Nahles: Kanzlerin muss ihre Afghanistan-Strategie erklären
Die neue SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles fordert von Angela Merkel eine klare Aussage zum künftigen Einsatzkonzept der Bundeswehr in Afghanistan. Noch vor der Afghanistan-Konferenz Ende Januar in London müsse die Kanzlerin das Parlament über die Ziele und Grundsätze des Truppeneinsatzes informieren, sagte die Politikerin.
Deutschlandradio Kultur: "Krieg und Lüge", so titelt die Wochenzeitung "Die Zeit". Hat sich Deutschland in Afghanistan schuldig gemacht?
Andrea Nahles: Die Frage heißt ja eher, ob der Verteidigungsminister Guttenberg die Wahrheit oder die Unwahrheit gesagt hat. Und das ist zumindest zweifelhaft. Wenn ein Viersternegeneral, Herr Schneiderhan, jetzt sagt, dass er den Minister ausreichend informiert hat, dann kann nur einer die Wahrheit sprechen – entweder der Verteidigungsminister, der ihn entlassen hat mit der Behauptung, er habe ihn nicht informiert, oder eben Herr Schneiderhan. Das ist es, worum es geht in der Frage Wahrheit oder Lüge.
Ich halte auch nichts davon, jetzt den Eindruck zu erwecken, dass alle, die Herrn Guttenbergs Verhalten kritisieren, sich gegen die Truppe stellen oder den Einsatz unserer Soldaten in Afghanistan pauschal kritisieren. Das tun wir nicht. Und der letzte Verteidigungsminister der SPD, Herr Peter Struck, war immer jemand, der sich da ganz klar dazu verhalten hat. Und auch die neue Führung der SPD tut das. Darum geht es nicht. Das sind Ablenkungsmanöver und die machen wir nicht mit.
Deutschlandradio Kultur: Es geht einerseits um Informationspolitik, aber es geht natürlich auch um die Frage, die zentrale Frage: Dürfen deutsche Soldaten gezielt Taliban-Kämpfer töten, auch wenn sie nicht direkt angegriffen werden? Wie steht die SPD dazu?
Andrea Nahles: Das hat es in der Vergangenheit gegeben. Davon wussten wir auch. Allerdings gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Und der ist hier offensichtlich brachial verletzt worden. Verhältnismäßig ist das nicht, wenn es keine direkte Gefährdung gibt, aber gleichzeitig klar ist, dass noch Zivilisten und andere Beteiligte vor Ort sind. Und es ist auch nicht in Ordnung, einen Bombenabwurf herbeizuführen ohne gesicherte Datengrundlage. Seit einiger Zeit gab es KSK-Einsätze. Wir haben sie bei OEF beendet unter der Großen Koalition. Wir haben sie bei ISAF weiterlaufen gehabt. Es gibt keinen rechtsfreien Raum, auch nicht in einer Situation unter großem Druck. Dafür haben wir auch Absicherungsmechanismen, Rücksprache und Hierarchien vor Ort, die hier teilweise eben nicht korrekt informiert wurden. Das muss man, nachdem wir jetzt mittlerweile auch Protokolle der genauen Abläufe kennen, leider sagen.
Das ist an sich kein Weltuntergang, wenn man damit offen umgeht. Jeder weiß, dass die Leute vor Ort in sehr schwierigen Umständen agieren müssen. Aber wenn dann vertuscht wird und wenn dann wirklich nicht die Wahrheit gesagt wird, dann ist das für eine Parlamentsarmee ein besonderes Problem. Die Deutschen sind eine Parlamentsarmee und haben eben dem Deutschen Bundestag gegenüber auch Auskunftspflicht. Das gilt übrigens auch für den Verteidigungsminister.
Deutschlandradio Kultur: Nun sagen Sie oder man hört es zumindest: Da müssen Konsequenzen folgen. Wie sollen die denn aussehen?
Andrea Nahles: Die erste Konsequenz ist, dass ich die Wahrheit hören will, nicht die Situation erleben möchte, dass mir ein Verteidigungsminister im Deutschen Bundestag erklärt als deutsche Bundestagsabgeordnete, dass eine Wahrheitsfindung nicht seinem Niveau entspricht.
Die simple Frage heißt: Warum hat er eigentlich Herrn Schneiderhahn und den Staatssekretär Wichert entlassen? Die Wahrheit ist doch offensichtlich, dass es nicht so gelaufen ist, wie er uns bisher mitgeteilt hat. Das hatte zur Folge, dass auch ein Minister, nämlich der Kollege Jung damals, gehen musste. Für Guttenberg, auch wenn er noch so beliebt ist, wenn er noch so nassforsch ist, wenn er noch so schneidig auftritt, gelten keine anderen Maßstäbe als für Minister Jung.
Deutschlandradio Kultur: Aber das ist das Berlin-Mitte-Problem. Noch mal zurück zu Ihrer Verantwortung, die Sie eine Parlamentsarmee haben. Militärs sagen: Wenn man solche Luftangriffe verhindern will, dann braucht man mehr Truppen. Oberst Klein hätte mit zusätzlichen Truppen diesen Einsatz auch anders gestalten können. Sind Sie bereit, mehr Bundeswehrsoldaten im Ernstfall nach Afghanistan zu schicken als SPD?
Andrea Nahles: Also, ich sehe zurzeit überhaupt noch keine Veranlassung, irgendwelche Aussagen dazu zu treffen. Wir wissen nicht, wie die militärische Lage dort eingeschätzt wird. Die Bundeskanzlerin äußert sich nicht dazu. Und das ist eine Angelegenheit der Bundesregierung, uns erst mal darüber aufzuklären, wie sie die Lage dort einschätzt und wie sie außerdem gedenkt, im Verbund mit der Nato, die dort vor Ort ist, im Verbund mit den Amerikanern insbesondere, jetzt eine Exit-Strategie vorzubereiten, also eine Strategie, die Präsident Obama ja bereits von seiner Seite aus offen gelegt hat. Wir haben aber dazu von Frau Merkel überhaupt noch nichts gehört. Was will sie tun?
Bevor sie also die Opposition fragt und die Parlamentarier, wie mich, ob wir ihrer Strategie folgen, müsste man jetzt erst mal wissen: Was ist denn eigentlich ihre Strategie? Wie will sie denn jetzt eigentlich in den nächsten Monaten dieses Problem angehen?
Deutschlandradio Kultur: Obama sagt doch beides. Er will mehr Truppen und er will rausgehen 2011, wenn er es schafft.
Andrea Nahles: Ja, aber er hat keine konkreten Anforderungen bisher an die deutsche Bundeswehr gestellt. Und zum Zweiten, will ich Ihnen offen sagen, brauchen wir eine Erklärung von Frau Merkel, weil ich sage: Ich möchte da raus, weil ich glaube, dass wir keine Demokratie im westlichen Maßstab da hinbekommen, Sie merken das ja auch an diesem Beispiel mit dem Oberst Klein, zunehmend in etwas reinrutschen, was mit dem Auftrag, den wir ursprünglich hatten, kaum noch in Übereinstimmung zu bringen ist. Gleichzeitig bin ich nicht für Kopflosigkeit, weil die Afghanen auch eine Chance brauchen, wirklich dieses Land wieder selbst in die Hand zu nehmen und zu regieren. Das wird nicht von heute auf morgen gehen.
Wenn man sich aber dazwischen bewegt, muss man ganz genau wissen, was man bereit ist mitzumachen. Ob man bereit ist, zum Beispiel die Ausbildung zu verstärken, damit eben eigene Gewaltmonopole auch organisiert werden können von den Afghanen selber. Momentan ersetzen wir ja ein stückweit Polizei und Militär gleichzeitig in dem Land. Und von daher muss eigentlich eine eigene Polizei, eine eigene militärische Absicherung erfolgen.
Wie kommen wir da hin? Dazu hat uns Frau Merkel bisher gesagt, sie will uns das in London mitteilen. Dort wird es eine internationale Konferenz zu Afghanistan geben, die wir in Bonn mal eröffnet hatten auf dem Petersberg vor vielen Jahren. Das ist mir nicht genug. Sie will uns nach London, wo Entscheidungen fallen, sagen, was sie tun will? Nein. Sie muss uns vor London erklären, was sie gedenkt als Beitrag oder Nichtbeitrag der Deutschen dort vorzuschlagen. Dort werden Entscheidungen fallen. Dort wird sie ganz konkret gefragt. Und wir erwarten von ihr vorher eine Erklärung im Deutschen Bundestag und nicht mit Ergebnissen, die wir nicht mehr beeinflussen können, dann zurückzukommen aus dieser Konferenz. Das ist genau das aber, was sie bisher gesagt hat. Das ist nicht akzeptabel. Das ist übrigens auch für die Soldaten und für die Bundeswehr keine vernünftige Linie. Das ist alles zu klären. Und das muss Frau Merkel vor der Konferenz in London deutlich machen.
Deutschlandradio Kultur: Aber die SPD selbst könnte ja auch auf Angriff umschalten und sagen, wir haben eine Exit-Strategie. Wir wollen Punkt A, B, C erreichen, unabhängig davon, was die Kanzlerin Ihnen erzählt.
Andrea Nahles: Wissen Sie, wir sind ja nun mal nicht mehr in der Regierungsverantwortung. Sie können mir ruhig glauben, das bedauere ich am meisten. Aber es ist nicht die Aufgabe der Opposition in erster Linie, die Strategie vorzulegen. Wir bewerten die dann. Wir werden hoffentlich auch eingebunden, und zwar vor der Konferenz in London. Wir sind aber, wenn das nicht erfolgt, auch durchaus bereit, Anfang nächsten Jahres dann auch entsprechende Vorschläge zu machen. Nur wollen wir jetzt erst mal, und das ist für mich eine ganz klare Aufgabenteilung zwischen Regierung und Opposition, abwarten, was denn Frau Merkel hier vorschlagen will.
Deutschlandradio Kultur: Dem würde ich ja nicht widersprechen, aber es geht doch um das Selbstbewusstsein des Parlaments. Sowohl bei der Haushaltskontrolle nehmen Sie für sich bestimmte Rechte in Anspruch und auch in den Fragen der Bundeswehr, also müsste eigentlich das Parlament vorgeben, wo die Reise hingeht.
Andrea Nahles: Ja. Der Bundesaußenminister der Großen Koalition war Frank-Walter Steinmeier. Und er hat einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt – ganz konkret – mit einer Zeitangabe, mit allem, was man tun muss, zehn Punkte, wie wir Schritt für Schritt rauskommen. Das hat er vor der Wahl gemacht. Man konnte also wissen, das ist es, wofür die SPD in der Regierung steht. Das wurde von der Bundeskanzlerin ignoriert. Danach hat Obama seine Strategie vorgelegt. Wir hören wieder nichts von der Bundeskanzlerin. Nun, Entschuldigung, irgendwann ist sie schon mal dran. Sie hat immer noch die Regierungsverantwortung. Sie hat angeblich auch eine Richtlinienkompetenz. Das ist qua Amt das Amt des Bundeskanzlers. Also, von daher ist alle Welt gespannt, geradezu sehr gespannt, was denn jetzt die deutsche Bundesregierung dazu sagt. Jedenfalls kann man ganz klar für die SPD sagen, dass wir, obwohl sicherlich viele Menschen in unserem Lande sich gewünscht hätten vor der Wahl, dass wir gesagt hätten, so, sofort raus, damit ist ja die Linkspartei gegangen, wir einen verantwortbaren Plan vorgelegt haben und Frau Merkel, wie üblich, geschwiegen hat. Sie hat niemanden mehr, wie Frank-Walter Steinmeier und die Sozialdemokraten, hinter denen sie sich in der Großen Koalition verstecken kann.
Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, auf dem Parteitag hat Sigmar Gabriel gesagt, wir müssen wieder raus, raus ins Leben, zu den Menschen und mit ihnen reden. Was wollen Sie eigentlich denen erklären nach den vielen Wahlniederlagen, die Sie in den letzten Monaten und Jahren erlitten haben?
Andrea Nahles: Also, das, was wir festgestellt haben, ist, dass die Leute nichts erklärt haben wollen. Was sie aber wollen, ist, überzeugt werden. Das ist was anderes. Ein 40 Jahre altes Mitglied in Mainz hat mir gesagt: "Ich möchte nicht vereinnahmt werden durch Beschlüsse, die ihr fällt, sondern ich möchte von euch überzeugt werden, dass das der richtige Weg ist." Das ist ein bisschen mühevoller. Und das bedeutet, dass man eben auch mehr zuhören muss und weniger Top-Down-Kommunikation, wie das modern-deutsch heißt.
Deutschlandradio Kultur: Aber es ist nicht nur ein Kommunikationsproblem. Es geht auch um neue Inhalte.
Andrea Nahles: Das ist beides. Es ist sowohl die Art, wie eben in den letzten Jahren der Eindruck entstanden war, dass die SPD halt sehr stark staatstragend erklärt hat, warum es bestimmte Alternativen aus ihrer Sicht nicht gibt. Nehmen wir das Beispiel Globalisierung. Da haben wir gesagt: "Sicherheit im Wandel". Viele derjenigen, die abgerutscht sind in den Niedriglohnbereich oder in Leiharbeit, wollten aber Sicherheit "vor" dem Wandel und haben sich erhofft, dass die SPD mehr Anwalt ihrer Interessen ist. Also geht es da sowohl um die Art, wie wir auf die Leute zugehen, aber auch vor allem, dass wir wirklich auch wieder diese sozialen Anliegen, die ganz wichtigen existentiellen Fragen – reicht eigentlich mein Lohn für das, was ich brauche zum Leben -, dass wir das auch wieder inhaltlich stärker machen, als es in der Vergangenheit der Fall war.
Deutschlandradio Kultur: Aber es geht ja auch um Ihre Regierungsverantwortung. Sie haben ein Buch geschrieben "Frau, gläubig, links". Darin sagen Sie, Sie müssten Ballast abwerfen als SPD. Heißt das, Sie sagen jetzt den Leuten, die SPD kann alles, außer regieren?
Andrea Nahles: Die SPD hat dieses Land verantwortlich in diesen schwierigen Zeiten – denken Sie mal an den Irakkrieg, wie wir uns da verhalten, war doch aus meiner Sicht absolut historisch richtig, da haben wir uns nicht zu verstecken. Wir haben das Land auch modernisiert. Wenn man mal überlegt die Kohl-Ära, was für ein bleierner Duktus da überm Land hing, wie die Leute sich auch als Minderheiten gegängelt gefühlt haben, das haben wir wirklich mit Rot-Grün aufgebrochen. Und ich denke, dass das Lebensgefühl sich da auch geändert hat in Deutschland. Also, ich bin sehr der Meinung, dass wir sehr wohl gut regieren könnten. Aber wir haben auch einen schwierigen Spagat gehabt. Wir sind in eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation gekommen, mussten Sozialreformen machen, die unter Kohl verschlafen worden waren. Die sind dann härter ausgefallen in der Zeit, wo es nicht Wachstum gab, also, wo es nicht eine Wachstumsphase gab, mussten wir dann auch noch Sozialreformen machen. Und das wurde von den Leuten, die mit der SPD was anderes verbunden haben, einfach übel genommen.
Und dann haben wir das auch noch als "Basta!" rüber gebracht, also im Stil nicht besonders einnehmend. Da haben wir auch sicherlich kommunikative Fehler gemacht. An ein, zwei Stellen haben wir einfach mehr gemacht, als nötig gewesen wäre.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben doch mittlerweile das Spiel zweimal gespielt – mit Helmut Schmidt genau dieselbe Situation nach 1973, auch wirtschaftlich dieselbe Situation, bis hin zu dem Nato-Nachrüstungsbeschluss, und jetzt mit Gerhard Schröder noch einmal. Irgendwie will die SPD nicht regieren und ist unzufrieden mit ihren Bundeskanzlern.
Andrea Nahles: Nein. Also, ich glaube, die Situation unter Schmidt war – ich muss es auch zugeben, ich bin 70 geboren, also fragen Sie jemand anderes, ich weiß es nicht genau. Ich verlasse mich da immer auf unterschiedliche historische Berichte – keine Ahnung. Ich kann nur sagen von Gerhard Schröder, dass ich auch wirklich stolz war, wie er teilweise gut agiert hat, in der Vertretung Deutschlands nach außen, in der Liberalisierung nach innen. Ich war aber nicht einverstanden bei ein, zwei Sozialreformen. Ich zum Beispiel habe immer gesagt: Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe sollte aus einer Hand gehen. Wir hatten die Leute von einem Amt zum anderen geschickt. Die fühlten sich überall klein, schlecht behandelt.
Deutschlandradio Kultur: Also haben Sie eigentlich alles gut gemacht?
Andrea Nahles: Nein, nein, nein, aber es gab dann das Arbeitslosengeld I. Da können Sie auch meine Kritik aus dem Jahre 2003 finden, nicht aus dem Jahre 2009 nur, wo ich damals schon gesagt habe: Hey Leute, die Leute haben 30 Jahre gearbeitet, werden unverschuldet arbeitslos und landen dann nach einem Jahr ungefähr auf dem Niveau wie jemand, der nie gearbeitet hat. Das geht nicht. Und das war ein echter, wenn auch begrenzter, aber doch in seiner Auswirkung ziemlich gravierender Fehler, der damals gemacht wurde.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie werfen doch der SPD vor, sie habe ihren sozialdemokratischen Gestaltungsanspruch nicht wahrgenommen. Und da sage ich: Was hat denn Gerhard Schröder gemacht – vom Bündnis für Arbeit angefangen, mit dem ökologischen Projekt zusammen mit den Grünen, mit den Steuerreformen, die auch in die Richtung gingen, wir wollen etwas Neues machen und wir wollen Antworten geben? Und dann sagen Sie: Die haben am Leben vorbei gelebt und regiert.
Andrea Nahles: Nein, aber die haben doch in der Energiepolitik das Land verändert. Bei mir in der Eifel, nicht nur ich hab eine Photovoltaik-Anlage, sondern auch der CDU-Bauer Engels aus dem Nachbardorf.
Deutschlandradio Kultur: Das war doch richtig.
Andrea Nahles: Ja, ist doch absolut perfekt.
Deutschlandradio Kultur: Warum werfen Sie das der SPD vor?
Andrea Nahles: Ich habe die Regierung immer loyal unterstützt, damit das mal klar ist. Aber es gibt zwei, drei handfeste Verletzungen der Erwartungshaltungen der Menschen an die sozialdemokratische Partei. Und das hat dazu geführt, dass es eine neue Ausdehnung der PDS in den Westen gegeben hat. Das hat dazu geführt, dass wir Landtagswahl um Landtagswahl verloren haben. Und das sind ja Fakten, die man nicht einfach wegdrücken kann und sagen, wir haben alles richtig gemacht, dummerweise hat's der Wähler nicht verstanden.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt können Sie die Uhr nicht anhalten. Sie haben im Frühjahr Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Jetzt sagt Hannelore Kraft, Ihre Spitzenkandidatin dort vor Ort: Wir bräuchten so was wie ein Re-Sozialdemokratisierung, damit die Leute, die enttäuschten, wieder zurückkommen und wieder die SPD zu alter Stärke kommt.
Was können Sie den Wählern in vier Monaten anbieten – außer einer Fehleranalyse, wie Sie jetzt gerade gemacht haben?
Andrea Nahles: Interessanterweise hat Hannelore Kraft, genauso wie alle anderen Landesvorsitzenden, folgende Erfahrung gemacht: Nach der Wahlniederlage auf der Bundesebene sind eine Menge ehemaliger Sozialdemokraten wieder neu eingetreten. Wir haben ja 7000 Neueintritte als Sozialdemokratie. Das hat uns auch die Hoffnung gegeben, dass – wenn wir ganz klar Partei ergreifen für Arbeitnehmerinteressen, das ist besonders in Nordrhein-Westfalen von größter Bedeutung, insbesondere auch klar sagen, dass wir den Missbrauch von Leiharbeit ablehnen – dass das ein wichtiges Signal sein kann. Wir wollen eine Betriebsrätekonferenz machen, um da auch wieder anzudocken und ihr damit auch noch mal von der Bundesseite aus den Rücken zu stärken. Und natürlich, das gesamte Ruhrgebiet, kann man fast sagen, ist mittlerweile unter Haushaltsvorbehalt. Die Kommunen sind ausgeblutet. Sie können sich nicht vorstellen, was da für eine Stimmung ist aufgrund der Steuersenkungspläne der Bundesregierung. Und da wird es auch einem Herrn Rüttgers nicht so leicht fallen, das zu übertünchen.
Deswegen glauben wir, dass es genügend Stoff gibt, um eben tatsächlich hier Dampf unter den Kessel zu kriegen mit Beginn des nächsten Jahres.
Deutschlandradio Kultur: Aber das ist doch nur eine indirekte Antwort auf die Probleme des Facharbeiters. Wenn Sie sagen, in zwölf Monaten werden Sie ein neues Konzept zur Arbeits- und Sozialpolitik haben, dann kommen auch Sie nicht rechtzeitig aus dem Knick, oder?
Andrea Nahles: Also, wir haben jetzt keine Eile. Wir sind gut aufgestellt, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Regierung angeht, die jetzt die Arbeitsvermittlung nicht etwa in eine strukturelle Situation bringt mit den Jobcentern, dass die jetzt, was sie sich in den letzten fünf Jahren erarbeitet haben, auch fortführen können, sondern in der Phase, wo im nächsten Jahr voraussichtlich die Arbeitslosigkeit deutlich steigen wird – das hat Herr Weise gesagt, das sage nicht ich -, bringen sie komplette Verunsicherung in die bisherigen Arbeitsvermittlungsstrukturen rein. Und das hat Frau von der Leyen jetzt auch nicht geschafft zu beseitigen als Problem. Da gibt es konkrete Kritik und konkrete Alternativvorschläge, die wir im Plenum auch vorgebracht haben, die ignoriert werden mit Folgen für alle Arbeitslosen in diesem Land, und zwar negativen Folgen.
Dass wir darüber hinaus nachdenken müssen, wie können wir denn eigentlich Altersarmut verhindern bei Menschen, die längere Phasen der Arbeitslosigkeit hatten, oder bei Frauen, die nicht so viele Erwerbsjahre zusammenbekommen, oder dass wir konkret darüber nachdenken müssen: Wie kann man ein Konzept der Rente 67 so ausgestalten, dass es nicht die Menschen überfordert, nämlich diejenigen, die in der Arbeit sich verschlissen haben, die sich in der Arbeit kaputt gearbeitet haben und die dann durch massive Abschläge bestraft würden, wenn wir jetzt einfach für alle sagen, "Rente 67 für alle" geht nicht in der Form, wie wir das jetzt haben.
Das werden wir in den nächsten Monaten aufarbeiten. Das haben wir uns vorgenommen. Das ändert aber nichts daran, dass wir von jetzt auf gleich in der Lage sind, dieser Bundesregierung auf den Zahn zu fühlen und die Probleme, die sie macht, auch – und das ist insbesondere die Frage eben der Jobcenter – auch klar zu benennen.
Deutschlandradio Kultur: Das hört sich so an, als ob Sie sich in die Oppositionsrolle einfinden wollen, aber - soweit wir das verstanden haben – würden Sie doch gerne auch in NRW wieder regieren wollen.
Andrea Nahles: Ja, aber wir glauben halt, dass – das ist zumindest auch unser Eindruck – dass wir es schaffen können, auch die Konturen, die ja offensichtlich gerade für die SPD schwierig waren, zu benennen. Also, über die wir gesprochen haben, auch in den letzten Monaten. Wir haben gesagt: Ihr müsst mehr Profil aufbauen. Und ich glaube, dass gerade diese Opposition bis zum Mai uns helfen kann, wenn wir das gut machen, und wir haben gut begonnen, dass wir einfach auch wieder klarer kriegen, wofür steht die SPD. Ich glaube, dass das in Nordrhein-Westfalen auch hilft. Und umgekehrt ist Rüttgers sehr nervös aufgrund des Fehlstarts der Bundesregierung hier in Berlin.
Die zweite Sache ist die Bildungspolitik. Das ist eine landespolitische Sache, die aufgespießt werden kann von Hannelore Kraft. Also zum Beispiel, dass die die Grundschulbezirke aufgelöst haben und damit soziale Spaltung vorbereitet haben, also, eben Schulpolitik machen, die komplett unsozial ist. Oder auch das G-8, also, ein beschleunigtes Abitur, was hinten und vorne nicht funktioniert. Wir in Rheinland-Pfalz, ich komme ja aus dem Nachbarland, haben auch G-8 gemacht, aber nur in Gymnasien, die Ganztagsgymnasien werden.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie kämpfen doch gegen einen Nimbus an, nämlich dass Jürgen Rüttgers der bessere Sozialdemokrat ist.
Andrea Nahles: Ja, aber genau diese Rolle bröckelt ja. Rüttgers ist jemand, der ja dadurch gelebt hat, dass er in der Großen Koalition immer den "Tabubrecher" gegeben hat. Er hat dann schneller als die Sozialdemokraten was Soziales gesagt. Jetzt kann er das auch sagen, aber es gibt im Bund keine Sozialdemokraten in der Regierung mehr, die dann sagen, okay, das machen wir jetzt. Heute ist da die FDP. Und die sagt, nö, auf gar keinen Fall!
Deutschlandradio Kultur: Anscheinend sind Sie auch dabei, sich etwas Neues zu überlegen. Sie haben zumindest einen Begriff in Ihrem Buch benannt, der heißt: "die gute Gesellschaft". Das erinnert ein bisschen an das, was Gesine Schwan vor einem Jahr vorgestellt hat "In guter Gesellschaft zusammenleben". Ist das ein neues Konzept, das sich ablöst von dem, was sich die Sozialdemokratie bisher vorgestellt hat?
Andrea Nahles: Es ist eher eine Revitalisierung, weil wir immer stärker merken – auch forciert durch die Bundesregierung -, dass dieses Land auseinanderfällt in Interessengruppen, die dann durch Klientelpolitik beschwichtigt werden sollen.
Deutschlandradio Kultur: Und jetzt sollen sich alle lieb haben?
Andrea Nahles: Und jetzt geht's darum, wie kann man den Zusammenhalt in dem Land stärken. Da kann man immer noch unterschiedliche Meinungen austragen, man kann auch unterschiedliche Interessen haben, aber man muss doch immer noch das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen. Ich habe das an dem Beispiel in dem Buch auch deutlich gemacht. Bei den Einzelnen, wo man beobachtet, dass die Fähigkeit zu Empathie doch stückweise nachlässt, dass Menschen es schwerer fällt, sich auch in die Perspektive von anderen hineinzuversetzen, und sehr schnell der Anwalt gezückt wird, wenn der Ast bei mir im Garten überhängt, statt einfach mal zum Nachbarn zu gehen und zu sagen, hey, kannst du den mal ein bisschen zurückschneiden?
Und diese persönliche Beobachtung, die ich habe, die beobachte ich aber auch zunehmend in meinen Bürgersprechstunden, wo die Leute sagen: Wenn Sie nicht eins zu eins meine Interessen vertreten, dann sind sie nicht mehr der richtige Abgeordnete. – Und ich versuche dann immer zu sagen: Ja, wir können ja versuchen, Ihnen entgegenzukommen, aber da gibt's auch noch die Interessen der anderen.
Deutschlandradio Kultur: "Gute Gesellschaft", das kann man sich ja noch vorstellen bei dem Gartenzaunproblem, das Sie geschildert haben. Wenn es aber um Tarifpolitik geht, um die Frage der Verteilungskämpfe, dann können Sie mit guter Gesellschaft, guter Politik auch noch arbeiten?
Andrea Nahles: Dann kann man mit einer Mobilisierung der Menschen arbeiten. Es gibt halt einfach 100 Millionen Euro im Jahr von verschiedensten Arbeitgeberverbänden für Lobbygruppen, die hier in Berlin nichts anderes machen, als die Interessen der Arbeitgeber auch zu featuren. Das ist keine Verschwörungstheorie, das könnte ich Ihnen nachweisen am Beispiel von Gesamtmetall, die die Initiative "Neue Soziale Marktwirtschaft" unterstützt.
Was wir dagegensetzen können, ist etwas anderes, nämlich Bürgerbewegung, zum Beispiel eine Bürgerbewegung gegen Staatsbankrott. Das wäre zum Beispiel etwas, was ich mir für das nächste Jahr denken kann, dass wir wirklich die Menschen mobilisieren. Nur so haben wir eine Chance, unsere Interessen, die Interessen auch der Menschen, die davon leben, dass sie auch eine gute staatliche Infrastruktur im Bereich von Bildung haben, dass es genügend Polizisten gibt, die für Sicherheit sorgen. Nur das ist dann möglich, wenn wir deutlich machen, dass wir auch dafür eine ausreichende Finanzierung dieses Staates brauchen. Das geht nicht mit Ministeuern und es geht nicht mit Miniabgaben alleine. Das geht nur, wenn die Leute ordentliche Löhne bekommen und dann auch ordentliche Sozialbeiträge und Steuern bezahlen können.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Berthold Huber beispielsweise sagt: Bei den Tarifverhandlungen werden wir gar nicht so sehr um Lohnerhöhungen kämpfen müssen im nächsten Jahr aufgrund der Tatsache, dass wir mit der Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben, sondern wir müssen möglicherweise innerbetrieblich einfach die Arbeitszeit reduzieren, damit alle im Boot bleiben. – Das wollen Sie dann mit einer Bürgerinitiative von außen unterstützen?
Andrea Nahles: Nein, aber auch Berthold Huber ist darauf angewiesen und die IG Metall, dass es weiter Mittel für Kurzarbeit gibt, und zwar in den vollen Mitteln, die wir jetzt als Große Koalition unter Olaf Scholz garantiert haben. Die neue Regierung hat angekündigt, dass sie kürzen will bei den Sozialbeiträgen. Also hat auch er daran Interesse, dass nicht durch Steuergeschenke für Hoteliers möglicherweise sein wichtiges Auffanginstrument, die Kurzarbeit, beschädigt wird. Und deswegen gibt es da eine gemeinsame Linie – Punkt, aus!
Also, ich sage: Darüber hinaus ist es vernünftig, wenn die IG Metall so was sagt, mehr als vernünftig. Ich weiß gar keine Gewerkschaft auf diesem Globus außer der IG Metall, die das im Kreuz hätte, gegenüber ihren eigenen Leuten so vernünftige Töne anzuschlagen. Dann erwarten die aber natürlich auch ein Minimum an Solidarität von der Öffentlichkeit. Keine Branche ist so stark gebeutelt wie die Metallbranche momentan von dieser Krise. Und glauben Sie mir: Bei denen kommt die Krise jetzt erst im nächsten Jahr an. Die ist noch gar nicht da.
Und deswegen weiß er, worüber er redet. Ich kann nur hoffen, dass diese Bundesregierung Vernunft annimmt, nicht die Kommunen schwächt, nicht wichtige gute Arbeitsmarktinstrumente, für die uns alle beneiden, dadurch kaputt macht, dass sie nicht mehr in vollem Umfang die Sozialbeiträge bezuschusst.
Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, wir danken für das Gespräch.
Andrea Nahles: Die Frage heißt ja eher, ob der Verteidigungsminister Guttenberg die Wahrheit oder die Unwahrheit gesagt hat. Und das ist zumindest zweifelhaft. Wenn ein Viersternegeneral, Herr Schneiderhan, jetzt sagt, dass er den Minister ausreichend informiert hat, dann kann nur einer die Wahrheit sprechen – entweder der Verteidigungsminister, der ihn entlassen hat mit der Behauptung, er habe ihn nicht informiert, oder eben Herr Schneiderhan. Das ist es, worum es geht in der Frage Wahrheit oder Lüge.
Ich halte auch nichts davon, jetzt den Eindruck zu erwecken, dass alle, die Herrn Guttenbergs Verhalten kritisieren, sich gegen die Truppe stellen oder den Einsatz unserer Soldaten in Afghanistan pauschal kritisieren. Das tun wir nicht. Und der letzte Verteidigungsminister der SPD, Herr Peter Struck, war immer jemand, der sich da ganz klar dazu verhalten hat. Und auch die neue Führung der SPD tut das. Darum geht es nicht. Das sind Ablenkungsmanöver und die machen wir nicht mit.
Deutschlandradio Kultur: Es geht einerseits um Informationspolitik, aber es geht natürlich auch um die Frage, die zentrale Frage: Dürfen deutsche Soldaten gezielt Taliban-Kämpfer töten, auch wenn sie nicht direkt angegriffen werden? Wie steht die SPD dazu?
Andrea Nahles: Das hat es in der Vergangenheit gegeben. Davon wussten wir auch. Allerdings gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Und der ist hier offensichtlich brachial verletzt worden. Verhältnismäßig ist das nicht, wenn es keine direkte Gefährdung gibt, aber gleichzeitig klar ist, dass noch Zivilisten und andere Beteiligte vor Ort sind. Und es ist auch nicht in Ordnung, einen Bombenabwurf herbeizuführen ohne gesicherte Datengrundlage. Seit einiger Zeit gab es KSK-Einsätze. Wir haben sie bei OEF beendet unter der Großen Koalition. Wir haben sie bei ISAF weiterlaufen gehabt. Es gibt keinen rechtsfreien Raum, auch nicht in einer Situation unter großem Druck. Dafür haben wir auch Absicherungsmechanismen, Rücksprache und Hierarchien vor Ort, die hier teilweise eben nicht korrekt informiert wurden. Das muss man, nachdem wir jetzt mittlerweile auch Protokolle der genauen Abläufe kennen, leider sagen.
Das ist an sich kein Weltuntergang, wenn man damit offen umgeht. Jeder weiß, dass die Leute vor Ort in sehr schwierigen Umständen agieren müssen. Aber wenn dann vertuscht wird und wenn dann wirklich nicht die Wahrheit gesagt wird, dann ist das für eine Parlamentsarmee ein besonderes Problem. Die Deutschen sind eine Parlamentsarmee und haben eben dem Deutschen Bundestag gegenüber auch Auskunftspflicht. Das gilt übrigens auch für den Verteidigungsminister.
Deutschlandradio Kultur: Nun sagen Sie oder man hört es zumindest: Da müssen Konsequenzen folgen. Wie sollen die denn aussehen?
Andrea Nahles: Die erste Konsequenz ist, dass ich die Wahrheit hören will, nicht die Situation erleben möchte, dass mir ein Verteidigungsminister im Deutschen Bundestag erklärt als deutsche Bundestagsabgeordnete, dass eine Wahrheitsfindung nicht seinem Niveau entspricht.
Die simple Frage heißt: Warum hat er eigentlich Herrn Schneiderhahn und den Staatssekretär Wichert entlassen? Die Wahrheit ist doch offensichtlich, dass es nicht so gelaufen ist, wie er uns bisher mitgeteilt hat. Das hatte zur Folge, dass auch ein Minister, nämlich der Kollege Jung damals, gehen musste. Für Guttenberg, auch wenn er noch so beliebt ist, wenn er noch so nassforsch ist, wenn er noch so schneidig auftritt, gelten keine anderen Maßstäbe als für Minister Jung.
Deutschlandradio Kultur: Aber das ist das Berlin-Mitte-Problem. Noch mal zurück zu Ihrer Verantwortung, die Sie eine Parlamentsarmee haben. Militärs sagen: Wenn man solche Luftangriffe verhindern will, dann braucht man mehr Truppen. Oberst Klein hätte mit zusätzlichen Truppen diesen Einsatz auch anders gestalten können. Sind Sie bereit, mehr Bundeswehrsoldaten im Ernstfall nach Afghanistan zu schicken als SPD?
Andrea Nahles: Also, ich sehe zurzeit überhaupt noch keine Veranlassung, irgendwelche Aussagen dazu zu treffen. Wir wissen nicht, wie die militärische Lage dort eingeschätzt wird. Die Bundeskanzlerin äußert sich nicht dazu. Und das ist eine Angelegenheit der Bundesregierung, uns erst mal darüber aufzuklären, wie sie die Lage dort einschätzt und wie sie außerdem gedenkt, im Verbund mit der Nato, die dort vor Ort ist, im Verbund mit den Amerikanern insbesondere, jetzt eine Exit-Strategie vorzubereiten, also eine Strategie, die Präsident Obama ja bereits von seiner Seite aus offen gelegt hat. Wir haben aber dazu von Frau Merkel überhaupt noch nichts gehört. Was will sie tun?
Bevor sie also die Opposition fragt und die Parlamentarier, wie mich, ob wir ihrer Strategie folgen, müsste man jetzt erst mal wissen: Was ist denn eigentlich ihre Strategie? Wie will sie denn jetzt eigentlich in den nächsten Monaten dieses Problem angehen?
Deutschlandradio Kultur: Obama sagt doch beides. Er will mehr Truppen und er will rausgehen 2011, wenn er es schafft.
Andrea Nahles: Ja, aber er hat keine konkreten Anforderungen bisher an die deutsche Bundeswehr gestellt. Und zum Zweiten, will ich Ihnen offen sagen, brauchen wir eine Erklärung von Frau Merkel, weil ich sage: Ich möchte da raus, weil ich glaube, dass wir keine Demokratie im westlichen Maßstab da hinbekommen, Sie merken das ja auch an diesem Beispiel mit dem Oberst Klein, zunehmend in etwas reinrutschen, was mit dem Auftrag, den wir ursprünglich hatten, kaum noch in Übereinstimmung zu bringen ist. Gleichzeitig bin ich nicht für Kopflosigkeit, weil die Afghanen auch eine Chance brauchen, wirklich dieses Land wieder selbst in die Hand zu nehmen und zu regieren. Das wird nicht von heute auf morgen gehen.
Wenn man sich aber dazwischen bewegt, muss man ganz genau wissen, was man bereit ist mitzumachen. Ob man bereit ist, zum Beispiel die Ausbildung zu verstärken, damit eben eigene Gewaltmonopole auch organisiert werden können von den Afghanen selber. Momentan ersetzen wir ja ein stückweit Polizei und Militär gleichzeitig in dem Land. Und von daher muss eigentlich eine eigene Polizei, eine eigene militärische Absicherung erfolgen.
Wie kommen wir da hin? Dazu hat uns Frau Merkel bisher gesagt, sie will uns das in London mitteilen. Dort wird es eine internationale Konferenz zu Afghanistan geben, die wir in Bonn mal eröffnet hatten auf dem Petersberg vor vielen Jahren. Das ist mir nicht genug. Sie will uns nach London, wo Entscheidungen fallen, sagen, was sie tun will? Nein. Sie muss uns vor London erklären, was sie gedenkt als Beitrag oder Nichtbeitrag der Deutschen dort vorzuschlagen. Dort werden Entscheidungen fallen. Dort wird sie ganz konkret gefragt. Und wir erwarten von ihr vorher eine Erklärung im Deutschen Bundestag und nicht mit Ergebnissen, die wir nicht mehr beeinflussen können, dann zurückzukommen aus dieser Konferenz. Das ist genau das aber, was sie bisher gesagt hat. Das ist nicht akzeptabel. Das ist übrigens auch für die Soldaten und für die Bundeswehr keine vernünftige Linie. Das ist alles zu klären. Und das muss Frau Merkel vor der Konferenz in London deutlich machen.
Deutschlandradio Kultur: Aber die SPD selbst könnte ja auch auf Angriff umschalten und sagen, wir haben eine Exit-Strategie. Wir wollen Punkt A, B, C erreichen, unabhängig davon, was die Kanzlerin Ihnen erzählt.
Andrea Nahles: Wissen Sie, wir sind ja nun mal nicht mehr in der Regierungsverantwortung. Sie können mir ruhig glauben, das bedauere ich am meisten. Aber es ist nicht die Aufgabe der Opposition in erster Linie, die Strategie vorzulegen. Wir bewerten die dann. Wir werden hoffentlich auch eingebunden, und zwar vor der Konferenz in London. Wir sind aber, wenn das nicht erfolgt, auch durchaus bereit, Anfang nächsten Jahres dann auch entsprechende Vorschläge zu machen. Nur wollen wir jetzt erst mal, und das ist für mich eine ganz klare Aufgabenteilung zwischen Regierung und Opposition, abwarten, was denn Frau Merkel hier vorschlagen will.
Deutschlandradio Kultur: Dem würde ich ja nicht widersprechen, aber es geht doch um das Selbstbewusstsein des Parlaments. Sowohl bei der Haushaltskontrolle nehmen Sie für sich bestimmte Rechte in Anspruch und auch in den Fragen der Bundeswehr, also müsste eigentlich das Parlament vorgeben, wo die Reise hingeht.
Andrea Nahles: Ja. Der Bundesaußenminister der Großen Koalition war Frank-Walter Steinmeier. Und er hat einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt – ganz konkret – mit einer Zeitangabe, mit allem, was man tun muss, zehn Punkte, wie wir Schritt für Schritt rauskommen. Das hat er vor der Wahl gemacht. Man konnte also wissen, das ist es, wofür die SPD in der Regierung steht. Das wurde von der Bundeskanzlerin ignoriert. Danach hat Obama seine Strategie vorgelegt. Wir hören wieder nichts von der Bundeskanzlerin. Nun, Entschuldigung, irgendwann ist sie schon mal dran. Sie hat immer noch die Regierungsverantwortung. Sie hat angeblich auch eine Richtlinienkompetenz. Das ist qua Amt das Amt des Bundeskanzlers. Also, von daher ist alle Welt gespannt, geradezu sehr gespannt, was denn jetzt die deutsche Bundesregierung dazu sagt. Jedenfalls kann man ganz klar für die SPD sagen, dass wir, obwohl sicherlich viele Menschen in unserem Lande sich gewünscht hätten vor der Wahl, dass wir gesagt hätten, so, sofort raus, damit ist ja die Linkspartei gegangen, wir einen verantwortbaren Plan vorgelegt haben und Frau Merkel, wie üblich, geschwiegen hat. Sie hat niemanden mehr, wie Frank-Walter Steinmeier und die Sozialdemokraten, hinter denen sie sich in der Großen Koalition verstecken kann.
Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, auf dem Parteitag hat Sigmar Gabriel gesagt, wir müssen wieder raus, raus ins Leben, zu den Menschen und mit ihnen reden. Was wollen Sie eigentlich denen erklären nach den vielen Wahlniederlagen, die Sie in den letzten Monaten und Jahren erlitten haben?
Andrea Nahles: Also, das, was wir festgestellt haben, ist, dass die Leute nichts erklärt haben wollen. Was sie aber wollen, ist, überzeugt werden. Das ist was anderes. Ein 40 Jahre altes Mitglied in Mainz hat mir gesagt: "Ich möchte nicht vereinnahmt werden durch Beschlüsse, die ihr fällt, sondern ich möchte von euch überzeugt werden, dass das der richtige Weg ist." Das ist ein bisschen mühevoller. Und das bedeutet, dass man eben auch mehr zuhören muss und weniger Top-Down-Kommunikation, wie das modern-deutsch heißt.
Deutschlandradio Kultur: Aber es ist nicht nur ein Kommunikationsproblem. Es geht auch um neue Inhalte.
Andrea Nahles: Das ist beides. Es ist sowohl die Art, wie eben in den letzten Jahren der Eindruck entstanden war, dass die SPD halt sehr stark staatstragend erklärt hat, warum es bestimmte Alternativen aus ihrer Sicht nicht gibt. Nehmen wir das Beispiel Globalisierung. Da haben wir gesagt: "Sicherheit im Wandel". Viele derjenigen, die abgerutscht sind in den Niedriglohnbereich oder in Leiharbeit, wollten aber Sicherheit "vor" dem Wandel und haben sich erhofft, dass die SPD mehr Anwalt ihrer Interessen ist. Also geht es da sowohl um die Art, wie wir auf die Leute zugehen, aber auch vor allem, dass wir wirklich auch wieder diese sozialen Anliegen, die ganz wichtigen existentiellen Fragen – reicht eigentlich mein Lohn für das, was ich brauche zum Leben -, dass wir das auch wieder inhaltlich stärker machen, als es in der Vergangenheit der Fall war.
Deutschlandradio Kultur: Aber es geht ja auch um Ihre Regierungsverantwortung. Sie haben ein Buch geschrieben "Frau, gläubig, links". Darin sagen Sie, Sie müssten Ballast abwerfen als SPD. Heißt das, Sie sagen jetzt den Leuten, die SPD kann alles, außer regieren?
Andrea Nahles: Die SPD hat dieses Land verantwortlich in diesen schwierigen Zeiten – denken Sie mal an den Irakkrieg, wie wir uns da verhalten, war doch aus meiner Sicht absolut historisch richtig, da haben wir uns nicht zu verstecken. Wir haben das Land auch modernisiert. Wenn man mal überlegt die Kohl-Ära, was für ein bleierner Duktus da überm Land hing, wie die Leute sich auch als Minderheiten gegängelt gefühlt haben, das haben wir wirklich mit Rot-Grün aufgebrochen. Und ich denke, dass das Lebensgefühl sich da auch geändert hat in Deutschland. Also, ich bin sehr der Meinung, dass wir sehr wohl gut regieren könnten. Aber wir haben auch einen schwierigen Spagat gehabt. Wir sind in eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation gekommen, mussten Sozialreformen machen, die unter Kohl verschlafen worden waren. Die sind dann härter ausgefallen in der Zeit, wo es nicht Wachstum gab, also, wo es nicht eine Wachstumsphase gab, mussten wir dann auch noch Sozialreformen machen. Und das wurde von den Leuten, die mit der SPD was anderes verbunden haben, einfach übel genommen.
Und dann haben wir das auch noch als "Basta!" rüber gebracht, also im Stil nicht besonders einnehmend. Da haben wir auch sicherlich kommunikative Fehler gemacht. An ein, zwei Stellen haben wir einfach mehr gemacht, als nötig gewesen wäre.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben doch mittlerweile das Spiel zweimal gespielt – mit Helmut Schmidt genau dieselbe Situation nach 1973, auch wirtschaftlich dieselbe Situation, bis hin zu dem Nato-Nachrüstungsbeschluss, und jetzt mit Gerhard Schröder noch einmal. Irgendwie will die SPD nicht regieren und ist unzufrieden mit ihren Bundeskanzlern.
Andrea Nahles: Nein. Also, ich glaube, die Situation unter Schmidt war – ich muss es auch zugeben, ich bin 70 geboren, also fragen Sie jemand anderes, ich weiß es nicht genau. Ich verlasse mich da immer auf unterschiedliche historische Berichte – keine Ahnung. Ich kann nur sagen von Gerhard Schröder, dass ich auch wirklich stolz war, wie er teilweise gut agiert hat, in der Vertretung Deutschlands nach außen, in der Liberalisierung nach innen. Ich war aber nicht einverstanden bei ein, zwei Sozialreformen. Ich zum Beispiel habe immer gesagt: Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe sollte aus einer Hand gehen. Wir hatten die Leute von einem Amt zum anderen geschickt. Die fühlten sich überall klein, schlecht behandelt.
Deutschlandradio Kultur: Also haben Sie eigentlich alles gut gemacht?
Andrea Nahles: Nein, nein, nein, aber es gab dann das Arbeitslosengeld I. Da können Sie auch meine Kritik aus dem Jahre 2003 finden, nicht aus dem Jahre 2009 nur, wo ich damals schon gesagt habe: Hey Leute, die Leute haben 30 Jahre gearbeitet, werden unverschuldet arbeitslos und landen dann nach einem Jahr ungefähr auf dem Niveau wie jemand, der nie gearbeitet hat. Das geht nicht. Und das war ein echter, wenn auch begrenzter, aber doch in seiner Auswirkung ziemlich gravierender Fehler, der damals gemacht wurde.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie werfen doch der SPD vor, sie habe ihren sozialdemokratischen Gestaltungsanspruch nicht wahrgenommen. Und da sage ich: Was hat denn Gerhard Schröder gemacht – vom Bündnis für Arbeit angefangen, mit dem ökologischen Projekt zusammen mit den Grünen, mit den Steuerreformen, die auch in die Richtung gingen, wir wollen etwas Neues machen und wir wollen Antworten geben? Und dann sagen Sie: Die haben am Leben vorbei gelebt und regiert.
Andrea Nahles: Nein, aber die haben doch in der Energiepolitik das Land verändert. Bei mir in der Eifel, nicht nur ich hab eine Photovoltaik-Anlage, sondern auch der CDU-Bauer Engels aus dem Nachbardorf.
Deutschlandradio Kultur: Das war doch richtig.
Andrea Nahles: Ja, ist doch absolut perfekt.
Deutschlandradio Kultur: Warum werfen Sie das der SPD vor?
Andrea Nahles: Ich habe die Regierung immer loyal unterstützt, damit das mal klar ist. Aber es gibt zwei, drei handfeste Verletzungen der Erwartungshaltungen der Menschen an die sozialdemokratische Partei. Und das hat dazu geführt, dass es eine neue Ausdehnung der PDS in den Westen gegeben hat. Das hat dazu geführt, dass wir Landtagswahl um Landtagswahl verloren haben. Und das sind ja Fakten, die man nicht einfach wegdrücken kann und sagen, wir haben alles richtig gemacht, dummerweise hat's der Wähler nicht verstanden.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt können Sie die Uhr nicht anhalten. Sie haben im Frühjahr Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Jetzt sagt Hannelore Kraft, Ihre Spitzenkandidatin dort vor Ort: Wir bräuchten so was wie ein Re-Sozialdemokratisierung, damit die Leute, die enttäuschten, wieder zurückkommen und wieder die SPD zu alter Stärke kommt.
Was können Sie den Wählern in vier Monaten anbieten – außer einer Fehleranalyse, wie Sie jetzt gerade gemacht haben?
Andrea Nahles: Interessanterweise hat Hannelore Kraft, genauso wie alle anderen Landesvorsitzenden, folgende Erfahrung gemacht: Nach der Wahlniederlage auf der Bundesebene sind eine Menge ehemaliger Sozialdemokraten wieder neu eingetreten. Wir haben ja 7000 Neueintritte als Sozialdemokratie. Das hat uns auch die Hoffnung gegeben, dass – wenn wir ganz klar Partei ergreifen für Arbeitnehmerinteressen, das ist besonders in Nordrhein-Westfalen von größter Bedeutung, insbesondere auch klar sagen, dass wir den Missbrauch von Leiharbeit ablehnen – dass das ein wichtiges Signal sein kann. Wir wollen eine Betriebsrätekonferenz machen, um da auch wieder anzudocken und ihr damit auch noch mal von der Bundesseite aus den Rücken zu stärken. Und natürlich, das gesamte Ruhrgebiet, kann man fast sagen, ist mittlerweile unter Haushaltsvorbehalt. Die Kommunen sind ausgeblutet. Sie können sich nicht vorstellen, was da für eine Stimmung ist aufgrund der Steuersenkungspläne der Bundesregierung. Und da wird es auch einem Herrn Rüttgers nicht so leicht fallen, das zu übertünchen.
Deswegen glauben wir, dass es genügend Stoff gibt, um eben tatsächlich hier Dampf unter den Kessel zu kriegen mit Beginn des nächsten Jahres.
Deutschlandradio Kultur: Aber das ist doch nur eine indirekte Antwort auf die Probleme des Facharbeiters. Wenn Sie sagen, in zwölf Monaten werden Sie ein neues Konzept zur Arbeits- und Sozialpolitik haben, dann kommen auch Sie nicht rechtzeitig aus dem Knick, oder?
Andrea Nahles: Also, wir haben jetzt keine Eile. Wir sind gut aufgestellt, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Regierung angeht, die jetzt die Arbeitsvermittlung nicht etwa in eine strukturelle Situation bringt mit den Jobcentern, dass die jetzt, was sie sich in den letzten fünf Jahren erarbeitet haben, auch fortführen können, sondern in der Phase, wo im nächsten Jahr voraussichtlich die Arbeitslosigkeit deutlich steigen wird – das hat Herr Weise gesagt, das sage nicht ich -, bringen sie komplette Verunsicherung in die bisherigen Arbeitsvermittlungsstrukturen rein. Und das hat Frau von der Leyen jetzt auch nicht geschafft zu beseitigen als Problem. Da gibt es konkrete Kritik und konkrete Alternativvorschläge, die wir im Plenum auch vorgebracht haben, die ignoriert werden mit Folgen für alle Arbeitslosen in diesem Land, und zwar negativen Folgen.
Dass wir darüber hinaus nachdenken müssen, wie können wir denn eigentlich Altersarmut verhindern bei Menschen, die längere Phasen der Arbeitslosigkeit hatten, oder bei Frauen, die nicht so viele Erwerbsjahre zusammenbekommen, oder dass wir konkret darüber nachdenken müssen: Wie kann man ein Konzept der Rente 67 so ausgestalten, dass es nicht die Menschen überfordert, nämlich diejenigen, die in der Arbeit sich verschlissen haben, die sich in der Arbeit kaputt gearbeitet haben und die dann durch massive Abschläge bestraft würden, wenn wir jetzt einfach für alle sagen, "Rente 67 für alle" geht nicht in der Form, wie wir das jetzt haben.
Das werden wir in den nächsten Monaten aufarbeiten. Das haben wir uns vorgenommen. Das ändert aber nichts daran, dass wir von jetzt auf gleich in der Lage sind, dieser Bundesregierung auf den Zahn zu fühlen und die Probleme, die sie macht, auch – und das ist insbesondere die Frage eben der Jobcenter – auch klar zu benennen.
Deutschlandradio Kultur: Das hört sich so an, als ob Sie sich in die Oppositionsrolle einfinden wollen, aber - soweit wir das verstanden haben – würden Sie doch gerne auch in NRW wieder regieren wollen.
Andrea Nahles: Ja, aber wir glauben halt, dass – das ist zumindest auch unser Eindruck – dass wir es schaffen können, auch die Konturen, die ja offensichtlich gerade für die SPD schwierig waren, zu benennen. Also, über die wir gesprochen haben, auch in den letzten Monaten. Wir haben gesagt: Ihr müsst mehr Profil aufbauen. Und ich glaube, dass gerade diese Opposition bis zum Mai uns helfen kann, wenn wir das gut machen, und wir haben gut begonnen, dass wir einfach auch wieder klarer kriegen, wofür steht die SPD. Ich glaube, dass das in Nordrhein-Westfalen auch hilft. Und umgekehrt ist Rüttgers sehr nervös aufgrund des Fehlstarts der Bundesregierung hier in Berlin.
Die zweite Sache ist die Bildungspolitik. Das ist eine landespolitische Sache, die aufgespießt werden kann von Hannelore Kraft. Also zum Beispiel, dass die die Grundschulbezirke aufgelöst haben und damit soziale Spaltung vorbereitet haben, also, eben Schulpolitik machen, die komplett unsozial ist. Oder auch das G-8, also, ein beschleunigtes Abitur, was hinten und vorne nicht funktioniert. Wir in Rheinland-Pfalz, ich komme ja aus dem Nachbarland, haben auch G-8 gemacht, aber nur in Gymnasien, die Ganztagsgymnasien werden.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie kämpfen doch gegen einen Nimbus an, nämlich dass Jürgen Rüttgers der bessere Sozialdemokrat ist.
Andrea Nahles: Ja, aber genau diese Rolle bröckelt ja. Rüttgers ist jemand, der ja dadurch gelebt hat, dass er in der Großen Koalition immer den "Tabubrecher" gegeben hat. Er hat dann schneller als die Sozialdemokraten was Soziales gesagt. Jetzt kann er das auch sagen, aber es gibt im Bund keine Sozialdemokraten in der Regierung mehr, die dann sagen, okay, das machen wir jetzt. Heute ist da die FDP. Und die sagt, nö, auf gar keinen Fall!
Deutschlandradio Kultur: Anscheinend sind Sie auch dabei, sich etwas Neues zu überlegen. Sie haben zumindest einen Begriff in Ihrem Buch benannt, der heißt: "die gute Gesellschaft". Das erinnert ein bisschen an das, was Gesine Schwan vor einem Jahr vorgestellt hat "In guter Gesellschaft zusammenleben". Ist das ein neues Konzept, das sich ablöst von dem, was sich die Sozialdemokratie bisher vorgestellt hat?
Andrea Nahles: Es ist eher eine Revitalisierung, weil wir immer stärker merken – auch forciert durch die Bundesregierung -, dass dieses Land auseinanderfällt in Interessengruppen, die dann durch Klientelpolitik beschwichtigt werden sollen.
Deutschlandradio Kultur: Und jetzt sollen sich alle lieb haben?
Andrea Nahles: Und jetzt geht's darum, wie kann man den Zusammenhalt in dem Land stärken. Da kann man immer noch unterschiedliche Meinungen austragen, man kann auch unterschiedliche Interessen haben, aber man muss doch immer noch das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen. Ich habe das an dem Beispiel in dem Buch auch deutlich gemacht. Bei den Einzelnen, wo man beobachtet, dass die Fähigkeit zu Empathie doch stückweise nachlässt, dass Menschen es schwerer fällt, sich auch in die Perspektive von anderen hineinzuversetzen, und sehr schnell der Anwalt gezückt wird, wenn der Ast bei mir im Garten überhängt, statt einfach mal zum Nachbarn zu gehen und zu sagen, hey, kannst du den mal ein bisschen zurückschneiden?
Und diese persönliche Beobachtung, die ich habe, die beobachte ich aber auch zunehmend in meinen Bürgersprechstunden, wo die Leute sagen: Wenn Sie nicht eins zu eins meine Interessen vertreten, dann sind sie nicht mehr der richtige Abgeordnete. – Und ich versuche dann immer zu sagen: Ja, wir können ja versuchen, Ihnen entgegenzukommen, aber da gibt's auch noch die Interessen der anderen.
Deutschlandradio Kultur: "Gute Gesellschaft", das kann man sich ja noch vorstellen bei dem Gartenzaunproblem, das Sie geschildert haben. Wenn es aber um Tarifpolitik geht, um die Frage der Verteilungskämpfe, dann können Sie mit guter Gesellschaft, guter Politik auch noch arbeiten?
Andrea Nahles: Dann kann man mit einer Mobilisierung der Menschen arbeiten. Es gibt halt einfach 100 Millionen Euro im Jahr von verschiedensten Arbeitgeberverbänden für Lobbygruppen, die hier in Berlin nichts anderes machen, als die Interessen der Arbeitgeber auch zu featuren. Das ist keine Verschwörungstheorie, das könnte ich Ihnen nachweisen am Beispiel von Gesamtmetall, die die Initiative "Neue Soziale Marktwirtschaft" unterstützt.
Was wir dagegensetzen können, ist etwas anderes, nämlich Bürgerbewegung, zum Beispiel eine Bürgerbewegung gegen Staatsbankrott. Das wäre zum Beispiel etwas, was ich mir für das nächste Jahr denken kann, dass wir wirklich die Menschen mobilisieren. Nur so haben wir eine Chance, unsere Interessen, die Interessen auch der Menschen, die davon leben, dass sie auch eine gute staatliche Infrastruktur im Bereich von Bildung haben, dass es genügend Polizisten gibt, die für Sicherheit sorgen. Nur das ist dann möglich, wenn wir deutlich machen, dass wir auch dafür eine ausreichende Finanzierung dieses Staates brauchen. Das geht nicht mit Ministeuern und es geht nicht mit Miniabgaben alleine. Das geht nur, wenn die Leute ordentliche Löhne bekommen und dann auch ordentliche Sozialbeiträge und Steuern bezahlen können.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Berthold Huber beispielsweise sagt: Bei den Tarifverhandlungen werden wir gar nicht so sehr um Lohnerhöhungen kämpfen müssen im nächsten Jahr aufgrund der Tatsache, dass wir mit der Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben, sondern wir müssen möglicherweise innerbetrieblich einfach die Arbeitszeit reduzieren, damit alle im Boot bleiben. – Das wollen Sie dann mit einer Bürgerinitiative von außen unterstützen?
Andrea Nahles: Nein, aber auch Berthold Huber ist darauf angewiesen und die IG Metall, dass es weiter Mittel für Kurzarbeit gibt, und zwar in den vollen Mitteln, die wir jetzt als Große Koalition unter Olaf Scholz garantiert haben. Die neue Regierung hat angekündigt, dass sie kürzen will bei den Sozialbeiträgen. Also hat auch er daran Interesse, dass nicht durch Steuergeschenke für Hoteliers möglicherweise sein wichtiges Auffanginstrument, die Kurzarbeit, beschädigt wird. Und deswegen gibt es da eine gemeinsame Linie – Punkt, aus!
Also, ich sage: Darüber hinaus ist es vernünftig, wenn die IG Metall so was sagt, mehr als vernünftig. Ich weiß gar keine Gewerkschaft auf diesem Globus außer der IG Metall, die das im Kreuz hätte, gegenüber ihren eigenen Leuten so vernünftige Töne anzuschlagen. Dann erwarten die aber natürlich auch ein Minimum an Solidarität von der Öffentlichkeit. Keine Branche ist so stark gebeutelt wie die Metallbranche momentan von dieser Krise. Und glauben Sie mir: Bei denen kommt die Krise jetzt erst im nächsten Jahr an. Die ist noch gar nicht da.
Und deswegen weiß er, worüber er redet. Ich kann nur hoffen, dass diese Bundesregierung Vernunft annimmt, nicht die Kommunen schwächt, nicht wichtige gute Arbeitsmarktinstrumente, für die uns alle beneiden, dadurch kaputt macht, dass sie nicht mehr in vollem Umfang die Sozialbeiträge bezuschusst.
Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, wir danken für das Gespräch.