"Ich bin fassungslos über Netanjahu"
In Israel und dem Westjordanland vergeht kaum ein Tag ohne Blutvergießen. Dabei sei die Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts längst überfällig, meint die Publizistin Sylke Tempel. Beide Seiten müssten dafür endlich Abschied von der Propaganda nehmen.
Deutschlandradio Kultur: 20 Jahre nach dem Mord an dem israelischen Ministerpräsidenten und Friedensnobelpreisträger Jitzchak Rabin scheint der Frieden im Nahen Osten weiter entfernt denn je. Kaum ein Tag vergeht in Israel und im Westjordanland ohne Blutvergießen. Palästinensische Attentäter greifen Israelis auf offener Straße an. Israelische Sicherheitskräfte schießen scharf zurück. Mehr als 80 Menschen sind schon zu Tode gekommen. Die viel zitierte Spirale der Gewalt dreht sich mal wieder im Heiligen Land.
Die Lage scheint heillos verfahren. Darüber rede ich heute in Tacheles mit einer ausgewiesenen Nahost-Expertin, mit Dr. Sylke Tempel. Sie ist Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik", die von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik herausgegeben wird. – Guten Tag, Frau Tempel.
Sylke Tempel: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Manche Beobachter, Frau Tempel, warnen davor, dass die aktuelle Anschlagsserie sich zu einer Intifada auswachsen könnte, also zu einem allgemeinen Palästinenseraufstand gegen Israel. Andere sagen, es sei schon soweit, es sei bereits die dritte Intifada. – Was meinen Sie?
Sylke Tempel: Ich kann mich schon mal gar nicht damit anfreunden, dass wir das immer Intifada nennen. Das war beim zweiten Mal schon relativ falsch, wenn man das vergleicht mit der ersten Intifada. Das war wirklich ein spontaner Aufstand. Der ist aus einem Zündfunken entstanden, einem Unfall in Gaza, bei dem ein Kind überfahren worden ist von einem israelischen Militärtransporter. Und dann hat sich das wie ein Lauffeuer verbreitet, wie eben Dynamiken entstehen. Eine Menge Leute haben das gleiche Gefühl gehabt – jetzt ist Schluss, wir können das nicht mehr aushalten. Die Besatzung ist nicht menschlich, wie ihr Israelis euch das einbildet.
Die zweite Intifada war schon organisiert. Das ging nicht von unten aus. Das war im Grunde genommen auch von der palästinensischen Autonomiebehörde organisiert.
Und dieses hier ist noch anders. Dieses hier ist nicht wirklich organisiert von einer der großen politischen Gruppierungen, weder Hamas, noch Fatah, aber es ist auch nicht unorganisiert, sondern das ist schon auch angestachelt von einer enormen Propaganda auf der palästinensischen Seite, wo eben Websites veröffentlicht werden, in denen genau gezeigt wird, wo man zustechen muss, damit es besonders tödlich oder besonders schmerzlich ist oder besonders große Schäden hervorruft.
Aber es ist natürlich auch aus so einer Ruhe vor dem Sturm entstanden. Denn auf der palästinensisch-israelischen Ebene ist einfach nicht viel passiert, nicht mehr viel passiert. Und man konnte mit Netanjahu ja auch nun wirklich nicht hoffen, dass da was passieren würde.
Und dann kommt ein dritter Faktor dazu, der – glaube ich – hier immer so unterschätzt wird. Es gab so etwas Ähnliches wie eine schleichende Normalisierung, die man in Jerusalem so bemerken konnte. Also, im Guten wie im Schlechten. Im Schlechten: Die Israelis haben gar nicht mehr gemerkt, dass sie ein palästinensisches Problem haben. Der Raketenbeschuss war erstmal ausgesetzt. Das kommt immer mal wieder, aber es war erstmal ausgesetzt. Die Mauer hat auch dafür gesorgt, dass keine Attentate, große Attentate, wie sie in der zweiten Intifada stattfanden...
Deutschlandradio Kultur: Also die Mauer zum Westjordanland.
"Man will keine Normalisierung auf der palästinensischen Seite"
Sylke Tempel: ... zum Westjordanland. Also, es war eine relative Ruhe. Man konnte fast vergessen, dass jenseits der Mauer noch Palästinenser wohnen.
Und umgekehrt, wenn man sich in Jerusalem umgeguckt hat in der letzten Zeit, fand ich das ganz erfreulich. Die Straßenbahn hat tatsächlich wieder Leute von Ost-Jerusalem, das arabisch ist, nach West-Jerusalem gebracht, das jüdisch ist. Ich habe zum ersten Mal seit Jahren wieder Frauen mit Kopftuch auf der Jaffa-Straße, also im Zentrum West-Jerusalems, friedlich beim Einkaufen gesehen. Und das ist schon von der Politik nicht so gewollt von der palästinensischen Seite. Man will keine Normalisierung auf der palästinensischen Seite. Man möchte schon Stachel im Fleisch sein. Die Besatzung ist ja immer noch da.
Und auf der israelischen Seite hat Netanjahu sie auch so ein bisschen eingelullt und die Israelis glauben machen, man könnte den Konflikt verwalten, managen. Ich weiß nicht, was er sich vorstellt. Das hat schon auch mit dazu geführt. – Ob es eine dritte Intifada ist, ich weiß es nicht. Es ist zumindest eine Welle der Gewalt, die wir jetzt so in der Weise lange nicht gesehen haben.
Deutschlandradio Kultur: Als Anlass für diese Welle der Gewalt gilt der Streit um den Tempelberg in Jerusalem. Der ist Juden wie Muslimen heilig. An sich sind ja die Rechte der beiden Religionsgemeinschaften an diesem Berg vertraglich geregelt. Aber viele Palästinenser befürchten oder zumindest wird es propagandistisch behauptet, Israel wolle den Status quo ändern, zum Nachteil der Muslime nämlich. – Ist da was dran?
Sylke Tempel: Nein. Also, was wir sehen auf der israelischen Seite, ist, dass es tatsächlich verstärkt Gruppierungen gibt, die sich nennen "die Gruppierung des dritten Tempels", die dann offen propagieren, diese "Scheußlichkeit" – und damit meinen Sie wirklich den sehr schönen Felsendom und die al-Aqsa-Moschee – müssten weg. Aber das sind kleine rechte Splittergruppen. Die werden ganz richtig von der israelischen oder auch von anderen israelischen Regierungen oft unterschätzt, aber es hat immer eine klare Linie gegeben der israelischen Regierungen seit 1967, am Status dieses Berges, des Haram oder des Tempelberges wird sich nichts ändern. Der ist nach wie vor einer islamischen Behörde, dem Waqf, unterstellt. Und daran ändert sich nichts.
Wenn geändert wird, dann eher von palästinensischer Seite, die zum Beispiel seit Jahren schon eine Propaganda fährt, die darauf abzielt zu behaupten, es habe da niemals einen jüdischen Tempel gegeben. Da seien auch gar keine archäologischen Reste mehr vorhanden. Archäologen schlagen schon seit Längerem Alarm, dass unter dem Tempelberg ordentlich gegraben wird, was sich ja auch nicht besonders gut auf die Statik auswirken könnte, um mal eben archäologische Beweise zu verräumen, was natürlich einem Archäologen ein blutendes Herz verschafft. Das ist klar. Hier werden sozusagen Zeitzeugenschaften weggeräumt. Aber von israelischer Seite gibt es überhaupt gar kein Ansinnen, das zu ändern, weil man ganz genau weiß, dann wäre der Teufel los.
Nur "vermummelt" in den Felsendom - das ist auch ein Geschäft
Deutschlandradio Kultur: Aber es heißt ja, dass immer mehr Juden demonstrativ auf dem Tempelberg auch beten, was ja nach den Verträgen eigentlich verboten ist.
Sylke Tempel: Nein, das ist nicht nach den Verträgen verboten, sondern es ist eigentlich so, dass dieser Berg schon offen ist für Besucher und auch offen dafür ist, dass man dort beten kann, wenn man das will. Also, es gibt keine einzige jüdische Gebetsstätte da drauf und sie wird auch nicht errichtet, sondern es gibt nur offizielle islamische Gebetsstätten mit Al-Aqsa und mit Felsendom.
Was wir mittlerweile vergessen, ist, wie sich der Status geändert hat. Als ich das erste Mal in Jerusalem war, das war im Jahr 1982, war es überhaupt gar kein Problem, auf den Haram zu gehen und dort in den Felsendom hineinzugehen und ihn zu betrachten als Tourist, als Nichtmuslim. Das ist inzwischen strikt verboten. Es war auch völlig in Ordnung, dass man so wie in jeder Kirche auch ordentlich gekleidet, also nicht mit Shorts und nicht mit Spaghettiträgern da rauf geht, aber man musste sich nicht in der Weise jetzt auch vermummeln, wie man es jetzt tun muss, was natürlich auch ein hübsches Geschäft ist. Die Tücher, die man da kaufen muss, werden ja auch zu überteuerten Preisen verkauft.
Es ist auch schon eine unglaubliche Propaganda und Hysterie nicht auf der palästinensischen Seite, sondern unter manchen Palästinensern entstanden, die ein Interesse daran haben, die Al-Aqsa-Geschichte wirklich hoch zu jazzen.
Ja, es gibt auf israelischer Seite Gruppierungen, die das voranbringen. Die sind heute lautstärker als sie es noch vor ein paar Jahren waren. Aber das sind Gruppierungen, die im Grunde genommen schon in Schach gehalten werden. Also, ich kann es nur immer wieder betonen: Von israelischer Seite gibt es keinerlei Ansinnen, diesen Status zu ändern, weil man genau weiß, das würde enorme Kräche nach sich ziehen. Wenn etwas geändert worden ist, dann ist es von palästinensischer Seite geändert worden.
Deutschlandradio Kultur: Dieser Streit um den Tempelberg mag ja der emotionelle Anlass sein, vielleicht auch ein bisschen gesteuert. Doch als tieferes Motiv der Attentäter sehen viele Beobachter eine allgemeine Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit gerade bei jungen Palästinensern. – Resultiert das aus dieser schieren Übermacht der israelischen Besatzungsmacht, also ist es ein Gefühl der Machtlosigkeit? Oder ist das vielleicht auch Frust über die eigene Führung?
"Eine Besatzungssituation ist alles andere als eine schöne Situation"
Sylke Tempel: Da spielt, glaube ich, vieles mit. Also, wir dürfen eines nicht vergessen: Eine Besatzungssituation ist alles andere als eine schöne Situation. Wobei die israelischen Sicherheitsbehörden schon auch mit palästinensischen Sicherheitsbehörden in der Westbank zusammenarbeiten, wenn es zum Beispiel darum geht, Hamas-Aktivisten unter Kontrolle zu halten.
Aber für Palästinenser heißt das, sie haben Checkpoints zu absolvieren. Sie haben Laissez-Passers zu beantragen. Die ganzen hässlichen Seiten der Besatzung spüren sie natürlich. Und sie haben gemerkt, dass es durchaus frustrierend ist, dass auf israelischer Seite das Interesse erlischt, dass da jemals was passiert.
Mahmud Abbas hat ja eine andere...
Deutschlandradio Kultur: Also, der Palästinenserpräsident.
Sylke Tempel: Der palästinensische Präsident hat ja eine andere Strategie gefahren nach der zweiten Intifada, die in ihren Auswirkungen fatal war für die Palästinenser, nämlich eigentlich herzugehen und zu sagen, wir setzen nicht mehr auf militärische Gewalt. Wir müssen jetzt auf was anderes setzen. Deswegen war die Betonung Richtung Anerkennung durch die UN, Isolierung Israels, Druck auf Israel machen, Verbündete suchen und nicht mehr kämpfen.
Aber was nie abgestellt worden ist, ist gleichzeitig die Rhetorik, wir müssen uns unseren palästinensischen Staat erkämpfen. Wir können den nur durch Heldentum, wir können den nur durch Märtyrertum... Und wenn Sie sich die Propaganda angucken, durchaus nicht nur in Hamas-Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehsendern, sondern schon auch in Sendern und in Zeitschriften, die der Fatah, also der Partei des palästinensischen Präsidenten nahe stehen, dann geht es wirklich da drum, auch nicht die israelische Besatzung loszuwerden, was ich ein völlig legitimes, nachvollziehbares Interesse finde, sondern Juden zu töten. Das ist die Propaganda.
Da werden junge Menschen, 13, 14, 15, die für so was unglaublich empfindlich sind, finde ich, auch in einer Weise missbraucht, die wirklich schrecklich ist, weil sie zu Helden stilisiert werden, wenn sie mit dem Messer auf Israelis losgehen – wohl wissend, dass sie sich womöglich dann zum Märtyrer machen, was dann auch nochmal als ganz große Heldentat gefeiert wird.
Deutschlandradio Kultur: Sind das "einsame Wölfe", wie man das in der Terrorismusforschung nennt, also Leute, die sich vielleicht über Soziale Netzwerke, über das Internet selbst radikalisiert haben und dann auf eigene Faust losziehen, um jemanden umzubringen? – Oft sind es ja auch sehr junge Leute, 14, 15, 16.
"Immer dieses Aufpeitschen - 'ihr seid großartig, wenn ihr sie tötet'"
Sylke Tempel: Einsame Wölfe trifft's vielleicht nicht ganz, weil, da haben wir wirklich den manchmal ein bisschen psychopathologischen Attentäter im Kopf. Wenn, dann sind das Einzeltäter, die aber im Grunde genommen mit einem Massen-Narrativ konfrontiert sind, also, dass diese Art von Widerstand lobenswert ist, dass es toll ist, sich zu opfern, dass man Juden töten muss. Die natürlich aber auch nicht nur diese Propaganda sehen und hören, sondern natürlich auch ausgesetzt sind ganz anderer Propaganda von IS über Al-Qaida, über Al-Nusra. Das ist ja alles erreichbar.
Dafür kann man schon empfänglich sein, wenn man in einer Lebenssituation ist, in der man sagt, politisch geht bei uns nichts weiter, und ich bin so vielen Anfeindungen, nicht nur Anfeindungen, auch Erniedrigungen ausgesetzt. Das sind alles Frustrationsmomente, die kann man nachvollziehen. Aber ich glaube, der entscheidende Moment ist schon etwas, was sich auch direkt nach Oslo nie geändert hat. Und das ist eben immer dieses Aufpeitschen durch militärischen Widerstand, Heldentum, ihr seid großartig, wenn ihr sie tötet, während man gleichzeitig den Frieden will.
Das hat sich nie vereinen lassen. Das ist nie aufgelöst worden von irgendeiner palästinensischen Führung.
Deutschlandradio Kultur: Mahmud Abbas, der Präsident der Autonomiebehörde im Westjordanland, gilt ja als sehr geschwächt. Er bekommt diesen Ausbruch der Gewalt offensichtlich nicht unter Kontrolle, wenn er es denn überhaupt will. – Rächt sich jetzt, dass die israelische Regierung ihm bisher wenig entgegen gekommen ist und ihn dadurch auch im eigenen Lager diskreditiert hat?
Sylke Tempel: Das rächt sich nicht nur da, das rächt sich überhaupt. Ich bin ja fassungslos. Ich weiß gar nicht, warum ich über Netanjahu noch fassungslos bin. Er hat ja seine Unfähigkeit in vielerlei Hinsicht und auch schon öfter bewiesen. Aber da ist ein israelischer Premier, der zwei Dinge macht. Erstens hat er null, aber auch wirklich gar keine strategische Sicht auf das, was für Israel wichtig ist, sich nämlich in eine bessere strategische Situation zu bringen. Und die heißt am Ende immer noch, sie werden diese Besatzung auf Dauer nicht aufrechterhalten können. Die heißt immer noch, es muss eine Möglichkeit geben, dass die Palästinenser die Besatzung loswerden. Und die Möglichkeit, die es dazu gibt, ist tatsächlich der eigene Staat. Wie der funktioniert, ob er funktioniert, das ist nochmal ein ganz anderes Kapitel, ich habe da mittlerweile meine großen Zweifel.
"Ihr werdet nicht in eure Heimatdörfer zurückkehren"
Und natürlich hat man Abbas damit geschwächt. Aber es kommt schon auch eine Selbstschwächung mit dazu, die wohl damit zu tun hat, dass man eigentlich in der eigenen Rhetorik die Palästinenser nie darauf eingeschworen hat, dass – so bitter wie es ist, und für die Palästinenser ist ja selbst ein Teilstaat in der Westbank eben nur ein Teil dessen, was sie als das ihnen rechtens zustehende gesamte Palästina ansehen – dieses Opfer notwendig ist, wenn man Herr seiner selbst werden will, wenn man die Besatzung endlich loswerden will, wenn man keine israelischen Soldaten mehr haben will, die bei einer Razzia nachts die Tür eintreten.
Und dass dafür Opfer zu bringen sind, die da heißen, man wird Flüchtlinge, die in der vierten Generation noch als Flüchtlinge gelten, in den Lagern sitzen, sagen müssen, ihr werdet nicht in eure Heimatdörfer zurückkehren, weil es die so überhaupt gar nicht mehr gibt. Ihr müsst in einen Staat Palästina zurückkehren. Die heißen, wir werden diese Grenzen ziehen müssen und wir werden dann anerkennen müssen, dass unser Nachbar Israel heißt. Ob die sich jüdischer Staat nennen oder Schnitzel, das kann Mahmud Abbas vollkommen egal sein, aber er wird anerkennen müssen, dass ihr Nachbar ein Staat ist, der sich gerne selbst jüdisch nennen will und auch so bleiben will, heißt: jüdisch mit einer jüdischen Mehrheit.
Darauf hat keiner der großen politischen Führer der Palästinenser seine eigenen Leute eingewiesen, vorbereitet, rhetorisch in diese Richtung gearbeitet, sondern es ist immer auch diese Rhetorik des bewaffneten Widerstands, des Kampfs erhalten geblieben, die die Palästinenser ja nun wirklich seit 1948 nicht einen Zentimeter weiter gebracht haben.
Deutschlandradio Kultur: Diese Rhetorik wird ja auch sehr gepflegt, wenn man das so nennen möchte, von der Hamas, dem anderen palästinensischen Gebilde, das den Gazastreifen regiert. Dort versucht man jetzt, also die Hamas versucht jetzt, sich ein bisschen an die Spitze der Bewegung zu stellen im Westjordanland und ruft zu weiterer Gewalt auf. – Könnte das dazu führen, dass sich die Hamas von Gaza aus ins Westjordanland ausbreitet und dort der Fatah ernsthaft Konkurrenz macht?
Sylke Tempel: Sie hat sich schon längst ins Westjordanland ausgebreitet. Die Hamas ist dort vorhanden. Es gibt die Zellen der Hamas. Das ist die Zusammenarbeit, die wir meistens nicht sehen, zwischen israelischen und palästinensischen Sicherheitsbehörden, Abbas hat größtes Interesse daran, dass die Hamas da nicht die Oberhand gewinnt. Aber das meine ich mit der Ecke, in die sich die sogenannten gemäßigten Politiker auf der palästinensischen Seite gerne selbst pinseln.
Wenn man diese Rhetorik bemüht, dann ist es wie ein Geist, den man aus der Flasche holt. 14-, 15-, 16-Jährige, 18-Jährige, 20-Jährige nehmen so was ernst. Mit so was wachsen die auf. Mit so was wachsen die in den Kindergärten schon auf. Das sehen sie im Kinderfernsehen, nicht nur in Gaza in den Hamas-Sendern, sondern durchaus auch in den palästinensischen Sendern in der Westbank. Das ist nicht so, dass ihnen dort der Frieden gepredigt wird.
Und wenn man diese Rhetorik bemüht, selbst wenn man sie nicht ernst meint, kann sie einen einholen. Und im Zweifelsfall gilt die Hamas als die glaubwürdigere Partei, was die Anwendung von Gewalt betrifft, weil sie immer und immer wieder diese Gewalt anwenden. Dreimal haben sie es getan per Raketenbeschuss, wohl wissend, dass eine militärische Reaktion folgen würde. Sie haben enorme Schäden für sich in Kauf genommen durch die Attacken, die da von Gaza aus begonnen worden sind. Wie die Israelis reagiert haben, da kann man auch noch mal lange drüber diskutieren, aber die Initialzündung ging von Gaza aus.
Und wenn es auf den Sektor Anwendung von Gewalt zur Beendigung der Besatzung geht, hat Hamas die größere Glaubwürdigkeit. Abbas hat ein Problem, weil er plötzlich etwas stoppen muss, was er selbst vorher in friedlicheren Zeiten nie gestoppt hat. Er hat die Platte nie gewechselt. Das ist immer noch die Software, die man unter Arafat benutzt hat: heroischer Widerstandskampf. Es werden Leute geehrt, die tatsächlich Terror-Attentäter waren, um sie als Helden der palästinensischen Gesellschaft näher zu bringen Das rächt sich. Das ist nicht mehr in die Flasche zurück zu stopfen, wenn es wieder rauskommt.
Deutschlandradio Kultur: Schauen wir nochmal auf die Seite der israelischen Regierung. Die reagiert hart auf diese Gewaltwelle. Angreifer werden oft auf der Stelle erschossen. Angehörige von Attentätern werden verhaftet. Häuser werden zerstört. – Wird durch diese Härte Öl ins Feuer gegossen?
Die Initiative muss von der Besatzungsmacht Israel ausgehen
Sylke Tempel: Ich habe diese Härte nie verstanden. Also, ich will nochmal einen Vergleich bringen. 2001 oder schon 2000 im September zu Beginn der zweiten Intifada hat es Demonstrationen gegeben von arabischen Staatsbürgern Israels, palästinensischen Staatsbürgern Israels, wie auch immer man sie nennen will. Die israelische Polizei hat scharf geschossen, was ein unglaublicher Skandal ist, wenn man bedenkt, dass hier eben nicht einfach nur Araber, ich sag's jetzt mal so, demonstriert haben, sondern Staatsbürger dieses Landes – mal abgesehen davon, dass es natürlich in jedem anderen Fall auch skandalös gewesen wäre, scharfe Munition einzusetzen. 13 Demonstranten sind getötet worden dabei. Und das hat die arabische Bevölkerung Israels enorm, und ich finde auch zu Recht, auf die Palme gebracht.
Jetzt haben wir die Situationen, und das muss man sich nochmal konkret vorstellen, wo jemand mit dem Messer um sich sticht, versucht so viele wie möglich zu erwischen. Und die Israelis oder die israelischen Sicherheitskräfte gehen auch bewaffnet dazwischen. Das ist etwas besser nachzuvollziehen, als Demonstrationen mit scharfer Munition aufzulösen, das ist wirklich nicht nachvollziehbar.
Das ist etwas besser nachzuvollziehen, weil man sagt, es ist im Grunde genommen eine Notsituation. Es stehen Menschenleben auf dem Spiel. Und wir haben dann eben auch solche Fälle, dass ein Attentäter – neulich ging es um einen 13-jährigen Jungen, von dem Abbas dann behauptet hat, er sei abgeschlachtet worden von israelischen Sicherheitskräften – verletzt worden ist, in ein israelisches Krankenhaus gebracht worden ist, wo man manchmal von israelischen und palästinensischen Ärzten behandelt wird. Also, auch das passiert.
Gießt das Öl ins Feuer? Das ist nicht das Ausschlaggebende. Das befördert natürlich diese Märtyrer-Rhetorik, die da eben herrscht. Das Ausschlaggebende ist, dass politisch zuvor überhaupt nichts passiert ist. Und diese Initiative muss von Israel ausgehen. Israel ist die Besatzungsmacht und Israel muss ein Interesse daran zeigen und den Willen zeigen, dass es bereit ist, irgendetwas daran zu ändern. Das ist Netanjahus Fehler.
Deutschlandradio Kultur: Nun hat er ja auch Koalitionspartner, die noch weiter rechts stehen als er. Er steht ja für die Likud-Partei, hat aber noch in der Regierung die nationalreligiöse Partei – unter anderem – "Jüdisches Heim" um Bildungsminister Naftali Bennett, also eine Partei, die aus der Siedlerbewegung hervorgegangen ist, wie gesagt, sehr nationalistisch ist.
Hat mit solchen Koalitionspartnern Netanjahu überhaupt Spielraum?
Hat mit solchen Koalitionspartnern Netanjahu überhaupt Spielraum?
Sylke Tempel: Nein, mit jemand wie Naftali Bennett, der irgendwie die Siedlerbewegung unterstützt, natürlich nicht. Aber es hat ihn ja keiner gezwungen, in eine Koalition mit Naftali Bennett zu gehen. Es hätten auch andere Koalitionspartner zur Verfügung gestanden. Wenn er denn den Willen hätte, tatsächlich in diese Richtung was zu unternehmen, dann bietet die israelische politische Landschaft schon auch andere Koalitionspartner, mit denen er in diese Richtung gehen kann.
Eine solche Koalition einzugehen ist einfach schon mal eine Grundaussage, die da heißt, die im Grunde eine große Schrift drüber hat: Ich möchte nicht in die Richtung Zweistaatenlösung gehen! Und das halte ich für fatal, absolut fatal.
Deutschlandradio Kultur: Also, diese Kräfte wollen das Westjordanland annektieren, zum Teil des israelischen Staates machen und...
Sylke Tempel: Das ist ja das Absurde. Nicht mal das wollen sie. Denn wenn sie das machen würden, wenn sie das Westjordanland annektieren, dann annektieren sie damit soundso viele – ich weiß gar nicht, wie viele es im Moment sind – 2,7 Millionen Palästinenser im Westjordanland.
Das, was sie wollen, ist ja im Grunde genommen den Kuchen zu backen und keine Eier dafür aufzuschlagen. Sie wollen im Grunde genommen die Oberhoheit haben. Sie wollen in ihren Siedlungen in was sie nennen Judäa und Samaria sitzen bleiben. Und sie wollen aber gleichzeitig auch nicht, dass die palästinensische Bevölkerung Teil des israelischen Staates wird. Insofern ist man sich noch einig. Man möchte weiterhin eine jüdische Mehrheit. – Nur, das ist nicht zu haben.
Ich hasse den Vergleich mit Apartheid, weil es hier nicht um Rassismus geht und das ist auch anders als in Südafrika, aber das läuft tatsächlich darauf hinaus, dass man dann schlichtweg eine Zweiklassengesellschaft hat, in der die einen das Sagen haben, die militärische Oberhoheit haben, eben die Besatzung haben, aber niemals in dieser Weise Verantwortung tragen für Bürger, so wie Israelis natürlich Verantwortung tragen für die arabischen Bürger Israels. Das sind Staatsbürger. Die haben Rechte. Und in der Besatzung ist es so, dass die Palästinenser diese Rechte eben nicht genießen, aber die Israelis die Rechte des Staates Israels, also die Siedler, die jedenfalls in der Westbank sind, die Rechte genießen, die ihnen der Staat Israel zugesteht. – Das ist ein unhaltbarer Zustand.
Deutschlandradio Kultur: Benjamin Netanjahu hat ja die Wahlen gewonnen mit dem Versprechen, für mehr Sicherheit zu sorgen. Das Versprechen kann er offensichtlich zurzeit nicht einhalten. Seine Umfragewerte sinken entsprechend. – Könnte ihn das bewegen, eine Koalition mit anderen Kräften einzugehen, die Sie ja erwähnt haben, zum Beispiel mit der Arbeitspartei oder mit der Partei von Ex-Außenministerin Tzipi Livni?
"Die Klientel, die Netanjahu pflegt, wird sich verraten fühlen"
Sylke Tempel: Das ist so eine Millionendollarfrage, weil ich wirklich nicht mehr einschätzen kann. Als Netanjahu das erste Mal Premierminister geworden ist 1996, dachte ich noch: Na ja, es wird schwierig, aber es könnte sein, dass man auch einen rechten Politiker dazu bewegen kann. Dann kam die zweite Premierschaft und eine dritte Amtszeit als Premier. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob Netanjahu schlichtweg – wie soll ich denn sagen – die mentale Landkarte hat oder auch den politischen Mut hat, in Richtung Zweitstaatenlösung zu gehen, weil die Klientel, die er jetzt gepflegt hat, die wird sich verraten fühlen. Und die wird ihn das spüren lassen.
Und jemand wie Netanjahu, der 1996, was ja inzwischen schon vergessen ist, auch Rabin als Volksverräter bezeichnet hat, weiß sehr wohl, was der Vorwurf Verrat heißt. Also, er hat sich in eine ähnliche Ecke gepinselt wie Abbas eigentlich, indem er irgendwie immer behauptet, man könnte diesen Konflikt managen. Er würde Sicherheit versprechen. Dann passiert es eben nicht. Er ist verantwortlich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er bereit ist, mal einen Softwarewechsel zu vollziehen und zu sagen, das Offensichtliche ist doch eigentlich, dass diese Siedlungsunterfangen nicht funktionieren. Sie werden keine jüdische Mehrheit in der Westbank herstellen. Sie werden immer eine Minderheit sein, die mit Gewalt zu schützen ist. Vielleicht geben wir dieses Unterfangen mal auf, nachdem wir 40 Jahre probiert haben, das den anderen aufzudrücken, und es funktioniert nicht. Vielleicht kostet es einfach auch zu viel. Vielleicht schadet uns das strategisch, politisch, wirtschaftlich in jeglicher Hinsicht.
Ich bin nicht sicher, ob er die Fähigkeit und den Willen hat, diese Art von mentalem Softwarewechsel wirklich zu vollziehen.
Deutschlandradio Kultur: Nun ist Israel ja eine Demokratie. Also, er könnte ja auch abgewählt werden. Wie steht die Bevölkerung denn jetzt inzwischen zu der Lage? Die Menschen sind doch sicherlich der ewigen Gewalt müde. Oder sind sie so verängstigt, dass sie sich in eine Art Wagenburg-Mentalität zurückziehen?
Sylke Tempel: Das kann man für die gesamte israelische Bevölkerung eigentlich nicht immer sagen. Also, Freunde von mir sagen mir – ich war jetzt vor zwei Wochen das letzte Mal da, das kann sich aber immer relativ schnell ändern – dass dieses Gefühl der Angst, wenn man auf die Straße geht und man weiß, egal, wo man ist, man könnte ein Messer zwischen die Rippen gerammt kriegen, also, das möchte ich mal hier in Deutschland erleben, wenn das hier so wäre. Die Leute würden sich längst schon in ihren Wohnungen verriegeln.
Das ist da, aber es kommt natürlich nochmal was anderes mit dazu. Netanjahu hat ja nicht nur eine rechte Rhetorik oder in Teilen auch durchaus eine diskriminierende Rhetorik auch gegenüber der arabischen Bevölkerung in Israel, also arabischen Staatsbürgern Israels, er hat ja auch immer eine Rhetorik der Angst bemüht, die da eigentlich heißt: Wir sind von Feinden umzingelt. Keiner will uns was Gutes. Da draußen sind eben nur Leute, die unsere Gegner sind. Die wollen uns alle ans Leben.
Und jetzt passiert etwas, das stellt ein unmittelbares Gefühl dar, dass es so ist, wenn man auf die Straße geht, dass man tatsächlich ein Messer zwischen den Rippen haben könnte. Das führt natürlich zu einer großen Verängstigung. Die ist, glaube ich, wirklich momentan sehr groß. Aber ich habe das immer wieder erlebt in Israel: Wenn sich die Dinge ändern, dann ändert sich auch die Stimmung und zwar relativ schnell.
Deutschlandradio Kultur: Spielen denn auch historische Traumata dabei eine Rolle? Netanjahu bedient sich ja sehr gerne der kollektiven Erinnerung an den Holocaust, um seine Politik als alternativlos darzustellen.
"Wir wohnen in einer schrecklichen Region"
Sylke Tempel: Ich glaube, es geht nicht nur um den Holocaust. Also, wir haben uns so angewöhnt, Israel immer zu bezeichnen als zerrissene Gesellschaft. Ich könnte mehr als einen Riss in dieser Gesellschaft oder mehr als eine Kluft benennen, es gibt nicht nur zwei Lager. Aber wenn man es schon zweiteilen will, dann würde ich sagen, es geht nicht um friedensbewegt, säkular und an der Küste in Tel Aviv wohnend – und religiös, Antifrieden und so. Sondern die Kluft ist eine ganz andere.
Die Kluft ist zwischen einer israelischen Mentalität, die Jitzchak Rabin sehr verkörpert hat, die als rechter Politiker auch Ariel Scharon verkörpert hat oder auch Ehud Barak, Ehud Olmert, die alle sehr mutige frühe Friedensgespräche geführt haben mit den Palästinensern, auch sehr weit gegangen sind und deren Rhetorik eigentlich immer war – ich paraphrasiere das jetzt mal: Wir wohnen in einer schrecklichen Region. Und die Leute außen rum wollen uns wirklich nichts Gutes. Und wenn Sie mal angucken, wie die Propaganda oder die Medien in Ägypten sind, also einem Land, das einen Friedensvertrag hat mit Israel, dann sehen Sie auch, was sie damit meinen. Aber wir sind Israelis. Wir haben eigentlich ein relativ starkes Militär. Wir haben politische Freunde. Die sind auch verlässlich. Wir können das. Wir brauchen keine Angst zu haben.
Und das was ich nenne die Diaspora-Rhetorik. Und da ist der Holocaust natürlich der dramatischste Ausdruck des Scheiterns der Diaspora oder des Grundes dafür, dass man in der Diaspora immer Angst haben muss, weil man als Minderheit eigentlich immer irgendwelchen kosakenhaften antisemitischen Menschen ausgesetzt ist. Das ist die Rhetorik, die Netanjahu bemüht. Das ist eine Angstrhetorik. – Die da draußen wollen uns alle nichts Gutes. Die wollen uns alle an die Gurgel. Die sind im Grunde ihres Herzens alle unsere Feinde. Wir müssen uns wappnen. Es gibt nichts anderes als das, was ich mache. – Ich nenne das eine Angst-, eine Diaspora-Rhetorik.
Es ist fast so, als würde man sagen, es liegt sozusagen zwischen einer jüdischen Diaspora-Identität, die im Grunde genommen in Teilen vor der Gründung des Staates vorhanden war, und einer israelischen Mentalität, die sagt: Aber wir haben doch schon einen Staat! Der ist unter Attacke und wir haben enorme Gefahren außen rum. ISIS steht im Golan an den Grenzen Israels, genauso wie im Sinai. Das sehen wir jetzt auch mit dem Abschuss – wahrscheinlich – oder dem Attentat auf das russische Flugzeug, da sind enorme Terrornetzwerke entstanden direkt an der Grenze. Also, schön ist anders. Das ist eine hochgefährliche Region. Aber wir können das bewältigen, wir haben das unter schlimmeren Umständen seit '48 immer bewegt. Dieses Selbstbewusstsein haben wir und deswegen können wir auch Zugeständnisse machen. – Das ist die Kluft in Israel.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade die Probleme in der Region drumrum erwähnt. Die sind ja wirklich mannigfaltig: der Krieg in Syrien, der sogenannte Islamische Staat, also ISIS, auch die Rückkehr des Iran auf die diplomatische Bühne. Bietet das vielleicht auch eine Chance, diesen ja eingefrorenen Konflikt in Bewegung zu bringen, vielleicht auch mit äußerer Hilfe?
"Propaganda ist leichter als Differenzierung"
Sylke Tempel: Ich wüsste eigentlich nicht, wenn im Grunde genommen aus einer milden Hölle eine richtig furchtbare Hölle geworden ist, wie das in irgendeiner Weise einen positiven Effekt haben kann.
Nur, um das mal einzuordnen: Ich finde, der palästinensisch-israelische Konflikt ist längst schon überfällig für eine Lösung. Und im Grunde genommen wäre er gar nicht so schwer zu lösen. Es geht um Feststellung von Grenzen. Es geht um die Teilung einer Hauptstadt. Das ist schon schwieriger, weil im Grunde genommen unglaublich viele Einzelheiten da zu regeln sind, zu gucken ist, dass die Stadt sich nicht so ganz asymmetrisch entwickelt usw.
Und das wird natürlich erschwert durch zwei Faktoren: Erstens, Destruktion ist leichter als Konstruktion. Destruktiv und zerstörerisch zu sein, ist viel leichter, als etwas aufzubauen. Propaganda ist leichter als Differenzierung. Das wissen wir alles. Und dann kommen natürlich auch religiöse Aspekte mit dazu oder solche, die missbraucht werden. Aber der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht der Kernkonflikt in der Region.
Der Kernkonflikt in der Region, und das sehen wir in Syrien, das sehen wir in Nordafrika, das sehen wir im Irak, ist ein ganz anderer. Es sind niemals dort – und das ist natürlich zum großen Teil dem Kolonialismus geschuldet, aber nicht allein – es sind niemals dort Staatsgefüge entstanden, die tatsächlich auch für ihre Bürger etwas leisten können. Es sind immer nur Staatsgefüge entstanden, die für ihre Eliten was leisten können, die im Übrigen von einer fantastischen Verantwortungslosigkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung sind, in denen nie dafür gesorgt worden ist, dass eine wirtschaftliche Entwicklung in Gang gebracht wird, die auch weniger gut verdienende oder gut ausgebildete Bevölkerungsgruppen trifft. Es sind nie Staatsgebilde geschaffen worden, in denen so was Ähnliches wie ein Bürgerverständnis sich durchgesetzt hat, das da heißt: Ich kann als Sunnit, Alawit, auch Christ gleichzeitig Syrer sein. Es ist einfach Unsinn zu behaupten, dass das in Syrien vor Assad geklappt hätte. Sonst wäre dieser Bürgerkrieg nicht mit dieser Wucht ausgebrochen.
Das ist das Kernproblem im Nahen Osten, nicht der israelisch-palästinensische Konflikt. Und wie aus den anderen Problemen jetzt die Dynamik entstehen kann, dass dann auch dort was Gutes...? Wir wissen ja noch nicht mal, wie wir Syrien lösen können. Für Israel und Palästina sage ich mir, da wissen wir, wie es am Ende aussehen soll. Da haben wir noch auch im Großen und Ganzen Politiker, mit denen wir sprechen können, die unter Umständen Verantwortung übernehmen, was weder Abbas noch Netanjahu gerade tun. Aber theoretisch ist die Möglichkeit da. Das haben wir in Syrien weit und breit nicht. Das ist im Irak auch nur bedingt der Fall.
Wenn heute der israelisch-palästinensische Konflikt wie durch Zauberhand gelöst wäre, wäre nicht einer, nicht ein einziger der anderen Konflikte, die sehr viel blutiger, sehr viel gewalttätiger sind, in dieser Region gelöst. Es würde keinen Unterschied machen.
Deutschlandradio Kultur: Mit diesem Fazit, das nicht sehr optimistisch stimmt, danke ich Ihnen sehr für dieses Gespräch.
Sylke Tempel, geboren 1963, ist seit 2008 Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik" (IP), die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik herausgegeben wird. Tempel studierte in München Politologie und Judaistik, 1993 Promotion über amerikanisch-jüdische Beziehungen zur Bundesrepublik. Danach Nahost-Korrespondentin für die Wochenzeitung "Die Woche". Seit 1994 Lehrtätigkeit an der Berliner Außenstelle der Stanford University. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a. über Israel und den Nahost-Konflikt.