Iran unverzichtbar für Lösungen in Irak und Syrien
Die Waffenlieferungen Deutschlands an die Kurden im Irak hält der Politikberater Volker Perthes für richtig. Darüber hinaus könne Deutschland als Vermittler zwischen Saudi-Arabien und Iran auftreten. Ohne einen Ausgleich zwischen diesen Staaten sei der Kampf gegen den IS im Irak und in Syrien nicht zu gewinnen.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles wollen wir heute reden mit einem Wissenschaftler, der seinerseits Tacheles redet mit Politikern. Prof. Volker Perthes leitet das in Berlin ansässige Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik. Damit ist er einer der wichtigsten Politikberater Deutschlands. Guten Tag, Herr Perthes.
Volker Perthes: Tag, Herr Garber.
Deutschlandradio Kultur: Herr Perthes, in Ihrem Institut arbeiten mehr als 130 Mitarbeiter. Da hat jeder so sein Spezialgebiet. Und zu den Ihren gehört der Nahe Osten, gerade mal wieder sehr aktuell. – Hat die Bundesregierung Sie in letzter Zeit angerufen und um Rat gefragt in Sachen IS, Islamischer Staat?
Volker Perthes: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Und was haben Sie sagen können, was die Bundesregierung noch nicht wusste?
Volker Perthes: Das würde ich Ihnen natürlich nicht verraten, weil, Politikberatung braucht auch die Vertraulichkeit, dass man, wenn man mit Vertretern der Bundesregierung spricht, nicht am nächsten Tag oder eine Woche später im Radio mitteilt, wer dort welche Frage gehabt hat.
Aber was klar ist, ist, das Thema Islamischer Staat ist für alle Regierungen in Europa, in den USA, auch in Russland und China etwas Neues, was wir so noch nicht fassen können, wo wir einfach – und das gilt für Wissenschaftler genauso, für Journalisten wahrscheinlich auch – schon begriffliche Schwierigkeiten haben. Was ist das denn?
Das ist etwas, was sich Staat nennt, aber sicher keinen Beitrittsantrag zu den Vereinten Nationen stellen will. Das ist etwas, was staatliche Funktionen durchaus ausübt, also Steuern erhebt und Öl exportiert und Soldaten rekrutiert, was aber Staatsgrenzen anderer nicht anerkennt und sich auch auf dem Gebiet von derzeit zwei Staaten ausbreitet. Also, da haben wir noch ganz viele Schwierigkeiten zu begreifen, was das überhaupt für eine Art von Phänomen ist.
Deutschen Waffenlieferungen sind richtig
Deutschlandradio Kultur: Ohne zu indiskret zu fragen: Haben Sie der Bundesregierung auch geraten, Waffen an kurdische Kämpfer im Irak zu schicken?
Volker Perthes: Ich finde die Entscheidung, Waffen an die kurdischen Peschmerga, an die Armee der kurdischen Regionalregierung zu liefern, richtig und bin gleichzeitig immer darauf bedacht zu sagen, dass wir uns in Deutschland, das Gleiche gilt für andere europäische Staaten, klarmachen müssen, dass dies nur eine Notoperation ist und dass wir nicht aus dem politischen Schneider sind, wenn wir sagen, wir haben jetzt Waffen geliefert.
Sondern in dem Moment, wo wir Waffen liefern, notwendige Aktion, damit Erbil nicht überrannt wird, sind wir auch Partei in diesem Konflikt, haben Partei ergriffen und müssen jetzt gucken, was wir an politischen, an humanitären, an wirtschaftlichen, an diplomatischen Mitteln haben, um die kurdische Regionalregierung, aber auch die Regierung im Irak weiter zu begleiten.
Deutschlandradio Kultur: Gibt es irgendeine Möglichkeit zu verhindern, dass die Kurden diese Waffen eines Tages nicht gegen jemand anderes richten, zum Beispiel gegen unseren Nato-Partner Türkei, wenn es um die Errichtung eines unabhängigen kurdischen Staates geht?
Volker Perthes: Also, wir sollten uns klar darüber sein, und ich glaube, die Entscheidungsträger, also die verantwortlichen Minister und die Kanzlerin in Deutschland, sind sich dessen auch bewusst gewesen, dass Waffenlieferungen immer Risiken beinhalten. Da gibt’s abstrakt gesagt zwei. Das eine ist, dass Waffen ihren Weg zu anderen Kämpfern finden als zu denen, für die sie vorgesehen sind. Und das zweite ist, dass sie missbraucht werden in einem anderen Konflikt.
Und hier muss Politik Risiken abschätzen. Das ist ein großer Teil der Verantwortung, in der gewählte Politiker stehen. Sie muss sagen: Ist das Risiko größer, dass eins von diesen Szenarien sich realisiert? Oder ist das Risiko hier größer, dass die kurdische Regionalregierung zusammenbricht, weil sie überrannt wird vom Islamischen Staat? Und was heißt das eigentlich für die Situation in der Region? Heißt das, dass noch mehr Flüchtlinge nicht wissen, wo sie hin sollen? Heißt das, dass noch mehr Flüchtlinge dann eben nicht in die kurdische Autonomieprovinz gehen, sondern in die Türkei? Noch mehr Instabilität in der Region?
Ich muss hier nicht entscheiden, aber hätte ich entscheiden müssen, hätte ich gesagt, dieses zweite Risiko ist das größere. Und deshalb ist es richtig, hier diese Notoperation auch der Waffenlieferungen, konzentriert an ein oder zwei Kampfbrigaden, tatsächlich zu übernehmen und damit auch Verantwortung zu übernehmen.
In Syrien ist PKK drängendstes Problem
Deutschlandradio Kultur: Diese Risiken bestehen allerdings nicht nur im Irak, wo jetzt deutsche Waffen geliefert werden, sondern auch in Syrien. – Bedeutet das, dass eines Tages die Bundesregierung Waffen auch an die Kurden zum Beispiel in Nord-Syrien liefern könnte, sollte, müsste?
Volker Perthes: Ich denke, das wird sie zumindest kurzfristig nicht tun. Hier sind andere Fragen zurzeit zu klären. Zum Beispiel: Wie gehen wir tatsächlich mit der PKK um?
Deutschlandradio Kultur: Die andere kurdische Organisation…
Volker Perthes: … die türkisch-kurdische Organisation, Kurdische Arbeiterpartei in der Türkei, lange als Terrororganisation definiert, bei uns als Terrororganisation definiert, natürlich wehren sie sich selber gegen diese Bezeichnung, mittlerweile aber mit ihrem syrischen Ableger in vorderster Front im Kampf gegen den Islamischen Staat.
Ich denke, bevor wir jetzt anfangen über Waffenlieferungen nachzudenken, und wir können nicht an jeden und alle Waffen liefern, das wäre sicherlich auch keine Lösung, sollten wir überlegen, was das Verhältnis der europäischen Staaten zur PKK ist, und gleichzeitig die Türkei ermutigen, ihren Friedensprozess mit der PKK, der ja begonnen worden ist unter dem damaligen Premierminister, heutigen Präsidenten Erdogan, diesen Friedensprozess ernsthaft fortzusetzen.
Deutschlandradio Kultur: Auf die Türkei kommen wir später vielleicht noch mal. Die Strategie der USA und ihrer Verbündeten in diesem Kampf gegen den Islamischen Staat sieht nur Luftschläge vor. Den Kampf am Boden überlässt man regionalen Kräften – den Kurden, der irakischen Armee, gemäßigten Milizen in Syrien. Die werden derzeit entsprechend ja ausgerüstet und ausgebildet. – Kann man damit den Islamischen Staat tatsächlich in die Knie zwingen mit dieser Arbeitsteilung?
Amerikaner verfolgen Eindämmungsstrategie
Volker Perthes: Zurzeit ist die Strategie, die von den Amerikanern geführt wird, eine Eindämmungsstrategie oder Containment-Strategie. Es geht auch darum, eine weitere Expansion dieses Phänomens Islamischer Staat zu verhindern. Und ich glaube, das ist auch richtig. Expansion dieses sogenannten Islamischen Staates hieße unmittelbare Gefährdung der kurdischen Regionalregierung, darüber haben wir geredet, aber auch des Libanon, auch Jordaniens, also von anderen Orten, wo zum Beispiel Millionen Flüchtlinge derzeit untergebracht sind und wo Staaten einfach noch funktionieren. Dies gilt es zu verhindern. Das ist der erste Schritt.
Und dann geht es darum, die Expansion dieses sogenannten Islamischen Staats nicht nur zu stoppen, sondern ihn zu bekämpfen, ihn einzuschrumpfen, wie Präsident Obama an einer Stelle gesagt hat. Und das kann tatsächlich nur von lokalen Kräften geschehen. Das ist nicht nur ein militärischer Kampf. Es ist vor allem ein politischer Kampf. Es hat ganz viel damit zu tun, ob die Regierung in Bagdad wieder die Loyalität oder auch nur die Anerkennung ihrer eigenen Bürger in den sunnitisch-arabischen Provinzen des Irak gewinnen kann. Das hat also etwas mit Politik und Mentalitätswechsel im Irak zu tun. Das hat was damit zu tun, ob man genügend Ressourcen in diese Gegend liefert. Und das können Ausländer nicht machen. Die Amerikaner haben das versucht von 2003 aufwärts, einen Staat nach ihren Vorstellungen im Irak zu errichten. Und sie sind grandios gescheitert.
Und wenn wir uns das Gleiche vornehmen würden jetzt für den Irak oder für Syrien, würden wir genauso grandios scheitern. Also, es muss eine politisch-militärische Strategie sein, die in allererster Linie von lokalen Kräften geführt wird. Und externe Kräfte wie wir oder die Amerikaner oder andere können vielleicht helfen.
Rat an Obama: Bei Bodentruppenverzicht bleiben
Deutschlandradio Kultur: Externe Kräfte wären ja auch die arabischen Militärangehörigen, die an der Seite der USA kämpfen gegen den Islamischen Staat, erstmal mit Luftschlägen, wie gesagt. – Können Sie sich vorstellen, dass – wenn dann mal Bodentruppen eingesetzt werden, um den militärischen Teil dieser Strategie noch ein bisschen zu beleuchten – dann auch Truppen auch anderen arabischen Ländern dort eingreifen würden? Denn die USA haben sich ja festgelegt. Sie schicken keine "boots on the ground".
Volker Perthes: Ja, und ich würde dem Präsident Obama raten, auch bei dieser Festlegung zu bleiben. Das ist ja nicht immer sicher in der Politik, dass man sich auf etwas festlegt und dann gilt das auch ein Jahr später noch. Das muss auch gar kein Vorwurf sein. Das Umfeld ändert sich gelegentlich.
Ich glaube, wir haben tatsächlich gelernt, wir Deutschen und andere, in Afghanistan, die Amerikaner und andere im Irak, dass – wenn es darum geht, eine Gesellschaft und einen Staat relativ grundlegend zu verändern – das erstens eine Generationenaufgabe ist und zweitens nicht von außen gemacht werden kann. Haben die Saudis, haben die Emiratis, haben andere, die jetzt bei den Luftoperationen beteiligt sind, eine Rolle möglicherweise bei der Unterstützung des irakischen Militärs "on the ground"? Vielleicht ja, aber ich glaube, nur sehr zurückhaltend.
Was wir in erster Linie hier sagen müssen, ist: Es hat ja die Unterstützung – nicht des saudischen Staates oder des kuwaitischen Staates, aber aus Saudi Arabien und aus Kuwait und aus Katar – für diese Bewegungen gegeben, die zum Teil im Islamischen Staat heute aufgegangen sind.
Deutschlandradio Kultur: Der Emir von Katar hat ja neulich in Berlin das dementiert.
Volker Perthes: Ja, er hat zu Recht dementiert, dass der Staat Katar den Islamischen Staat unterstützt hätte. Aber der Staat Katar hat andere Bewegungen unterstützt, die mittlerweile vom Islamischen Staat überrannt oder übernommen worden sind. Und es ist eben viel privates Geld aus diversen Golfstaaten, arabischen Golfstaaten gesammelt worden nach den Freitagspredigten und ist meist immer an die radikalsten Elemente, die radikalsten Kämpfer gegangen. Da hat man nicht so genau hingeguckt.
Und ich glaube, wichtiger als die Frage, ob vielleicht Katar ein paar Infanteristen schickt oder Saudi-Arabien eine Panzerkompanie schickt, ist, ob es aus Saudi-Arabien und aus den anderen Golfstaaten her eine überzeugende politische Alternative gibt, die sagt, wir unterstützen sehr wohl die arabischen Sunniten im Irak, aber wir unterstützen sie gegen den Islamischen Staat und versuchen ihnen zu helfen und der irakischen Regierung zu helfen, miteinander ein Auskommen zu finden.
Mandat des Sicherheitsrates wäre richtiger gewesen
Deutschlandradio Kultur: Die USA führen diese Intervention, die zurzeit militärisch läuft, an. Und ihnen wäre wahrscheinlich ein Mandat der UNO im Rücken lieber gewesen als diese selbst gebastelte Koalition, die das macht. Sie haben ja schon angesprochen, mehrere arabische Länder aus der Region unterstützen das auch militärisch.
Allerdings ist es völkerrechtlich wohl etwas fragwürdig, sobald es oder seit es auf syrisches Gebiet auch zielt. Der Irak hat um Hilfe gebeten. Syrien hat nicht um Hilfe gebeten. Russland hat das schon kritisiert. – Warum spielt Russland da nicht mit?
Volker Perthes: Ich bin nicht sicher, ob man Russland nicht einen weiteren halben Schritt mit ins gemeinsame Boot hätte holen können. Sozusagen mit einem halben Schritt ist es ja drin, weil es das Ziel dieser Koalition unterstützt, weil es selber den Islamischen Staat und ähnliche Organisationen für eine große Gefahr hält. Ob man Russland nicht weiter ins Boot hätte holen können, wenn man frühzeitig gesagt hätte, wir kümmern uns um eine Mandatierung dieses Einsatzes durch den UNO-Sicherheitsrat. Das liegt gewissermaßen nicht in der politischen DNA der Amerikaner, als erstes in den Sicherheitsrat zu gehen, ein Mandat sich zu suchen, sondern sie bauen erst eine Koalition und dann gibt es vielleicht hinterher noch ein Mandat. Das ist so ausgeblieben.
Es hat ein klares Hilfsersuchen des Irak gegeben, darauf haben Sie hingewiesen. Und was in Syrien zurzeit geschieht, ist – ich denke – in einer völkerrechtlichen Grauzone, weil, man hat die syrische Regierung informiert und die hat nicht protestiert. Und insofern hat die syrische Regierung ihrem Verbündeten Russland ein stückweit auch das Argument genommen, dass es hier sich klar um einen völkerrechtswidrigen Angriff oder Eingriff der Amerikaner handelte.
Gleichwohl, ich bin mit Ihnen einer Ansicht, es wäre sehr viel richtiger gewesen, im Sicherheitsrat nicht nur eine klare Ansage zu machen, sondern auch sich zumindest darum zu bemühen, ein Mandat für diesen über die Grenzen des Irak hinausgehenden Einsatz zu geben. Richtig ist, sozusagen aus pragmatischer realpolitischer Sicht: Es würde nicht ausreichen und es wäre vermutlich sogar verheerend, wenn sie den sogenannten Islamischen Staat durch militärische Angriffe aus dem Irak vertreiben und der dann alle seine Kräfte nach Syrien verlagert und möglicherweise als nächstes die Großstadt Aleppo unter Feuer nimmt und erobert.
Schlüssig, dass Luftschläge auch in Syrien stattfinden
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch ein bisschen beim Völkerrecht, Herr Prof. Perthes. Die Hilfskonstruktion, mit der man das jetzt gerechtfertig hat, dass auch in Syrien Luftschläge stattfinden, das ist Artikel 51 der UNO-Charta, Recht auf kollektive Selbstverteidigung. Ist das schlüssig? Kann man das so legitimieren?
Volker Perthes: Das ist schlüssiger als in manch anderen Situationen, wo militärische Gewalt eingesetzt worden ist. Für die Amerikaner ist es sicherlich schlüssig, weil sie sagen, hier sind amerikanische Staatsbürger ums Leben gebracht worden. Also, es hat ein Element der Selbstverteidigung. Für den Irak ist es sehr schlüssig, dass in einer Situation, wo die Grenzen zwischen Irak und Syrien de facto heute keine Bedeutung mehr haben und der Islamische Staat sich frei über die Grenzen bewegt, dass man dann mit den militärischen Schlägen gegen diesen Islamischen Staat nicht da aufhören kann, wo die Grenze auf der Karte ist.
Und tatsächlich scheint es so, dass das Regime in Damaskus, mit dem niemand offiziell redet, aber manche eben doch über dritte Kanäle reden, das ganz ähnlich sieht.
Deutschlandradio Kultur: Die Gebiete, die der Islamische Staat in Syrien und dem Irak erobert hat, die liegen im Binnenland. Nachschub an Waffen und ausländischen Kämpfern kann also nur auf dem Land- oder Luftweg kommen. Er kommt. Die Anrainerstaaten scheinen das ja bisher nicht sehr effizient unterbinden zu können oder unterbinden zu wollen. – Wer passt da nicht genug auf? Die Türkei?
Sehr viele Waffen im Irak und Syrien verfügbar
Volker Perthes: Die Türkei hat sicherlich nicht genug aufgepasst, insbesondere was den Zustrom von ausländischen Kämpfern angeht. "Ausländischen" heißt sowohl europäischen, amerikanischen, russischen als auch anderen arabischen Kämpfern, also Saudis etwas, die ein Ticket nach Istanbul gebucht haben und sich dann an die syrisch-türkische Grenze begeben haben und nach Syrien gereist sind.
Was die Waffen angeht, da braucht es gar nicht so viel Versorgung aus dem Ausland, sondern es gibt in Syrien und im Irak eben sehr viel davon. Viele der Waffen bei den unterschiedlichsten Rebellengruppen und auch bei einer Organisation wie dem Islamischen Staat kommen aus Beständen der irakischen und der syrischen Armee. Zum Teil sind die erobert worden. Das gilt insbesondere für die Bestände in der irakischen Armee. Die ganzen amerikanischen Militärfahrzeuge gehörten zur irakischen Armee.
In Syrien wird auch – weil der Staat durch und durch korrumpiert ist – einfach viel an Waffen und Munition verkauft zwischen Regime und diversen Gegnern des Regimes.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, über die Türkei kommen eine ganze Menge ausländischer Kämpfer in die Kriegsgebiete und schließen sich dann dem IS an. – Hat die Türkei dabei vielleicht deshalb nicht so genau hingeschaut, weil es ihr durchaus zupasskommt, wenn islamistische Milizen die Truppen das Assad-Regimes, des einen großen Gegners, und eben auch die Kurden in der Region unter Druck setzen?
Volker Perthes: Für die Türkei gilt das Gleiche, was hier für Saudi-Arabien und andere gegolten hat, zumindest in den ersten Jahren des Aufstands gegen Bashar al-Assad. Man hatte sich vorgenommen, den Aufstand gegen Bashar al-Assad zu unterstützen und war sicher, dass der relativ schnell Erfolg haben wird. Und dann hat man tatsächlich nicht genau hingeguckt oder besser gesagt, man hat überhaupt nicht hingeguckt, wer sich da alles einreihte in den Kampf gegen Bashar al-Assad, und hat gesagt, sich selbst gesagt, sich selbst überzeugt, das wird nicht furchtbar lange dauern. Und wenn die eine oder andere radikale Splittergruppe auch dabei ist, damit werden wir hinterher fertig.
Das war eine Fehlkalkulation. Es war, denke ich, auch bei diversen Kräften eine falsche Prioritätensetzung – nicht, dass es nicht legitim gewesen wäre, die Gegner von Bashar al-Assad zu unterstützen, sondern dass man gesagt hat, dies hat absolute Priorität und egal, wie viel Menschen dabei ums Leben kommen, und egal, ob das Land dabei zerstört wird. Da hat man eben auf einen schnellen militärischen Sieg und auch auf eine Militarisierung der Auseinandersetzung gesetzt, anfänglich war das ja ein ziviler friedlicher Aufstand, und damit sicher Fehler gemacht.
Türkei könnte sehr viel mehr tun, um IS einzudämmen
Deutschlandradio Kultur: Präsident Erdogan, der türkische Staatspräsident, hat jetzt Andeutungen gemacht, die Position seines Landes möglicherweise etwas zu revidieren. – Glauben Sie, dass die Türkei willens und auch in der Lage ist, den Transit etwa von Kämpfern ins IS-Territorium und zurück zu unterbinden?
Volker Perthes: Ich bin nicht sicher, ob sie sozusagen jeden Einzelnen daran hindern kann, über die Grenze zu gehen. Auch da gibt es ja Grenzen, die schwierig zu kontrollieren sind. Aber sie kann sehr viel mehr tun. Viele sind ja über offizielle Grenzübergänge eingereist.
Sie ist auch etwas freier zu handeln, seitdem die 49 türkischen Geiseln, die der Islamische Staat in Mossul in seine Gewalt gebracht hat, wieder freigesetzt worden sind. Es gibt viele Vermutungen, zu welchen Bedingungen sie freigesetzt worden sind. Das weiß ich auch nicht, ob die Türkei mit einem gewissen Stillhalten sich die Freilassung dieser Geiseln gesichert hat oder nicht. Aber jedenfalls sind die Geiseln jetzt wieder zurück in der Türkei und insofern hat Erdogan da auch eine größere Handlungsfreiheit.
Für ihn gibt es viele politische Fragen, die er klären und lösen muss. Dazu gehört das Verhältnis mit der PKK, mit den Kurden in der Türkei selbst, mit den kurdischen Nachbargebieten auch in Syrien. Aber da haben wir gesehen, dass die Türkei in der Vergangenheit bereit war dazuzulernen. Es gibt einen Friedensprozess innerhalb der Türkei. Und es gibt mittlerweile ein sehr gutes Verhältnis zwischen der Türkei und der irakischen kurdischen Regionalregierung. Die Türkei ist dort der wichtigste Investor, der wichtigste Handelspartner. Und da hat sicherlich auch gerade die Regierung von Herrn Erdogan gesehen, dass es besser ist, mit den kurdischen Nachbargebieten ein gutes Verhältnis zu haben, als mit denen im Konflikt zu stehen.
Iran ist unverzichtbar für politische Lösungen der Konflikte
Deutschlandradio Kultur: Ein weiterer wichtiger Akteur in der Region ist der Iran. Der hat ebenfalls Waffen und Militärberater in den Irak geschickt, um dort den Kampf gegen den Islamischen Staat zu unterstützen. Der Iran ist aber nicht Teil der von den USA geführten Koalition gegen den IS. – Noch nicht?
Volker Perthes: Ich glaube, offiziell wird er es auch nicht sein. Es wird eine taktische Koordinierung geben. Es hat ja seit einigen Jahren das historisch vielleicht einmalige Verhältnis gegeben, dass zwei Antagonisten, also Iran und die USA, im Irak den gleichen Ministerpräsidenten, die gleiche Regierung gestützt haben. Jetzt sind sie gemeinsam im Kampf gegen den Islamischen Staat engagiert. Am Boden gibt es sicherlich taktische Kooperationen oder Koordinationen. Die Iraner, anders als die Amerikaner, sind eben auch mit Bodentruppen ihrer so genannten Revolutionären Garden vorhanden.
Wenn man jemanden braucht, der Zielkoordinaten liefert, können die Iraner das eher als die Amerikaner mit eigenen Kräften. Ob das direkt geschieht oder eher über den Umweg der irakischen Armee, weiß ich nicht, aber man wird schon wissen, wie man die Informationen, die hier notwendig sind, zueinander bringt.
Deutschlandradio Kultur: Das ist die militärische Seite. Für eine politische Lösung wäre der Iran wahrscheinlich auch unverzichtbar, oder?
Volker Perthes: Der Iran ist unverzichtbar für politische Lösungen, sowohl im Irak als auch in Syrien. Und im Irak hat diese Koordination tatsächlich funktioniert. Als alle beteiligten Kräfte gesehen haben, dass der ehemalige Premierminister Maliki in vielfacher Hinsicht versagt hat, dass es unter seiner Führung nicht möglich sein wird, den irakischen Staat zusammenzubauen und die arabischen Sunniten zurück in den Staat zu bekommen, hat es diese Einigung gegeben zwischen Iranern und Amerikanern, und die Saudis hat man auch mit ins Boot geholt, dass man ohne den Staat zu beschädigen doch die Spitze der Regierung auswechseln kann und will. Und das ist gelungen.
Letztlich braucht es eine ähnliche politische Koordination, wenn man einen politischen Prozess in Syrien auf den Weg bringen will. Alle wissen mittlerweile und alle reden davon, dass es eine militärische Lösung in Syrien nicht geben wird. Ich meine hier nicht den Kampf gegen den Islamischen Staat, sondern den Kampf zwischen Regierung und Rebellen, sondern dass man hier einen politischen Prozess braucht. Das wird nicht gehen, wenn die Iraner, die in der Region die stärksten Unterstützer Assads sind, hier nicht mit dabei sind und auch sicher sind, dass eine neue, breitere inklusivere syrische Regierung iranische Interessen zumindest respektieren wird.
Mehr Kooperation zwischen Saudi-Arabien und Iran nötig
Deutschlandradio Kultur: Sie haben schon die Saudis angesprochen. Saudi-Arabien spielt ja auch eine große Rolle in der Region. – Ist es denkbar, dass man sich da an einen Tisch setzt? Es gibt ja auch die Theorie, dass das, was bisher in Syrien vor dem Auftreten des IS geschehen ist, mehr oder weniger ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Iran und Saudi-Arabien gewesen sei.
Volker Perthes: Ich würde es als einen Hegemonialkonflikt im Nahen Osten bezeichnen zwischen den beiden großen regionalen Antagonisten Saudi-Arabien und Iran, die beide zeitweise bereit waren, ihren Konflikt auf dem Rücken ganz vieler Syrer und Iraker auszutragen, ungeachtet der Zerstörung und des Verlusts von Leben in beiden Ländern.
Wir haben jetzt zumindest erstmals ein Treffen gehabt nach langer Zeit zwischen den beiden Außenministern, dem saudischen und dem iranischen. Ich glaube, da muss mehr draus werden. Bei den Außenministern ist es ja die Funktion, diplomatisch zu versuchen, Dinge anders zu lösen als durch harte Auseinandersetzungen. Da müssen die Hardliner in beiden Staaten überzeugt werden, dass es letztlich besser ist, wenn es eine Form von Ausgleich gibt zwischen Riad und Teheran.
Und tatsächlich ist es so. Ohne einen Ausgleich zwischen Riad und Teheran wird man auch den Kampf gegen den Islamischen Staat im Irak und in Syrien nicht gewinnen können. Denn dieser hegemoniale Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran befeuert diese heftige konfessionelle Polarisierung zwischen Schiiten und Sunniten, die wir in den letzten Jahren erlebt haben.
Sunniten und Schiiten haben in der Region schon immer zusammengelebt. Und sie müssen nicht in Konflikt miteinander stehen. Aber in den letzten Jahren ist es zu einer heftigen Eskalation der Polarisierung zwischen diesen beiden großen Konfessionsgemeinschaften gekommen, die jeden Versuch einer politischen Beilegung der Differenzen im Irak und in Syrien unterminiert.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen also, dass diese konfessionellen Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten eher die Folge waren bzw. verschärft worden sind durch den Hegemonialkonflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien als umgekehrt? Es gibt ja auch die Lesart, dass da eben alte religiöse Probleme aufgebrochen sind, ähnlich wie die Glaubenskriege im Europa der frühen Neuzeit. Oder ist das ein ganz schräger historischer Vergleich?
Wenn der Staat versagt, gewinnt Religion an Bedeutung
Volker Perthes: Ich finde den Vergleich sogar ganz gut, weil Protestanten und Katholiken, das wissen wir ja 500 Jahre nach dem 30-jährigen Krieg, müssen nicht im Krieg miteinander leben.
Aber wenn Menschen beginnen sich zu orientieren an diesen tradierten Identitäten, anstatt an anderen Begriffen, also an ihrem Staat oder an ihrem Recht auf Bürgerschaft in einem Staat? Nämlich dann, wenn Staaten nicht funktionieren oder wenn Staaten keine Alternative darstellen, wenn Staaten keine Zukunft versprechen, dann wird es plötzlich wichtig, dass man sich erinnert. Und erinnern tut man sich immer selektiv an Konflikte aus der Vergangenheit.
Dann kann es plötzlich sein, dass ein vierzehnhundert Jahre alter Konflikt über die richtige Nachfolge des Propheten Muhammad zu einem tagespolitisch relevanten Konflikt wird. Dann werden plötzlich Symbole aus der Vergangenheit, wie die schwarze Flagge der Abbasiden, die der Islamische Staat nutzt, zu einem mächtigen Symbol, was zur Mobilisierung hilft.
Und es muss Kräfte geben, die bereit sind, diese Identitäten und diese Symbole gezielt zu nutzen, um Menschen für heutige politische Ziele zu mobilisieren. Und das haben wir erlebt, gerade auch zwischen Saudi-Arabien und Iran. Und es gibt natürlich in Saudi-Arabien Kräfte im religiösen Establishment, die tatsächlich überzeugt sind, dass die Schiiten Ungläubige sind, die zu bekämpfen sind. Aber die Staatsführung Saudi-Arabiens ist selber realpolitisch genug, um zu wissen, dass das Gefühle sind, die man mobilisieren kann, die man aber, wenn man sie mobilisiert hat, nicht mehr so leicht zurück in die Flasche bekommt wie den sprichwörtlichen Geist, der dort freigesetzt worden ist.
Eine Art "Wiener Kongress" nötig
Deutschlandradio Kultur: Frank-Walter Steinmeier, der Bundesaußenminister, hat vor einiger Zeit die Idee einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten vorgebracht, angelehnt an die KSZE in Europa in den 70er- und 80er-Jahren, die damals ja den Kalten Krieg einigermaßen erfolgreich eingedämmt hat. – Ist das ein praktikables Vorbild für diese Region?
Volker Perthes: Ich bin nicht sicher, dass so eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit genau das Konzept oder das Modell sein wird. Vielleicht bin ich da ein stückweit pessimistischer und suche andere historische Vorbilder und denke zurzeit, dass wir eher so etwas brauchen wie den Wiener Kongress, also den Kongress, bei dem vor 200 Jahren in Europa nach der Zerstörung, die Napoleon über Europa gebracht hat, alle Mächte erstmal gesagt haben, wir müssen Ordnung wiederherstellen, und alle Mächte bereit waren, sich gegenseitig zu akzeptieren und zu sagen: Unabhängig von Rang und Status und politischer Ausrichtung und politischem System setzen wir uns mal zusammen und versuchen Ordnung wiederherzustellen. – Das ist wahrscheinlich das, was tatsächlich notwendig wäre.
Im Ergebnis kann es auf etwas ganz Ähnliches hinauslaufen. Und auch hier ist es wieder zentral, dass man sagen würde: Die wichtigsten Staaten Saudi-Arabien und Iran und dann in zweiter Reihe Staaten wie Ägypten und die Türkei und andere, die hier im Nahen und Mittleren Osten tatsächlich eine wichtige Rolle spielen, die müssen sich darauf einigen, dass sie sich gegenseitig akzeptieren. Und dann kann man über das Konferenzformat streiten.
Deutschlandradio Kultur: Wie immer dieses Format auch sein könnte, welche Rolle sehen Sie da für die Bundesrepublik Deutschland? Können wir uns da einbringen bei politischen Lösungen, zum Beispiel durch unsere ganz guten Beziehungen zum Iran?
Deutschland könnte zwischen Saudi-Arabien und Iran vermitteln
Volker Perthes: Wir können, gerade was das Verhältnis Saudi-Arabien und Iran angeht, versuchen gute diplomatische Dienste zu leisten, indem wir beiden Seiten anbieten: Wenn ihr unsere Hilfe, unsere Unterstützung, unsere Ideen braucht oder auch den Ort, wo ihr euch treffen wollt, dann bieten wir das gerne an.
Aufdrängen können wir uns nicht. Wir können deutlich machen, wie wichtig uns das ist, dass lokale Konflikte oder regionale Konflikte beigelegt werden. Tatsächlich ist es natürlich so, das zeigt das Treffen der beiden Außenminister, des saudischen und des iranischen, wenn der politische Wille da ist, können sie sich auch ohne unsere Hilfe treffen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Perthes, der frühere US-Botschafter im Irak, James Jeffrey, der hat vorgestern in der Wochenzeitung DIE ZEIT gesagt, im Nahen Osten gebe es kein Happy End. Diese Region werde auf lange Sicht chaotisch bleiben. Und dagegen könne die Weltgemeinschaft auch gar nichts tun. – Sind Sie da auch so pessimistisch? Kein Happy End für den Nahen Osten?
Volker Perthes: Na ja, ich weiß nicht, ob es überhaupt in der Geschichte Happy Ends gibt. Die These vom Ende der Geschichte ist ja schon einmal mindestens durch die Realität infrage gestellt worden. Aber lassen Sie mich etwas anders antworten:
Was wir zurzeit sehen an Turbulenzen im Nahen und Mittleren Osten, ist sicherlich eher der Beginn als das Ende einer möglicherweise ein, zwei Dekaden oder eine Generation lang dauernden Auseinandersetzung. Wenn Sie sich nicht nur die politischen, sondern vor allem die sozialen, die demographischen und die ökonomischen Faktoren in der Region anschauen, ich sage nur, im Staat wie Saudi-Arabien sind 60 Prozent der Bevölkerung unter 30 und die politische Führerschaft ist über 85. Wenn Sie sich die demographischen, sozialen und politischen Faktoren anschauen, dann wird relativ klar, dass in 10, 15 Jahren kaum ein Staat in der Region noch so aussehen kann wie er heute aussieht. Und wie sich das ändert, wissen wir nicht.
Ob Staaten in der Lage sind, sich von der Spitze her oder im Konsens zwischen politischer Elite und Gesellschaft zu reformieren wie vielleicht in Tunesien oder in Jordanien, gut wär’s oder ob Staaten durch revolutionäre Bewegungen verändert werden oder ob Staaten zerfallen, das können wir nicht vorhersehen, aber Veränderung wird stattfinden.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Volker Perthes wurde 1958 in Duisburg geboren. Er ist Politikwissenschaftler und seit 2005 Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, die Bundesregierung und Bundestag berät. Perthes promovierte 1990 an der Universität Duisburg mit einer Arbeit über Staat und Gesellschaft Syriens. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten ihn unter anderem an die Amerikanische Universität in Beirut.