auf Nähe müsse man nicht verzichten – das zeige wiederum gerade die Arbeit mit Sterbenden und Schwerstkranken:
"Denn das ist das Typische: Wenn andere Ebenen der Kommunikation wegfallen, dann werden die verbleibenden viel intensiver genutzt", sagt Steinmetz. "Und dann sich zu reflektieren und festzustellen: Was sind die Ebenen der Kommunikation, die der Andere gut nutzen kann? Und mich dann zu entschließen, ihm in seinem Modus zu begegnen. Damit erweitere ich mein Spektrum an Interaktionsmöglichkeiten ungemein."