Nachts im "Späti"
In Berlin haben die "Spätverkaufsstellen" die Eckkneipe und den Stammtisch abgelöst. Man trifft sich, trinkt, quatscht – und wenn es drauf ankommt, hilft man sich gegenseitig. Rund 2000 solcher "Spätis" gibt es in der Stadt. Jeder ist ein Unikum.
Hassan winkt hinterm Tresen. "Hey, hallo." Der Kunde passt kaum durch den Türrahmen. "Hey. Könnte ich einen Tee haben?"
"Was willst du haben?" "Tee. Ich bin ein bisschen angeschlagen." "Ey Alter, schäm dich Alter. Kerl wie Baum will Tee haben. Gehst du bei Mama, Mann."
Hassan lacht laut und reicht eine Tüte Hustentee rüber. Berlin Neukölln. Ein Freitagabend im Späti.
In der Ecke stehen zwei Freunde aus der WG im zweiten Stock.
"Das ist einer der besten Spätis hier in der Gegend, immer freundlich, immer nett, immer offen, ja, toller Späti. Wenn du deine Stammkneipe hast, würdest du in deine Stammkneipe gehen, ich habe meinen Stammspäti, und trotzdem hast du hier auch die Gespräche wie in der Kneipe."
Im Szenekiez von Berlin-Schöneberg. Ein prächtiger Altbau, Erdgeschoss. Von außen wirkt der Laden unscheinbar: wenig Leuchtreklame, ein zur Hälfte von Zetteln zugeklebtes Schaufenster. Noch nicht mal einen Namen hat der Späti. Die offizielle Bezeichnung ‚KB Kiosk’ klingt so unsexy, dass Tamer und Max, die beiden Betreiber, ein Namensschild gar nicht erst in Auftrag gaben.
Innen entfaltet der Späti dagegen einen skurrilen Charme. Die Wand hinter dem Verkaufstresen ist in kräftigem rot gestrichen, der Stuck darüber in Gold. Von der Decke hängt ein achtarmiger Kronleuchter, auf den Regalen kleine Lampen im Retro-Style. An den Wänden Nachdrucke von Bildern berühmter Maler: Dalí, Kandinsky, van Gogh. Und ein Mannschaftsfoto von Hertha BSC. Hat sich alles über die Zeit angesammelt, sagt Max, einer der beiden Betreiber.
"Wir hatten sogar 'ne Ausstellung hier drin von Studenten. Das war auch ganz lustig. Das machen wir auch wieder, haben wir wieder Lust zu. Es kamen Studenten her von der Kunsthochschule, haben uns angesprochen, ob sie hier nicht ein paar Bilder aufhängen können. Und wir dachten: warum nicht? Super, und es war auch echt 'ne schöne Resonanz, weil die Leute rein kamen, und die erwarten so was im Späti natürlich nicht."
Max holt Bier aus dem Kühlschrank und reicht es über den Tresen. Seit den 1970er-Jahren gibt es den Laden. Ein echter Späti wurde er 2006, als das Berliner Ladenöffnungsgesetz reformiert wurde. Seitdem ist er rund um die Uhr geöffnet. 24 Stunden. In den Anfangsjahren gab es noch Telefonkabinen. Die sind längst durch einen riesigen Kühlschrank ersetzt worden. Der Verkauf von Getränken macht einen Großteil des Geschäfts aus. Gerade im Sommer. Aber da ist noch etwas, was den Späti so beliebt macht im Kiez. Etwas, was es nicht für Geld zu kaufen gibt: Zuwendung, jemanden zum Reden.
"Viele kommen wirklich rein, und wenn es die persönliche Ebene hat wie hier zum Beispiel, dann merke ich wirklich, dass die Leute sich darüber freuen. Die kommen ohne Lächeln rein und gehen mit einem Lächeln raus."
Viele bleiben deshalb, werden Stammkunden. Kommen regelmäßig vorbei und kaufen ihr Bier lieber hier, in ihrem Stammspäti, obwohl es teurer ist als im Supermarkt. Dafür aber günstiger als in der Kneipe. So auch Nico, der im Kiez groß geworden ist. Er hat sich mit ein paar Freunden verabredet. Gleich wollen sie etwas miteinander unternehmen, vorher stehen sie eine Weile vor ihrem Späti herum: hören Musik, trinken Bier, sind gesellig.
"Der ‚place to be’, sage ich mal, für mich. Ich kenne die Leute hier eben echt schon lange und auch persönlich alle, und das ist eben 'ne Freundschaft, die daraus entstanden ist so."
Die Hilfsbereitschaft hat aber auch Grenzen
Die Themen sind lustig, unterhaltsam, existentiell. Mal öffentlich, mal privat. Es geht ums große Ganze, aber auch um kleine Krisen. Oberste Devise: Smalltalk statt einsam aufs Smartphone zu starren.
Spätibetreiber Max ärgert sich aber auch. Zum Beispiel über Nachbarn, die Ferienwohnungen vermieten und wie selbstverständlich ihre Wohnungsschlüssel im Späti deponieren. Weil der ja rund um die Uhr geöffnet hat.
Ist das der Preis dafür, dass Berliner Spätis so beliebt sind? Mag sein, sagt Max, aber Hilfsbereitschaft habe auch ihre Grenzen.
"Es kommen jede Woche bestimmt drei, vier Leute rein, die fragen‚ 'Ey, habt ihr was gehört von Wohnungen? Kann ich hier einen Zettel aufhängen?’, aber wir sagen, ehrlich, also das ist dann doch nicht unsere Aufgabe. Das ist zu viel einfach. Die erwarten manchmal, glaube ich, ein bisschen viel. Denken so, der Späti ist der Alleskönner, was natürlich nicht stimmt. Jobvermittlung können wir aber machen. Neulich kam jemand, der hat nach 'nem Barjob gefragt, dann bin ich gleich da hinten in die Akazienstraße ins ‚Café Sur’ und habe den gefragt, und jetzt arbeitet der da."
Was früher die Eckkneipe war, ist heute der Späti. Das könnte eine Erklärung sein für das Berliner Phänomen ‚Spätkauf’. Gab es vor zehn Jahren in der Hauptstadt noch weit mehr als 1000 Eckkneipen, sind es heute nur noch 500. Im selben Zeitraum könnte die Zahl der Spätis von weit unter 1000 auf 1500 bis 2000 gestiegen sein. Könnte. Eine offizielle Statistik dazu gibt es nicht. Nur Schätzungen.
"Späti ist immer Späti, das Bier ist immer das Bier, Zigaretten sind immer Zigaretten, der einzige Unterschied vielleicht zwischen den Spätis ist erstmal die Lage, wo ist viel Laufkundschaft, und der Bezug zum Spätimann an sich. Warum die Leute öfter kommen."
Späti-Betreiber Heja spricht fünf Sprachen
Im Szenekiez Friedrichshain, um die Ecke vom Boxhagener Platz. Beste Lage, viele junge Menschen unterwegs, viele Touristen. Heja, um die 30, ist neu im Geschäft. Vor einem Jahr hat er seinen Laden eröffnet. "Kiez-Späti" prangt in großen Leuchtbuchstaben über dem Schaufenster.
Heja stammt aus dem kurdischen Teil des Irak, mit zwölf kam er nach Berlin, machte hier das Abitur, studierte Bauingenieurwesen. Zurzeit absolviert er eine Zusatzausbildung zum TÜV-Prüfer. Heja spricht fünf Sprachen.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen Späti eröffne. Ich habe nie in 'nem Späti gejobbt neben dem Studium. Ich war in der Gastronomie tätig, immer kellnern oder Tellerwäscher, keine Ahnung, was man halt macht neben dem Studium, aber Späti war nie. Aber dann habe ich gesagt: warum nicht? Mache ich einen Späti."
Sein Antrieb: Leute kennen lernen. Vicente, der in Hausschuhen durch den Späti schlurft, kauft zwei Flaschen Bier und eine Tüte Chips, eine junge Französin im kurzen Leopardenkleid einen Flachmann Wodka. Damit, sagt sie, will sie den Broccoli verfeinern, den sie im Gemüseladen nebenan gekauft hat. Hejas Warensortiment umfasst das, was Spätis typischerweise anbieten: Bier, Bier und nochmals Bier. In der Mitte des Verkaufsraumes stehen zwei Paletten, in den Kühlschränken an den Wänden gibt es die Getränke kalt. Daneben Süßigkeiten und Zigaretten, Tütensuppen und Nudeln. Und ein Geldautomat.
"Die meisten Leute kommen rein und reden erstmal auf Englisch. Und deswegen dachte ich, ich passe irgendwo hierhin. Als Spätibesitzer. Natürlich muss ich das erstmal selber aufbauen hier, keine Mitarbeiter, wenn dann wirklich nur als Aushilfe, und ich muss den erstmal voranbringen, und bis jetzt hat es gut geklappt."
Heja investiert vor allem seine Arbeitskraft. Von 10 Uhr morgens bis 2 Uhr nachts steht er hinterm Tresen. Jeden Tag, außer sonntags. Sein Vater hilft aus, wenn er lernen muss für seine Zusatzausbildung. Ist der Sommer heiß und lang wie 2018, läuft das Geschäft. Dann stellt Heja kleine Tische und Bänke auf den Bürgersteig. Die Erlaubnis des Ordnungsamtes hängt demonstrativ im Schaufenster.
Fast die besseren Bars
Vier junge Männer und Frauen haben es sich bequem gemacht. "Sie sind zum ersten Mal hier", sagt Jojo, "der Späti hatte was zum Sitzen und einen Tisch frei, so einfach."
"Die Kombination zwischen günstigem Bier und Sitzgelegenheiten ist auf jeden Fall eine Anziehungskraft, die sehr hoch ist, und ich liebe es! Wenn Spätis dann noch Toiletten hätten, wären sie perfekt. Dann wären sie die besseren Bars."
"Überhaupt – einen Späti in der Straße zu haben oder bei der Wohnung um die Ecke, das ist natürlich ein Stück Lebensqualität, wenn man das im Kiez hat. Und wenn ich in Ecken bin, wo es wenige Spätis gibt mittlerweile, also Teilen von Mitte, auch Prenzlauer Berg, die Leute tun mir immer Leid. Ich bin letztens auf 'ne Feier ganz spontan in Mitte eingeladen worden, und der Gastgeber sagte: ‚Bringste bitte noch das und das und das mit’ und noch Zigaretten und hier, und ich dachte, warum sagt der mir das? Ja, weil es in seinen Straßen weit und breit keinen Späti gibt!"
Die Gentrifizierung der Wohngebiete macht eben auch vor dem Späti nicht halt. Für überteuerte Mieten reicht der Umsatz nicht.
Am Ende des Gesprächs stellt sich heraus: Die vier kennen sich nicht nur aus, sie sind absolute Späti-Experten. Sie haben sich in einem Späti kennen und zwei von ihnen dort auch lieben gelernt. Ein Leben ohne Späti, sagen sie, ist möglich. Aber sinnlos.
"Es passt zu dieser Berliner Kultur des ‚ich komme ein bisschen später’, ‚ich weiß nicht genau, wann ich komme’, ‚mal gucken, was ich mitbringe’, also dieses ein bisschen Unverbindliche, das passt halt. Die permanente Verfügbarkeit. Die Späti-Kultur passt dazu, weil die vorgibt: du musst nie planen."
Späti-Kultur passt zu Berlin
Ein paar hundert Meter weiter: Partystimmung auf dem Bürgersteig. Vor einem Späti am Boxhagener Platz steht ein Pulk Menschen, alle ein Getränk in der Hand. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, der ‚Boxi-Kiosk’ liegt in der Nähe von einigen der angesagtesten Party-Locations in Berlin. Spätibetreiber Güney kassiert mit einem Scanner. Den braucht er auch. Seine Auswahl an Bier ist so groß, dass Güney sich unmöglich alle Preise einzeln merken kann.
"Ich hab ungefähr 450 bis 500 Sorten. Alles geht, alles läuft, es läuft alles. Sternburg. Kostet nur 90 Cent."
"Und das teuerste?"
"Das teuerste ist, glaub' ich, 5 Euro. Ich kenne mich eigentlich nicht so gut aus mit Bieren, aber ich verkauf' die alle!"
"Gibt’s Probleme mit Lärmbelästigung?"
"Bestimmt, aber ich weiß davon gar nix. Ich habe es noch nicht mitgekriegt mit Beschwerden, normalerweise nicht. Unsere Nachbarn sind alle friedlich mit uns. Ich habe ja keine Tische draußen und so."
Spätverkaufsstellen, kurz Spätis, gab es zuerst in der DDR. In den 1960er-Jahren wurden sie dort in den Großstädten eingeführt. Der Grund: die Schichtarbeiter sollten außerhalb der üblichen Ladenöffnungszeiten auch einkaufen können. Heute haben die meisten Späti-Betreiber in Berlin einen Migrationshintergrund: drei von vier sind türkischer Herkunft. Das ist allerdings nur eine Schätzung, offizielle Statistiken darüber werden nicht geführt.
Berlin Neukölln. Dialog bei Hassan.
"Alles klar?" "Ja, bei dir auch?" "Lang nicht gesehen." "Ja, ich war sehr, sehr viel unterwegs. Arbeiten." "Warst du im Knast? Sag’s ruhig." "Nee hey, Arbeiten!"
Der Späti in Neukölln, die ‚Eck-Oase’, ist Hassans Reich. Der Kahlkopf, Mitte 50, immer einen Spruch auf den Lippen, begrüßt viele seiner Kunden mit Namen. Seine Arbeitskleidung: T-Shirt, Trainingshose, Badelatschen – als wolle er dem Klischee entsprechen, das den Bewohnern Neuköllns anhaftet. Dem Bezirk mit der mutmaßlich höchsten Späti-Dichte in Berlin.
"Es ist nicht einfach. Ehrlich, sehr schwer geworden, es gibt viel Konkurrenz, man arbeitet nur für die Miete, für Strom, für das Finanzamt, meine Motivation sind meine Kunden. Ich habe sehr nette Kundschaft, das hält mich am Leben. Sonst hätte ich längst die Lust verloren."
Als Jugendlicher kam Hassan nach Berlin, arbeitete viele Jahre als Kanalbauer. Dann machte der Betrieb Pleite, Hassan wurde arbeitslos und eröffnete seinen ersten Späti. Das war Anfang der 2000er-Jahre. Zwei Mal zog er um im Kiez, die ‚Eck-Oase’ ist sein dritter Laden. Das Sortiment reicht von A wie Alkohol bis Z wie Zigaretten. Katzenfutter und Konservendosen inklusive.
"Ich bin hier der Vater Teresa"
Die meisten Kunden sind seine Nachbarn. Die knarrende Tür führt nach nebenan, zu einem kleinen Raum, in dem geraucht werden darf und in dem sich immer ein paar Gäste aufhalten.
"Früher war Mutter Teresa, nicht? Ich bin hier der Vater Teresa. Ich habe viele Stammkunden, die von Hartz IV leben oder Rentner, die kommen nicht über die Runden. Die kommen am Tag drei Mal. Die kommen, trinken drei, vier Bier, nehmen sie mit nach Hause meistens, dann schlafen sie zwei Runden, dann kommen sie wieder, das ist wie ein Autoreifen: immer der gleiche Rhythmus. Und manchmal sage ich: 'Ey Leute, ich mache zu, ich kündige, ich verkaufe den Laden’, dann weinen die fast und sagen: ‚Hassan, du kannst uns nicht im Stich lassen, wir können ohne dich nicht existieren’. Das gibt mir Kraft. Wenn ich den Leuten helfen kann. Wenn ich nicht helfen kann, dann kann ich nicht schlafen."
Gestern hat Hassan einen Kunden ins Krankenhaus gebracht. Das Helfen, das stecke in seinen Genen. Und das Tolle sei: viele in seinem Kiez denken genauso. Menschen wie Mikie, dem er gerade eine Tasse Kaffee macht, Elektro-Andi, Holz-Michel, Menschen, die für Hassan da waren und ihm bei der Einrichtung seines ersten Spätis halfen.
"Ich sage mal so: wir sind die unterste Schicht hier. Darunter geht nicht mehr. Hier ist Endstation. Und wir haben vielen geholfen, Wohnungen zu finden, viele Kunden von mir haben keinen Strom zuhause, wir haben auch vielen auf die Beine geholfen, wir haben sechs oder sieben Leuten Wohnungen vermittelt, die waren obdachlos, aber dieses Wort gefällt mir eignetlich nicht. Jedenfalls haben wir viel geholfen, gemacht, getan, die Wohnungen eingerichtet, mal vom Trödler was genommen, von da und dort, von zuhause was mit gebracht. Jeder hat was dazu gegeben, und das ist was Gutes."
"Das hier ist ein Magnet, der zieht mich immer hierher"
Bis zu 18 Stunden steht Hassan in seinem Späti. Auch am Wochenende. Ab und zu helfen ihm Freunde und Verwandte. Aber: Seine Ehe hat das nicht überlebt. Einen Führerschein hat er auch nicht mehr – Alkohol am Steuer. Vor Jahren hat er mal gesagt, er mache weiter, bis seine Tochter mit dem Studium fertig ist. Sie hat es geschafft. Und er? Macht trotzdem weiter. Und hofft auf gutes Wetter.
"Der Winter ist eine Katastrophe. Manchmal kommen wir auch nicht über die Runden. Im Winter ist es tot. An den Zigaretten verdienst du überhaupt nichts. Nur an Getränken. Und wer trinkt denn im Winter? Ich bin trotzdem hier. Das hier ist ein Magnet, der zieht mich immer hierher. Manchmal mache ich nachts zu, gehe 'ne Runde spazieren, aber dann bin ich wieder hier."
Nächste Station: ein Späti im aufstrebenden Szenekiez von Kreuzkölln, an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln. Auch hier kann der Kunde Wein, Bier, Spirituosen und vieles mehr kaufen. Aber schon der Name des Spätis macht klar, dass hier etwas anders ist als bei den klassischen Spätis: "Dion und Gefolge".
"’Dion’ ist die Kurzform von Dionysos. Griechische Gott des Weines, der Freude, teilweise auch des Wahnsinns, der Fruchtbarkeit, und auch das Gefolge, er war ja immer mit seinem Gefolge unterwegs."
Es gibt nicht nur Getränke, es gibt auch Feinkost. Und beides möglichst regional und hochwertig hergestellt.
"Hier so Aufstriche aus der Lausitz zum Beispiel, oder die Baconjam auch vom Jürgen gemacht, der kocht das alles selber, macht das alles selber fertig."
Statt riesiger Kühlschränke und Paletten mit Bierkisten fallen als erstes lichte Regale auf. Kleine Stehtische und mehrere Sessel.
"Dion und Gefolge" ist kein klassischer Späti, länger als 20 Uhr hat er nur bei Bedarf geöffnet. Er ist eher ein Luxus- oder Edel-Späti. Andre erzählt, als sie 2017 anfingen, wurden sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. "Scheiß Hipsterladen, ihr habt ja noch nicht mal Sterni!" war eines Tages auf die Fensterscheibe gemalt.
Und es ist schon ein bisschen teurer hier. Oder?
"Ja, es geht, sage ich mal, hier kommt persönliche Beratung dazu und wenn wir jetzt mal Online-Preise vergleichen, dann auch noch die Versandkosten dazu kommen, also da sind wir jetzt nicht so weit entfernt."
An der kleinen Bar im Raum mit den Spirituosen veranstaltet Andre regelmäßig Verkostungen. Sein Favorit: Gin-Tastings.
"… das waren die Granatäpfel, und das ist sozusagen das Produkt, was es jetzt gibt."
Drei junge Männer hören aufmerksam zu. So viel muss Andre ihnen allerdings gar nicht erklären. In Sachen Spirituosen kennen die drei sich gut aus. In ihrer gemeinsamen WG haben sie eine Party-taugliche Bar. Die brauche mal wieder etwas Nachschub, erzählt Stefan, der auf den Edel-Späti aufmerksam wurde, weil seine Freundin um die Ecke wohnt.
"‚Dion und Gefolge’ hat halt ne Superauswahl, das ist halt nicht der Standard-Supermarkt, deswegen sind wir hier. Auch nicht der Standard-Späti, ich meine, du hast dich hier ja auch umgeguckt, also die Auswahl hier, insbesondere was die Spirituosen betrifft, da können die meisten Spätis in Berlin nicht mithalten."
"Das schönste Wohnzimmer des Kiezes"
Im Laufe des Abends gesellt sich Andreas, Kiezbewohner und Stammgast, zur Verkostung hinzu. Egal ob edel oder nicht, sagt er, in jedem Späti stecke doch vor allem das Bedürfnis nach sozialem Miteinander, das sei hier genauso.
"Das schönste Wohnzimmer des Kiezes. Man fühlt sich einfach sofort wohl hier. Ich bin eigentlich von Anfang an dabei, habe Andre sehr schnell kennen gelernt, wurden sehr schnell Freunde, habe ab und zu aus Spaß hinter der Kasse mit geholfen, wenn er rauchen war oder so, ist so ein bisschen Familie mit geworden. Man geht hier nicht zum Saufen her, sage ich jetzt mal, sondern schon irgendwie zum Genießen, und wenn man sich das gut einteilt, dann ist es das allemal wert. Man kann natürlich auch zum Späti gehen und sich zehn Biere reinkippen, aber: Da hat man ja auch nicht viel mehr von."
Zurück in der "Eck-Oase" in Neukölln, Hassans Reich. Es ist kurz nach 20 Uhr, die Kunden bereiten sich auf den Feierabend vor. Die einen kaufen im Späti noch das Notwendigste für zuhause, die anderen holen sich ein Getränk und setzen sich nach draußen. So auch Christian, ein junger Grafikdesigner, seit vielen Jahren Stammgast in der "Eck-Oase". Das Treiben in "seinem" Späti inspirierte ihn – zu einer Diplomarbeit über Spätis an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee.
"Genau, da war für mich auch das rein Visuelle von außen interessant, weil die sich irgendwie halt total abheben von den normalen Geschäftsstrukturen, also so wie Läden halt von außen aussehen. Meistens sind es ja irgendwelche Ketten oder große Läden, die immer das gleiche Konzept haben oder ein corporate design, das dahinter steckt, und der Späti ist halt immer irgendwie individuell. Macht halt immer irgendwie sein eigenes Ding, immer ziemlich voll, ziemlich bunt, lustige Schaufenster, lustige Namen, sind halt so Exoten im Stadtbild."
Die Spätis als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt? "Na klar", sagt Christian. "Ohne Späti kein nachbarschaftlicher Austausch, kein Leben im Kiez." Ein halbes Jahr lang beschäftigte er sich mit Spätis. Fuhr herum, zählte sie, sprach mit Betreibern und Kunden, fotografierte viel. Und kochte bzw. ließ kochen. Nur mit Waren aus dem Späti. Versuchsanordnung: zwei Sterne-Köche, acht Freunde, zwölf Euro pro Kopf. Anschließend öffentliches Speisen auf dem Trottoir vor einem Späti.
"Also wir haben im Prinzip alles gekauft, was man im Späti essen kann und haben daraus dann ein Fünf-Gang-Menü gekocht. Da konnte man schon viel zaubern aus dem Späti-Repertoire. Der Hauptgang war 'ne Bockwurst im Kindl-Bierteig auf Kartoffelpüree mit glasiertem Mischgemüse und konfierten Champignons an einer Weinbrand-Senfsauce. Also halb-lecker, … und als kleinen Zwischengang gab es ein Sekt-Gewürzgurken-Sorbet mit Chili, ja, war echt interessant. Also kann man schon viel machen aus den Essenssachen vom Späti."
Im Laden wird es plötzlich hektisch. Mitten zwischen den Kunden holen zwei Freunde von Christian einen Flachbildfernseher aus einem Karton. Minutenlang suchen sie nach den Füssen. Auch Christian hilft.
Der Fernseher gehört Hassan. In wenigen Minuten wird das Fußball-Länderspiel Frankreich gegen Deutschland übertragen. Christian und seine Freunde haben sich bei Hassan verabredet um es zu gucken. Den Fernseher stellen sie nach draußen. Innerhalb weniger Minuten sind alle Sitzplätze besetzt.
"Ja, es wird jetzt auch so ein bisschen Trend, was ich manchmal dann schon wieder schade finde, weil es so ein bisschen schon wieder den Charakter verliert. Hier war es bei Hassan noch relativ leer am Wochenende, auch im Sommer. Aber wenn du jetzt hier am Wochenende vorbei läufst, also eigentlich auch unter der Woche, im Sommer, ist es hier immer randvoll. Es war hier auch mehr so ein Generationen-Mix, jetzt ist es oft so, dass hier einfach nur noch junge Leute sitzen, dass es fast schon wieder ein bisschen unattraktiv wird."
"Ich mach mal schnell meine Bestellung, ich habe nämlich kein Guthaben."
Leidiges Thema: das Berliner Ladenöffnungsgesetz
Zurück zum Späti ohne Namen in Berlin-Schöneberg. Tamer, einer der beiden Betreiber, hat sich das Handy des Antiquitätenhändlers von nebenan geschnappt, der gerade zufällig vorbeigekommen ist. Tamer hat schon seit einem halben Jahr kein Guthaben mehr. Er muss immer warten, bis ihm ein freundlicher Mensch mal kurz das Handy gibt. Stört ihn nicht.
"Der Bäcker ist da, jeder ist doch da. Man ist doch füreinander da, oder ist das nur ein Spruch? Die kommen auch und leihen sich eben mal mein Fahrrad, wenn sie eben irgendwohin wollen, sage ich: ‚nimm mal’, und gebe ihm den Schlüssel. Man muss doch miteinander klar kommen, sonst funktioniert es doch nicht. So ein Zwergenaufstand hat doch keinen Sinn."
Hat er sich ein Mal warm geredet, kommt Tamer auf ein leidiges Thema zu sprechen: das Berliner Ladenöffnungsgesetz.
"Sonntagsverbot. Alles für die Tankstelle. Dann kannst du dir dein Becks für 12 Euro an der Tanke holen. Statt beim Späti für 'nen Sechser."
In Berlin gilt: sonn- und feiertags von 7 bis 16 Uhr dürfen die Einzelhändler nur Waren für den Bevölkerungsbedarf verkaufen: Blumen, Brötchen, Zeitungen und Milchprodukte. Von 13 bis 20 Uhr dürfen sie Waren des touristischen Bedarfs anbieten: Stadtpläne, Zigaretten, Andenken, Lebensmittel und Getränke für den sofortigen Verzehr. Läden, die diese Sortimente mischen, müssen sonn- und feiertags geschlossen bleiben. Das dürfte so ungefähr auf jeden Berliner Späti zutreffen. Die meisten Spätis öffnen trotzdem. Ein riskantes Spiel – wer erwischt wird, dem droht ein Bußgeld in Höhe von mehreren tausend Euro. Nur werden die wenigsten bisher belangt.
Durchgehend geöffnet – aus Schutz vor Einbrüchen
Es gibt sogar Spätis, die haben durchgehend geöffnet. Wie der von Tamer und Max. Allerdings nicht ganz freiwillig. Jahrelang machten sie ihren Späti zwischen 1 Uhr nachts und 7 Uhr morgens zu. Dann aber, erzählt Max, gab es innerhalb kürzester Zeit vier Einbrüche.
"Und das ist natürlich für uns immer besonders hart. Die wollen nur Zigaretten haben. Und die Zigaretten sind echt viel wert im Späti. Wenn die weg sind, dann trifft uns das richtig. Und dann haben wir irgendwann gedacht: Wir lassen den Laden einfach auf über Nacht, und haben so ein bisschen gehofft, dass wir nachts so viel Umsatz machen, dass der, der hier arbeitet, raus ist, also so plus minus null. Aber im Endeffekt hat sich das gelohnt. Wir machen jetzt sogar plus nachts."
Und vor allen Dingen: weil der Späti als einziger Laden in der Umgebung nachts erleuchtet ist, fungiert er als eine Art Kiezkontrolle.
"In der ganzen Umgebung gab es auch viele Einbrüche. Und in unserem Radius, also alles, was wir überblicken können, ist seitdem nichts mehr passiert. Viele sind uns dankbar, auch Frauen, die nachts nach Hause kommen. Die fühlen sich sicherer, es ist eigentlich für alle gut."
Da haben sogar die Nachbarn, jedenfalls die meisten von ihnen, Verständnis, wenn sich mal wieder ein Pulk Menschen vor dem Späti versammelt hat und zu laut ist.
"Hier ist mein Alles, der Späti. Wirklich"
Eine letzte Frage bleibt: was verdient ein Späti-Händler eigentlich? Im Rahmen seiner Diplomarbeit kam Christian zu dem Ergebnis, durchschnittlich 1.050 Euro im Monat. Netto. Max ist geschockt.
"Echt, so wenig, ja? Na gut, da haben wir halt ein bisschen Glück, weil bei uns halt mehr los ist. Wir sind ja zu zweit, wir können zu zweit davon leben, und wir können sogar noch ein bisschen was beiseite packen auf jeden Fall. Spätis laufen schon gut, muss ich sagen, deswegen machen es ja so viele. Deswegen gibt’s Spätis an jeder Straßenecke in Berlin. Sonst würde es ja nicht so sein."
Im Moment läuft das Geschäft gut. Dennoch denkt Max schon einen Schritt weiter. Vielleicht, sagt er, ist der Hype um die Spätis ja irgendwann einmal vorbei.
"Also, jetzt irgendwie für 20, 30 Jahre im Späti zu sein, könnte ich mir nicht vorstellen. Nicht dass wir hiermit aufhören wollen, aber es muss noch irgendwie etwas anderes dazu kommen."
Zum Beispiel eine Bar, da gibt es viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten, fügt er hinzu. Ein Späti bleibt am Ende eben doch ein Späti.
Heja, der junge Einzelhändler aus Berlin-Friedrichshain, träumt davon, dass er mit seinem Späti bald genug Geld verdient, um Verkaufspersonal anstellen zu können.
Und Hassan, der Späti-Seelsorger aus Neukölln, wird weiterhin damit leben, dass er seinen Arbeitsplatz zum Wohnzimmer gemacht hat.
"Manchmal nachts, ich mache zu, gehe 'ne Runde spazieren, aber weiß ich nicht. Kurz darauf bin ich wieder hier. Alle haben fast meine Nummer, die rufen mich an: ‚Wo bist du?, Komm', mach auf!’. Ich komme wegen einer Zigarette, ich mache den Laden auf. Hier ist mein Alles, der Späti. Wirklich. Das ist mein Alles."