Nahost

Die wechselvolle Geschichte des Libanon

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Die Interessen der einzelnen Gruppen im Libanon zu verstehen ist schwer. © Tabea Grzeszyk
Von Tabea Grzeszyk |
Durch die vielen nationalen und religiösen Identitäten scheint es kaum eine Gemeinsamkeit zu geben, die den Libanon zusammenhält. Das hat tiefe historische Wurzeln. Phönizier, Osmanen, Araber: Sie prägten die Geschichte des Landes.
"Der Maßstab des Landes innerhalb dieser engen Grenzen hat schon immer widersprüchliche Identitäten hervorgebracht. Wir sind uns uneins über unsere Vergangenheit und darüber, wer wir sind oder sein wollen. Es gibt eine IdentitätsKrise, eine historische Identitätskrise."
"Die libanesische Identität ist genauso übereinander geschichtet wie ihre Geschichte."
"Was heute politisch passiert, macht es jeden Tag schwieriger. Uns trennt heute mehr als in den 70er-Jahren, als Beirut geteilt war!"
Die Stimmung in der libanesischen Hauptstadt Beirut ist angespannt, seit Monaten. Viele haben Angst, dass der Aufstand im benachbarten Syrien auf den Libanon übergreift. Aus dem friedlichen Protest gegen Präsident Baschar al-Assad ist längst ein blutiger Bürgerkrieg geworden, in dem sich Truppen der Freien Syrischen Armee, jihadistische Gotteskrieger und regimetreue Soldaten bekämpfen. Mindestens jeder Fünfte im Libanon ist heute ein syrischer Flüchtling. Doch obwohl das Zusammenleben erstaunlich gut verläuft und die meisten Libanesen Solidarität zeigen, drohen die überwiegend muslimischen Syrer auch Schreckgespenster der Vergangenheit zu wecken.
Das Misstrauen gegen syrische Flüchtlinge bekommen oft die Schwächsten zu spüren. Im christlichen Bergdorf "Kahale", 13 Kilometer entfernt von Beirut, arbeitet Rita Makhlouf im Kinderheim "Home of Hope". Es ist das einzige Heim im Libanon, das Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer Herkunft und Religion aufnimmt. Die meisten haben gar keine Papiere. Über die Hälfte der rund 70 Kinder sind syrische Muslime - das weckt den Argwohn der christlichen Anwohner.
"Wir haben Probleme mit den Nachbarn. Libanesen und Syrer mögen sich von Anfang an nicht so sehr, wegen des Krieges. Deswegen mögen sie auch unsere Kinder nicht. Wir versuchen, dass sie sich besser kennen lernen, damit sie sehen: Es sind nur Kinder. Keine syrischen Kinder, keine Kinder von Muslimen - einfach nur Kinder."
Diese persönlichen Treffen haben viel bewirkt, berichtet die Sozialarbeiterin, und ihre dunkelbraunen Augen strahlen. Mittlerweile beschweren sich keine Nachbarn mehr, wenn die Kinder vom "Home of Hope" draußen auf dem kleinen umzäunten Sportplatz ihre Bälle in Richtung Basketballkorb schleudern. Trotzdem gibt es eine rote Linie, die nicht überschritten wird: Die syrischen Flüchtlinge werden in Kahale zwar toleriert, aber sie finden keinen Anschluss, erzählt Rita Makhlouf:
"Die Eltern sagen ihnen, dass unsere Kinder die Soldaten der Zukunft sein werden, so ist hier die Mentalität. Manchmal haben mir meine eigenen Nachbarn gesagt: Du fütterst unsere Feinde! Du gibst ihnen ein Zuhause, aber wenn sie groß sind, bringen sie vielleicht unsere Kinder um!"
Fragile Machtbalance
Die christliche Nachbarschaft ist besorgt über muslimische Flüchtlingskinder - es sind alte Reflexe, die durch die Syrienkrise neu geweckt werden. Konfessionelle Zugehörigkeiten spielen im Libanon eine herausragende Rolle für Kontakte und Karrieren. In dem kleinen Land sind 18 muslimische und christliche Religionsgemeinschaften registriert. Ein konfessionelles System beschert dem Libanon seit seiner Unabhängigkeit 1943 eine gewisse politische Stabilität, denn das Staatsoberhaupt muss immer ein maronitischer Christ, der Regierungschef ein sunnitischer Moslem und der Außenminister ein Schiit sein. Doch die Machtbalance ist fragil. Auf die religiöse Zugehörigkeit von Neuankömmlingen wird im Libanon ganz genau geachtet.
Im Stadtviertel "Hamra" haben Studenten der Amerikanischen Universität zu einer Kinovorführung eingeladen, für die anschließende Diskussion ist das Filmteam gekommen. Rund 30 Gäste wollen über den Dokumentarfilm "Sleepless Nights" der Regisseurin Eliane Raheb sprechen, eine Arbeit über die Folgen des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990. Einer der Protagonisten ist Assaad Shaftari, ehemalige Nummer zwei der christlichen Miliz "Lebanese Forces". Nach der Filmvorführung macht Shaftari keine gute Figur, als er mit schuldbewusstem Blick ans Mikro tritt. Die meisten Studenten sind empört, der Film geht unter die Haut, viele haben im Kino geweint. Doch Assaad Shaftari hat eine neue Mission: Als gewandelter Friedensaktivist warnt er vor einem neuen Bürgerkrieg.
Im Regierungsviertel von Beirut
Im Regierungsviertel von Beirut© Peter Marx
"Vor dem Krieg war der Libanon in Gefahr. Historiker mögen das akzeptieren oder nicht, aber es waren die Palästinenser, die hier mit Waffen ankamen. Das erklärt viele Dinge nicht, die im Bürgerkrieg passiert sind, dafür mache ich mir Vorwürfe. Aber ich möchte, dass Leute wie Ihr, die Jugendlichen, versteht, wie man von der guten zur bösen Seite abgleiten kann, ohne es zu bemerken. Ihr habt das Recht, mich zu beschuldigen, aber Ihr könnt nicht den beschuldigen, der sich als einziger von 260 Kämpfern entschuldigt hat. Ihr könnt mir sagen, dass ich ein hässlicher Mensch bin, aber Ihr solltet zumindest anerkennen, was ich hier versuche!"
"Natürlich sollte er ins Gefängnis! Aber ich denke, seine jetzige Botschaft ist wichtig und das, was uns im Film wütend gemacht hat, sind die Schlüsselargumente, mit denen sich Leute identifizieren können. Nicht alle Libanesen sind tolerant gegenüber anderen Religionen. Und viele von uns sind immer noch bereit zu töten!"
Der Bürgerkrieg wird in keinem libanesischen Schulbuch thematisiert, das Trauma wurde nicht aufgearbeitet. Doch kann es eine gemeinsame Identität ohne eine gemeinsame Kultur der Erinnerung geben? Die meisten Studenten sind gegen Ende des Bürgerkriegs aufgewachsen und wollen heute verstehen, wie Christen Muslime und Muslime Christen massakrieren konnten. Waren sie nicht alle Libanesen? Assaad Shaftari schüttelt den Kopf. Als maronitischer Katholik hätte er damals keine Gemeinsamkeiten zu den "Anderen" akzeptiert. Die "Anderen", damit meint er die Araber: libanesische Muslime und palästinensische Flüchtlinge, die nach der Staatsgründung Israels in den Libanon geflohen waren. Um sich als Christ von den "Arabern" abzugrenzen, bemühte Assaad Shaftari einen identitätsstiftenden Mythos, der damals weit verbreitet war.
Keine Araber, sondern Phönizier
"Mein Fall ist nicht anders als vielleicht bei 90 Prozent der Christen damals, die sich weigerten, sich als Araber anzuerkennen. Ich wollte zu den Söhnen und Enkeln der Phönizier gehören! Araber zu sein wird damit identifiziert, Moslem zu sein. Christ zu sein heißt dagegen: ich bin anders als sie. Wir wollten anders sein und haben unsere Geschichte studiert. Wir haben den Teil herausgepickt, in dem wir entweder von den Franzosen kommen, von außerhalb, oder von den Phöniziern. Sie können selbst entscheiden - jedenfalls sind wir keine Araber!"
"Wir sind keine Araber, wir sind Phönizier" - diese Vorstellung hat historische Wurzeln, die tief in die Geschichte des Libanon reichen. Im ersten vorchristlichen Jahrtausend besiedelte das Volk der Phönizier die Mittelmeerküste entlang der Gebiete des heutigen Libanon und Syriens. Der Name leitet sich aus der altgriechischen Bezeichnung "phoínix" - purpurrot - ab: Die Phönizier färbten mithilfe von Purpurschnecken edle Stoffe. Für ihr handwerkliches Können waren sie berühmt - auch im antiken Griechenland. Sogar Homer erwähnt in seiner "Ilias" die phönizische Handwerkskunst:
"Ein Silbermischgefäß, kunstvolle Arbeit, konnte sechs Maß fassen, an Schönheit aber trug´s den Sieg davon auf der gesamten Erde bei weitem, denn Sidoner voller Kunstsinn hatten´s schön gefertigt. Phoniker aber hatten´s mitgebracht."
Als Volk der Händler und Seefahrer kolonisierten die Phönizier den gesamten südlichen und westlichen Mittelmeerraum. Sie gründeten mächtige Handelsniederlassungen. Erst die Zerstörung Karthagos durch die Römer im Jahr 146 vor Christus besiegelte das Ende ihrer Vorherrschaft. Im 7. Jahrhundert eroberten muslimische Araber die Levante und schlossen Syrien und Libanon an das Kalifat an. Eine Blütezeit erlebte die Region schließlich ab 1517 als Teil des Osmanischen Reichs. Der libanesische Historiker Fawwaz Traboulsi bemerkt in seinem Standardwerk "A History of Modern Lebanon", dass eine Rückbesinnung auf die Phönizier zur Etablierung einer eigenständigen Herkunftslegende erstmals im 19. Jahrhundert auftaucht. Damals erlebte die osmanische Hafenstadt Beirut einen wirtschaftlichen Aufschwung.
"Der vielleicht eloquenteste Ausdruck dieses neuen wirtschaftlichen Beirut findet sich in einem Artikel von Salim al-Bustani namens 'Unsere Position' von 1872, der als Gründungstext der politischen Ökonomie in der sich verändernden Welt angesehen werden kann. Um den Handel als Bestimmung für die syrische Küste zu legitimieren, macht al-Bustani die erste Referenz zu Phönizien und beginnt eine Tradition, die das altertümliche Gebiet Kanaans als ursprünglichen Libanon betrachtet und die Libanesen als 'Volk der Kaufleute' ansieht."

Wie Mahnmale stehen die leeren Hochhäuser mitten in Beirut. Seit den Kämpfen 2005 wurden die Häuser mit den Einschlusslöchern nicht weitergebaut, obwohl Beirut einen Bauboom erlebt.
Wie Mahnmale stehen die leeren Hochhäuser mitten in Beirut. Seit den Kämpfen 2005 wurden die Häuser mit den Einschlusslöchern nicht weitergebaut, obwohl Beirut einen Bauboom erlebt.© Peter Marx
Über die Jahrzehnte entwickelte sich diese später als "Phönizianismus" bezeichnete Idee zu einem wirkungsmächtigen Herkunftsmythos. Diesen nahm - wie der Milizenführer Saad Shaftari - vor allem die christliche Gemeinde der Maroniten für sich in Anspruch. Denn die Christen dominierten den Handel und das Finanzwesen. Die wirtschaftliche Vormachtstellung der Maroniten hatte dabei historische Gründe: Im Osmanischen Reich durften die "Menschen des Buchs", also Christen und Juden, zwar ihre Religion weiter ausüben. Doch Posten in der Verwaltung oder beim Militär blieben ihnen verschlossen - diese wurden von Drusen besetzt, einer schiitischen Abspaltung der muslimischen Religionsgemeinschaft. So kommt es, dass sich Christen und Juden auf das Finanzwesen spezialisierten. Über die gesellschaftlichen Folgen dieser Arbeitsteilung schreibt der Historiker Fawwaz Traboulsi:
"Im Gebiet Libanonberg drückte sich diese ungleiche soziale Aufstellung aus in einem Gemeinwesen der Drusen, das überwiegend von der Funktion der Stammeskrieger dominiert wurde, und einem christlichen Gemeinwesen, das überwiegend von Bürgern und einer großen bäuerlichen Gemeinschaft bestimmt wurde. Dieses Ungleichgewicht sollte größtenteils dafür verantwortlich werden, politische Probleme in religiöse Konflikte zu transformieren."
Solche Konflikte gab es auf dem Gebiet des heutigen Libanon immer wieder. Nach Massakern zwischen muslimischen Drusen und christlichen Maroniten strömten im Jahr 1860 Tausende Flüchtlinge nach Beirut. Abseits der Provinz setzte in der Stadt jedoch eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft ein, die enge Konfessionsgrenzen aufbrach. So gab es schon damals Versuche, eine religions-übergreifende, kulturelle Identität innerhalb des Osmanischen Reichs zu entwickeln, betont Stefan Leder, Direktor des Deutschen Orient-Instituts im Libanon:
"Was für Beirut dann viel wichtiger war als dieser Konfessionskonflikt, ist die Entstehung dieser kulturellen Erneuerungsbewegung genannt 'Al nahda', die aber im Hinblick auf Reorganisation von Wissenschaft in der Gründung einer öffentlichen Kommunikation durch das Zeitschriften- und Zeitungswesen, in dem Ansatz einer Sprachreform, die Sprache, kulturelle Identität, natürlich konfessions-übergreifend neu gefasst hat und letztendlich eine neue Klasse von Akteuren hervorgebracht hat: den Citoyen, den städtischen Intellektuellen, der Beirut ein besonderes Gesicht gegeben hat."
Die Geschichte des heutigen Libanon ist eine Geschichte mit unendlich vielen Untergeschichten. Zur Zeit des Osmanischen Reichs erlebte Beirut als Zentrum der "Nahda" eine Blüte der arabischen Literatur und Sprache. Eine der herausragenden Persönlichkeiten war der Schriftsteller Nasif al-Yaziji: Der griechisch getaufte Katholik übersetzte die Bibel ins Arabische, gründete die weltweit erste arabische Literaturgesellschaft und reformierte die arabische Sprache. Sein Sohn, Ibrahim al-Yaziji, ist als Dichter bekannt, der es wagte, seine Stimme gegen die osmanischen Herrscher zu erheben. Al-Yaziji´s Verse begleiteten die Geburtsstunde des arabischen Nationalismus, der einen neuen Herkunftsmythos begründen sollte. Der libanesische Autor und Journalist Samir Kassir berichtet von geheimen Aktionen arabischer Intellektueller, die in den Gebieten des Libanon und Syriens damit begannen, für eine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zu kämpfen:
"Die Herausforderung des Osmanischen Reichs erreichte seinen Höhepunkt mit der berühmten 'Poster-Affäre' von 1880-1881, als anonyme nationalistische Aufrufe die Wände von Beirut und Damaskus zupflasterten. Die erste Erklärung, die im Juni 1880 aufgehängt wurde, richtete sich an die 'Kinder Syriens' und verurteilte die 'Lethargie', die zu einer 'Unterwerfung unter die Türken' geführt habe. Sie endete mit Ibrahim al-Yaziji´s offen nationalistischem Vers: 'Erwacht, oh Araber, der Schlamm ragt über unsere Knie!'"
Herkunftslegenden und Mythen
Bis zur tatsächlichen Unabhängigkeit Libanons dauerte es jedoch noch weitere 60 Jahre: Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs erlangte Frankreich das Völkerbundmandat für Syrien und den Libanon. Im Jahr 1920 proklamierte Frankreich einen Staat, der die Grenzen des modernen Libanon definiert. Doch auch nachdem der Libanon 1943 seine Unabhängigkeit von Frankreich feierte, blieb unklar, welche gemeinsame Identität die Bewohner des neuen Staates miteinander verbinden sollte. Der Markt der Herkunftslegenden und Mythen konnte den gelebten Identitäten der Libanesen nicht gerecht werden.
"Während die Christen für gewöhnlich die Idee des Phönizianismus enthusiastisch unterstützten, lehnten die meisten Moslems sie als Nonsens ab. Vor allem die Sunniten haben die 'Phönizier-Formel' vehement zurückgewiesen, die sie offen als französisch-imperialistische Verschwörung gegen den arabischen Nationalismus anprangerten. Die Phönizien-Formel war intellektuell nicht tragfähig wegen ihrer Ignoranz gegenüber dem arabischen Erbe des Landes und stellte sich als nicht praktikabel heraus. Die Formel des arabischen Nationalismus dagegen, unzumutbar für die meisten Christen, entpuppte sich als gefährlich für die Souveränität des Landes, da sie diese in alarmierender Häufigkeit infrage stellt."
Der libanesische Historiker Kamal Salibi beschreibt in seinem Essay "Die Libanesische Identität" von 1971, dass letztlich alle historischen Versuche gescheitert sind, den libanesischen Staatsbürgern eine nationale Identität zu verpassen. Unter dem Eindruck der Syrienkrise könnte die Frage nach einer libanesischen Zusammengehörigkeit erneut zu einer Frage über Krieg und Frieden im eigenen Land werden.
"Gehöre zu einem Baum, gehöre zu einem Vogel, gehöre zu einer Orange, gehöre zu irgendetwas, aber du brauchst etwas, das dich vereint. Es zahlt sich nicht aus, bloß darüber zu sprechen, vereint zu sein!"
"Ich glaube nicht, dass ich es in einem Wort, in einer Identität ausdrücken kann. Ich glaube, es gibt viele gegensätzliche Identitäten in Beirut."
Der Aufstieg der Schiiten
Wieder verzweigt sich die libanesische Geschichte in eine Vielzahl von Geschichten. Eine der jüngsten erzählt vom gesellschaftlichen Aufstieg der muslimischen Minderheit der Schiiten. Dieser bis vor wenigen Jahrzehnten weitgehend unterdrückten Religionsgemeinschaft gelang mit Unterstützung aus dem Iran eine beeindruckende Entwicklung, erzählt Stefan Leder, Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Beirut.
"Wenn wir das seit den 1970er-Jahren verfolgen wollen, in 40 Jahren sind die Schiiten in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Advokaten, Ärzte, Krankenhäuser, Geschäftsleute, das ist dem Grunde nach eine riesige Erfolgsgeschichte, die mehr oder weniger von einer Generation, 1,5 Generationen erbracht worden ist. Das ist aber nicht unter den Rahmenbedingungen eines integrativen politischen Systems entstanden, es gab keine allgemeine Protektion und eine Willensbildung, die gesagt hat, politisch müssen wir jetzt den marginalisierten Schiiten helfen. Sondern das ist durchgefochten worden, von religionspolitischen Gruppen und ihren Wortführern, gegen andere."
Ausdruck des gewachsenen politischen Machtanspruchs der Schiiten ist auch die Hisbollah, die "Partei Gottes", die sich offiziell im Jahr 1985 im Libanon gründete. Während die schiitische Hisbollah von westlichen Staaten als terroristische oder islamistische Vereinigung eingestuft wird, gilt sie im Libanon als rechtmäßige Partei des Widerstands. Rund 80 Kilometer südlich von Beirut betreibt die Hisbollah eine Art "Freilichtmuseum", in dem die Organisation an ihren Kampf gegen die israelische Armee erinnert.
"Die Hisbollah war hier in Mleeta wegen Israel. Die großen Männer von Hisbollah haben gesprochen, was er müsse machen ..."
In brüchigem Deutsch führt Karim, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, Journalisten und Touristen durch das Freilichtmuseum "Mleeta - Wahrzeichen des Widerstands". Es ist ein Ort, an dem sich die Dialektik von Propaganda und Gegenpropaganda studieren lässt. Tafeln auf Arabisch und Englisch erinnern an verschiedene "Dschihad-Operationen", mit denen der "zionistische Feind Israel" aus dem Libanon vertrieben wurde. Entlang eines Rundweges stellen arrangierte Szenen mit lebensgroßen Puppen in Tarnuniform das Leben der Mudjaheddin nach. Im Kinosaal läuft der Kampf gegen Israel aus der Perspektive der libanesischen Hisbollah.
Karim hat selbst nie im Libanon gekämpft. Der 26-Jährige ist in Hamburg geboren. Am liebsten möchte er mit seiner Frau zurück nach Deutschland, sobald er sein Studium in Beirut beendet hat. Dass er heute nebenher als Touristenfrüher im Freilichtmuseum der Hisbollah jobbt, geschah eher zufällig: Karim ist Schiit und spricht Deutsch. Auch sein Chef taugt nicht zum Vorzeige-Kämpfer. Der Chef der Presseabteilung, der Karim während des gesamten Interviews keine Sekunde aus den Augen lässt, arbeitete jahrelang als PR-Manager beim britischen Kosmetikhersteller "Body Shop".
Warum die Hisbollah heute auf Seiten des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad im Nachbarland kämpft, darüber darf Karim nicht sprechen. Erlaubt sind nur historische Fragen. Und doch steht fest, dass dieser Kampfeinsatz der Hisbollah Sympathiepunkte kostet: Von einer "Befreiungsbewegung" gegen Israel hat sich die Organisation in einen Kriegspartner Assads im Syrischen Bürgerkrieg gewandelt. Was heißt das für den Libanon? Gefährdet die Parteinahme der Hisbollah den Frieden im eigenen Land? Der Direktor des Orient-Instituts Stefan Leder erinnert daran, dass starke ausländische Verbündete schon immer eine bedeutende Rolle gespielt haben:
"Da hat der Libanon auch eine Geschichte, diese großen Konflikte immer zu sich zu holen und hier auszutragen. Denken Sie an Palästinenser und den Anti-Imperialismus, auf der anderen Seite Israel und westliche Mächte, USA. Die Maroniten, die am liebsten gesehen hätten, dass Israel das alles hier besetzt und ein 'kleiner Libanon' entsteht unter maronitischer Vorherrschaft. Und dass die Muslime da sonst wo hin gehen. Die Tradition, die da am Werke ist, die Konvention, sich mehr an Kräften außerhalb des Libanon zu orientieren als am Libanon selbst - das ist so alt wie der unabhängige Libanon und insofern war es immer auch für die Wissenschaft eine schwer zu fassende Nation."
Welche Nation soll das überhaupt sein, fragt auch die Beiruter Architektin Mona Hallak. Die 40-Jährige ist für eine Protestaktion an die Strandpromenade Corniche gekommen. Mona Hallak ist in Beirut geboren und während des Libanesischen Bürgerkriegs aufgewachsen. Den Einmarsch der israelischen Armee hat sie als Achtjährige erlebt. Mona Hallak sagt, dass die Gräben zwischen den Religionen heute tiefer sind als zur Zeit des Libanesischen Bürgerkriegs in den 1970er-Jahren.
"Sektierertum und die Grenzen zwischen den Menschen sind gewachsen. Wir haben früher über Moslems und Christen gesprochen, heute sprechen wir über Schiiten und andere Schiiten, Sunniten und andere Sunniten und Sunniten und Schiiten und Maroniten und andere Maroniten. Das ist wirklich beängstigend. Ich verstehe es nicht, ich habe mein ganzes Leben hier gelebt und verstehe es nicht, ich erwarte also auch von niemand anderem, es zu verstehen. Aber ich glaube, dass wir in einer wirklich schwierigen Situation sind und dass uns nichts retten wird, wenn wir nicht irgendein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln."
Das Kulturerbe wird einfach abgerissen
Mona Hallak nimmt an einer Kunstaktion teil, die auf den Ausverkauf der Bauplätze entlang der Beiruter Corniche aufmerksam machen möchte. Die alten Gebäude aus osmanischer Zeit, Häuser im französischen Kolonialstil, libanesische Hybride, die einst unterschiedlichste Baustile in sich vereinten - fast alles wurde abgerissen und durch Hochhäuser aus Glas und Beton ersetzt. Sie hat eine Karte erarbeitet, auf der die letzten alten Gebäude Beiruts verzeichnet sind. Nur noch zwei Prozent des architektonischen Erbes der Stadt existiert heute noch, erzählt Mona Hallak:
"Leider wird in Beirut alles für Geld verkauft. Es gibt kaum Baudenkmäler, unser Kulturerbe existiert nicht. Baudenkmäler bedeuten Geld, weil der Baugrund unter diesen Denkmälern sehr teuer ist, niemand schert sich um die Gebäude. Erinnerung und Identität und Erbschaft sind nicht so wichtig. Viel wichtiger ist es, eine entwickelte, brandneue und saubere Stadt zu haben. Das hat das öffentliche Bewusstsein wirklich geprägt. Heute gibt es ein wenig Erwachen, aber es ist für uns sehr schwer, die Menschen zu überzeugen, dass wir die rote Linie erreicht haben. Beirut verliert alles, das mit seinem Erbe zu tun hat. Und diese Stadt ist 6000 Jahre alt!"
Nach dem Libanesischen Bürgerkrieg begann der damalige libanesische Präsident und milliardenschwere Bauunternehmer Rafik Hariri, die Beiruter Innenstadt als hypermoderne Metropole wieder aufzubauen. Nichts sollte an die Schrecken des Bürgerkriegs erinnern. Die Auferstehung der Beiruter Innenstadt gehört zu den größten Stadtsanierungsprogrammen der Welt. Doch mit den historischen Bauwerken sind auch die sichtbarsten Zeichen der libanesischen Geschichte in Beirut verschwunden. Kann es eine Zukunft ohne Herkunft geben? Oder kann die alltägliche Erfahrung der gelebten Geschichten und Identitäten ein "libanesisches" Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen? Zu diesem Schluss kommt der Historiker Kamal Salibi in seinem Essay "The Lebanese Identity":
"Während die Suche nach einer historischen oder philosophischen Basis für die libanesische Nationalität weitergeht, ist es hauptsächlich der tagtägliche Prozess, Libanese zu sein, durch den die Menschen des Libanon zu einer Nation werden. Bedenkt man die zunehmende Mühelosigkeit, mit der mit fundamentalen Problemen umgegangen wird, und trotz der Gefahr, die so oft das libanesische System bedroht, würde man nicht erwarten, dass dieser Prozess leicht rückgängig gemacht werden könnte."
Diese Zeilen schrieb Kamal Salibi im Jahr 1971, ein Jahr nach der Ankunft der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO in Beirut und vier Jahre, bevor das Morden zwischen Christen und Muslimen im Libanesischen Bürgerkrieg begann. Sind Salibis Zeilen heute mehr als nur ein schöner Traum, in einer Situation, in der der Libanon durch ein Überschwappen des Kriegs in Syrien bedroht ist? Der Direktor des Orient-Instituts in Beirut wagt keine Vorhersage. Doch Stefan Leder benennt ein Gefühl: Auch wenn alle Versuche einer libanesischen Identität in der Theorie gescheitert sind, könnte die Praxis der gelebten Realität am Ende stärker sein.
"Genialität, die ansteckend ist"
"Diese freiheitliche Gesinnung, die ja jedem ins Auge sticht, der nach Libanon kommt, harte Gegensätzlichkeit von Lebensstilen und Lebensauffassungen, die nebeneinander im selben Restaurant Stuhl an Stuhl sitzen und geduldet werden. Das ist eine Besonderheit, ich kenne das aus keinem anderen Land oder keinem anderen Platz hier in der Region. Und meine Intuition, mehr als mein Wissen, denn was wissen wir von der Zukunft? Meine Intuition sagt mir: das hält. Darauf ist man stolz, das will man so. So dass es hier eine ganz einmalige Widerständigkeit gegen die Krise gibt, eine resiliance, ein Ausharren, eine Beharrlichkeit, diesen Lebensentwurf vorzuführen. Da würde ich sagen, hat Beirut eine Genialität, die ansteckend ist."
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