Näher, als man denkt

Von Abdul-Ahmad-Rashid |
Fast vier Jahre sind seit den Anschlägen vom 11. September 2001 vergangen, doch das Verhältnis zwischen Orient und Okzident ist weiterhin eher gespannt als freundschaftlich. In seinem Buch "Missverständnis Orient" plädiert der ehemalige Finanzminister des Libanon für eine Intensivierung des Dialogs.
"Missverständnis Orient", so lautet der Titel des Werkes des Libanesen Georges Corm. Der Autor, Finanzminister seines Landes von 1998 bis 2000, heute Berater internationaler Organisationen, geht in seinem Essay von zweifellos höchstem intellektuellem Niveau gegen den imaginären Bruch an, der den "Orient" vom "Westen" trennt. Seine Kritik beruht dabei auf persönlichen Erfahrungen:

"Die Idee, dieses Buch zu schreiben, hatte ich bereits seit meiner Kindheit. Ich hörte immer viel über 'wir im Orient' und 'die im Westen', als wenn es da so einen großen Unterschied gäbe. Und in der Schule hatte ich viele Kameraden, die aus Europa kamen, Franzosen, Deutsche, Griechen und Italiener, und mir war nie so recht klar, wo denn ein Unterschied zwischen mir, der aus dem Orient stammt, und ihnen sein sollte. Doch als ich größer wurde, spürte ich dann doch eine gewisse Feindseligkeit mir gegenüber."

In der französischen Originalausgabe trägt das Buch den Titel "Orient - Occident, la fracture imaginaire”, übersetzt: "Orient und Okzident. Die eingebildete Trennung.". Corm vertritt darin die These, dass der Konflikt zwischen Orient und Okzident von den Menschen selbst verursacht worden ist. Dafür gibt er zunächst dem Westen die Schuld. In den ersten Kapiteln seines philosophischen Essais sucht er daher nach den geistigen Ursprüngen dieses "Missverständnisses". So macht er in erster Linie die europäischen Sprachforscher verantwortlich, welche

"ihrer Sprachkarte eine angebliche Spaltung der Welt in semitische und indoeuropäische Völker zugrunde legten. Diese Aufspaltung prägte anschließend sämtliche gelehrte und populärwissenschaftliche Diskurse über den Bruch zwischen Morgen- und Abendland. (…) Mit Hilfe dieser pseudowissenschaftlichen Grenzziehung zwischen Ariern und Semiten distanzierte sich das westliche Denken auf mythologischem Wege von der östlichen 'semitischen' Welt und zog jene Bruchlinie, die bis zum heutigen Tag die beiderseits des Mittelmeers maßgeblichen, vielfach von Feindseligkeit geprägten Wahrnehmungen der jeweils anderen Seite kennzeichnet."

Namhafte Intellektuelle wie Max Weber oder Ernest Renan seien von diesem Denken beeinflusst worden und hätten hieraus die Überlegenheit des Westens über den Orient abgeleitet. Ins Auge sticht Corms harsche Kritik am gängigen schwarz-weiß Denken des Westens, dessen Klischees, Vorurteile, geistige Enge und Naivität gegenüber einer ihm in weiten Teilen unbekannten Welt. Der Westen hätte seine einstige Stärke, die Fähigkeit zum kritischen Diskurs, aufgegeben und gegen die durch Narzissmus geprägte Variante ersetzt. Es gehe ihm oftmals nur noch um die Bestätigung seiner Stereotypen, ein offener Diskurs in der Sache sei selten möglich.

"Der narzisstische Diskurs des Westens über sich selbst kennt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der marxistischen Ideologien keine Grenzen mehr. Er hat den kritischen Diskurs, der einst doch seine Stärke war, zunehmend marginalisiert. (...) Wir sind allzu oft Gefangene einer binären Sicht des Daseins: Himmel und Hölle, das Gute und das Böse, Tradition und Moderne, Zivilisation und Barbarei, Orient und Okzident. Angesichts der Vielfalt und Unterschiedlichkeit in der Welt kann es nur verwundern, wie viele große Geister sich dazu hinreißen ließen, das Mannigfache ins Stereotyp zu pressen, in die binäre Logik des Ihr und Wir."

Dass der Westen dem Orient dennoch überlegen sei, ist auch für Corm eine unumstößliche Tatsache. Einen wichtigen Grund sieht er jedoch nicht in dem geistigen Erbe, sondern in der materiellen Vorrangstellung:

"Die Trennung ist erst durch die Industrialisierung entstanden. Sie besteht doch nicht für alle Ewigkeit: Hier der Orient als die Welt der Götter, der Mystik und des Fanatismus, und dort der Westen als die Welt der Rationalität, des Materialismus und so weiter. Dieses Buch ist in gewisser Weise ein Protest gegen diese beiden Klischees, und möchte gleichzeitig diese Mythologie zerstören, darüber, was der Westen von sich denkt und was die Orientalen über sich denken, denn wir sind auch verantwortlich dafür, dass diese Mythen entstehen und bestehen bleiben."

Auch an die eigene Seite richtet der Autor zahlreicher Bücher über die arabische Welt und den Libanon konkrete Forderungen. So spricht er sich strikt gegen die Vermischung von Staat und Religion, sowie von Politik und Moral aus. Diese führe nämlich in letzter Konsequenz lediglich zu einer Fanatisierung der Menschen und zu einer Emotionalisierung der politischen Debatte. So würde eine rationale Lösungsfindung nur äußerst schwer machbar, wenn nicht gar unmöglich.

"Die Laizität ist in der Tat der Schoß, aus dem die Staatsbürgerlichkeit spross. Sie ist auch ein stets wirksames Heilmittel gegen Fanatismus und die kollektive Neigung zum Autoritarismus. Sie ist das wahrhafte Fundament der Selbstbestimmung des Individuums und seiner Achtung vor den bestehenden Autoritäten."

Leicht zu lesen ist Corms Essay nicht. Es setzt ein großes Maß an abendländischer Bildung voraus. Wer nicht weiß, wer Edward Said war oder Ernest Renan, der französische Orientalist des 19. Jahrhunderts, oder Max Weber, Jürgen Habermas oder Karl Popper und deren Einflüsse nicht kennt, der tut sich schwer, Corms Ausführungen in die großen zivilisatorischen Abläufe des "narzisstischen Westens" einzuordnen: Vom Hellenismus, über Renaissance, Aufklärung, Ende des Kalten Krieges bis zur Globalisierung und dem angeblichen Triumph des Neoliberalismus. Mit seinem Essay möchte der Autor gegen gängige Klischees angehen, dennoch lässt er sie dadurch aber auch wieder auferstehen, indem er ständig mit ihnen spielt. Seine Thesen sind interessant und provokativ zugleich, aber nicht immer leicht vom Leser nachzuvollziehen. Dennoch zieht sich die Botschaft des Autors wie ein roter Faden durch das Buch und dringt schließlich an das Bewusstsein des Lesers: Orient und Okzident sind sich näher, als so mancher glauben möchte, und brauchen sich in vieler Hinsicht gegenseitig.

Georges Corm: Missverständnis Orient. Die islamische Kultur und Europa
Aus dem Französischen von Bodo Schulze
Rotpunkt Verlag, Zürich 2004
180 Seiten, 19,80 Euro