Nahtoderfahrungen

Am Ende bleiben Licht und Liebe

08:38 Minuten
Holzstich nach Zeichnung von Gustave Doré (1832–1883), mit der Dartellung von Dante und Beatrice, die Gottes Angesicht in einem Tunnel aus Licht und Engeln erblicken.
Sonne einer anderen Sphäre: Viele Menschen, die an der Schwelle des Todes standen, berichten, sie hätten ein Licht gesehen. © akg-images
Von Julia Ley |
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Ein fernes Licht, das Leben im Schnelldurchlauf, der Eindruck, über dem eigenen Körper zu schweben: Viele Menschen beschreiben sogenannte Nahtoderfahrungen sehr ähnlich. Doch sie ziehen ganz unterschiedliche Schlüsse aus dem Erlebten.
In einem kargen Raum im obersten Stock des Münchner Selbsthilfezentrums versucht Werner Barz, Worte zu finden für das, was sich eigentlich nicht beschreiben lässt: den eigenen Tod. Er ist ihm vor gut 30 Jahren knapp entkommen. Noch heute wird der 80-Jährige dabei manchmal von der eigenen Erfahrung überwältigt:
"Ich und du, du und ich. Wenn das verschmilzt – Entschuldigung, das ist die Kraft, die man nicht erklären kann. Es ist toll, dass sie manchmal kommt."

Wie eine harmlose Grippe fing es an

Barz war im Auto, auf dem Weg zurück aus dem Familienurlaub, als er einen Erstickungsanfall erlitt. Er war schon krank in den Urlaub gefahren, wohl nur eine Grippe, dachte er. Erst hinterher sollte sich herausstellen, dass er Gelbfieber hatte.
An einer Tankstelle auf dem Brenner öffnete er die Autotür, um mehr Luft zu bekommen – und glitt bewusstlos zu Boden: "In dem Moment habe ich gewusst: Jetzt bin ich tot, jetzt sterbe ich."

Gott sagte: "Schön, dass du da bist!"

Barz war in der katholischen Jugend, er erwartete das Jüngste Gericht. Doch das bleibt aus. Stattdessen umfing ihn ein Licht:
"Ich hab sozusagen in die Sonne geschaut, aber es hat nicht geblendet. Da hab ich gesagt: 'Herrgott, do bin I. I bin a Sauhund gwesn, des woaß i.' Und da hat der gesagt: 'Schee, doss do bist.' Und da zieht es dir schon mal die Füße weg. 'Moment, moment, moment. Na, bei uns wird nicht gerichtet, bei uns wird gelebt.' Geborgenheit, Umarmung. Das kriegst du da oben nicht rein. Auch nicht später, da wirst du verrückt dabei. Deswegen haben wir die Gruppe."
Seit 15 Jahren leitet der gelernte Dachdecker bereits die "Selbsthilfe- und Studiengruppe Nahtoderfahrung" in München. Betroffene bekommen hier einen sicheren Raum, um über das Erlebte zu sprechen.
Barz beschreibt im Verlauf des Gesprächs noch andere Elemente seiner Nahtoderfahrung: Die Zeit existiert nicht mehr, alles passiert gleichzeitig. Sein Körper beginnt sich auszudehnen, mit den Fingerspitzen glaubt er, die Erde zu spüren, streift andere Planeten. Als wäre er mit allem verbunden. Und: "Ich wusste alles. Alles. Ich war allwissend."

Ein Blick hinunter auf den eigenen Körper

Viel von dem, was Barz erzählt, ist geradezu lehrbuchhaft. Die Greyson-Skala, mit der viele Wissenschaftler Nahtoderlebnisse klassifizieren, listet viele solcher Empfindungen auf: Ein anderes Zeitgefühl, allumfassendes Wissen und Out-of-Body-Experiences, bei denen der Mensch von oben selbst auf den eigenen Körper hinunterschaut. Wer auf der Skala sieben von 32 möglichen Punkten erreicht, gilt als gesichert Nahtoderfahren.
Auch der deutsche Neurologe Daniel Kondziella, der an der Universität Kopenhagen lehrt, nutzt die Skala für seine Forschung. Über eine Onlineplattform haben er und seine Kollegen rund 1000 Menschen aus 35 Ländern zu Nahtoderfahrungen befragt. Das Interessante dabei: Zehn Prozent gaben an, schon einmal ein solches Erlebnis gehabt zu haben.
Porträt von Ahmad Abbas vor einem roten Plakat des Syrischen Sozial- und Kulturvereins in München
Ahmad Abbas wurde in Syrien von einer Granate verletzt und bekam medizinische Hilfe in München. Als er in der Klinik erwachte, wähnte er sich im Paradies.© Deutschlandradio / Julia Ley
Aber nicht nur eine lebensbedrohliche Situation, auch ein schwerer psychischer Schock oder eine intensive Meditation können Nahtoderfahrungen auslösen. Ahmad Abbas, ein muslimischer Syrer, hat auch eine solche Erfahrung gemacht:
"Es war schon alles weiß. Danach bin ich eingeschlafen, einen Tag später. Die Zeit ging so schnell, wie im Traum. Als ich aufgewacht bin, habe ich ein Licht gesehen. Denn mein Zimmer war so, wie sagt man – vom Zimmer kannst du den Garten der Klinik sehen. Dieser Garten, da war die ganze Zeit nur Regen, oder Schnee, Sonne, Wind – das ging zu schnell alles."

Engel am Krankenbett

Bei einem Granateneinschlag im syrischen Homs wurde der damals 17-Jährige schwer verletzt. Ein deutscher Journalist sammelte Geld, um ihn nach Deutschland auszufliegen. Die Ärzte versetzten ihn in ein künstliches Koma. Erst zwei Monate später wachte Abbas im Haunerschen Kinderspital in München wieder auf. Er dachte zunächst, er sei im Paradies. Die Krankenschwestern hielt er für Engel.
Paradies, Engel – all das sind Elemente, die auch in islamischen Jenseitsvorstellungen vorkommen. Haben Nahtoderfahrungen also auch etwas mit der Kultur zu tun? "Abgesehen von gewissen kulturellen Unterschiedlichkeiten sind diese Elemente extrem ähnlich", sagt Daniel Kondziella, "aus allen Kulturkreisen, aus allen verschiedenen Zeitepochen. Das macht es wahrscheinlich, dass es einen biologischen Mechanismus gibt."
Was genau dieser Mechanismus ist, können Neurologen bis heute nicht erklären. Kondziella und seine Kollegen konnten jedoch nachweisen, dass Menschen, die an bestimmten Formen von Migräne oder sogenannten REM-Schlafstörungen leiden, eher zu Nahtoderfahrungen neigen, als andere.

Träumen an der Schwelle des Todes

Im Grunde, sagt Kondziella, laufe im Gehirn während einer Nahtoderfahrung dasselbe Programm ab wie in der sogenannten REM-Schlafphase, wo wir besonders viel und intensiv träumen. Das Gehirn sei dabei fast genauso aktiv wie im Wachzustand. Allerdings seien bestimmte Gehirnareale abgeschaltet:
"Das sind die Areale, die sozusagen die gesunde Vernunft darstellen, die dann im wachen Zustand sagen: 'Komm, jetzt reiß dich mal zusammen, das ist völliger Unsinn hier, daran glauben wir nicht'."
Auch der Soziologe Hubert Knoblauch hat sich lange mit Nahtoderfahrungen befasst. Anders als Kondziella ist er davon überzeugt, dass die Kultur durchaus einen Einfluss auf das Erlebte hat. Das konnte er in den 1990er-Jahren sogar für Ost- und Westdeutsche nachweisen.

Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland

Ostdeutsche brachten ihre Erlebnisse zunächst überhaupt nicht mit dem Tod in Verbindung, weil Religion und damit auch Jenseitsvorstellungen in der DDR für die meisten kaum eine Rolle spielten. "Das eine ostdeutsche Beispiel ist ein bisschen populär geworden", sagt Knoblauch. "Die hat damals sinngemäß gesagt: 'Und nach der Wende wusste ich, das war das Jenseits'."
Im katholisch geprägten Baden hingegen erzählten Frauen dem Forscher immer wieder, dass sie mit einem Gerippe oder einem Sensenmann gekämpft hatten. Eine Frau war grade in Gesellschaft, erzählt Knoblauch, "da kam eben der Sensenmann, der sie so am Arm nahm und sagte, 'Na wollen wir gehen?', und bis zur Tür ging. Als die Tür aufging, sagt sie, ach sie hat noch keine Lust, sie mag noch ein bisschen hierbleiben. Und dann verschwand er."
Doch wie erklärt es sich dann, dass Mediziner und Neurologen immer wieder auf ähnliche Motive stoßen? Knoblauch ist sich sicher, dass die Nahtodforschung bis heute von den ideologischen Überzeugungen ihrer Gründerväter geprägt ist.
Der Psychiater und Philosoph Raymond Moody und der Psychologe Kenneth Ring zählten zu den Pionieren der New-Age-Bewegung, der Psychiater und Neurowissenschaftler Bruce Greyson sei "ein großer Vorkämpfer der Parapsychologie", so Knoblauch: "Also, wir sind hier nicht in einem neutralen, wissenschaftlichen Gebiet."

Zurück bleibt nur die Liebe

Licht, Tunnel, ein allumfassendes Gefühl der Liebe. Für den Soziologen Hubert Knoblauch sind das keine neutralen Bilder, sondern Motive, die auf die esoterische New-Age-Bewegung der 70er-Jahre zurückgehen. Viele New-Age-Überzeugungen seien in die Greyson-Skala eingeflossen: Zum Beispiel die, dass der Tod schön zu sein habe.
Dass Nahtoderfahrungen nicht überall gleich seien, müsse übrigens nicht heißen, dass sie nicht "wahr" sind, sagt Knoblauch. Auch Träume, Albträume, Tagträume seien sehr wohl Teil der menschlichen Wirklichkeit – überall auf der Welt.
Und Werner Barz, der die Selbsthilfegruppe in München leitet? Für ihn hören Kultur, Religion, Sprache im Tod auf zu existieren. Zurück bleibe nur eine Liebe, sagt er, in der sich jeder Widerspruch auflöst. Und die sich vielleicht gerade deshalb nur mit Widersprüchen beschreiben lässt:
"Ich bin ein Sandkorn, aber ich bin auch die Wüste. Ich bin ein winziger Wassertropfen, aber ich bin auch das Meer und die Wolke."
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