Ein Visionär und Internetprophet
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Das Stedelijk Museum in Amsterdam wollte eine Retrospektive zu Nam June Paik zeigen - bevor es auch wegen Corona schließen musste. Das Haus untersucht nun Möglichkeiten, die Schau über das Internet zu zeigen. Ein Bericht von der Pressebesichtigung.
Eine geheimnisvolle Urwaldlandschaft in einem abgedunkelten Raum: Farne, Sträucher, Palmblätter - alle dunkelgrün. Und dazwischen - leuchtend, flimmernd, blitzend, wie die Augen seltsamer Nachttiere - an die 40 Fernsehbildschirme. "TV-Garden" heißt diese Installation aus der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, die derzeit Teil der Ausstellung "Nam June Paik - The Future is Now" im Stedelijk Museum in Amsterdam ist, die allerdings im Moment nicht gezeigt werden kann.
Vater der Videokunst und vielseitiger Pionier
"TV-Garden" entstand in den 70er-Jahren, so Kuratorin Leontine Coelewij: "Es ist ein futuristischer Garten. Oder, wie Paik selbst dieses Werk genannt hat: eine Videolandschaft der Zukunft. Auf den Bildschirmen sind japanische Reklamespots zu sehen, Videos, die er selbst gemacht hat. Fragmente von Konzerten. Avantgardemusik von John Cage zum Beispiel - alles durcheinander. Für Paik war das die Vision, wie Fernsehen in Zukunft aussehen könnte. Damals gab es lediglich zwei Sender. Doch Paik ging davon aus, dass wir in Zukunft Tausende von Sendern gleichzeitig sehen können. Und genau das ist durch das Internet ja auch eingetreten."
Nam June Paik. Visionär, Internetprophet, Vater der Videokunst. Bereits 1974 verwendete der in Seoul geborene Allroundkünstler den Begriff der Datenautobahn und sah voraus, welchen Einfluss die Massenmedien auf unsere Gesellschaft haben würden.
Stedelijk-Direktor Rein Wolfs: "Paik hat immer Dinge vorweggenommen, die später dann aufgenommen wurden. Er ist so einflussreich gewesen, seine Art und Weise, wie er Video manipuliert hat. Wie er Video-Clips avant la lettre gemacht hat, wie er sich schon früh auch auf diese Zeitdauer von vier Minuten ungefähr für ein Videowerk verständigt hat für sich selbst. Das sind alles Dinge, die später auch in der allgemeinen, breiteren, in der Popkultur zum Tragen gekommen sind."
Gleich im ersten Saal steht der "TV-Buddha", eines von Paiks berühmtesten Werken: Eine Buddhafigur aus dem 18. Jahrhundert sitzt vor einem Monitor und betrachtet sich selbst, während sie gefilmt wird. Ost und West kommen hier zusammen, moderne Technologie und die uralte Kunst der Meditation.
Der Einfluss von Musik auf das Werk Paiks
Der kritische Unterton: Müssen wir wirklich alles akzeptieren, was uns vorgesetzt wird? Fernsehen macht passiv und träge - auch das hat Paik vorausgesehen - und den Betrachter immer wieder aktiv miteinbezogen. Ausstellungsbesucher können die eigene Silhouette dreifarbig auf eine riesige Leinwand zaubern. Oder mit einem Empfänger über ein Magnetband streichen und ihren eigenen Sound herstellen.
Die entscheidenden Impulse für seine künstlerische Entwicklung erhielt Paik im Rheinland: In Düsseldorf lernte er Joseph Beuys kennen, schloss sich der neo-dadaistischen Künstlerbewegung Fluxus an - und wurde 1979 Professor an der Kunstakademie Düsseldorf.
Direktor Wolfs: "Paik war für Deutschland ein Fluxus-Künstler, das wird im Ausland zum Teil anders wahrgenommen, aber in Deutschland war er eben da mit Beuys und mit den anderen. Und Paik hat sehr viel mit Musikern zusammengearbeitet, wie das bei Fluxus auch der Fall war. Er wurde auch maßgeblich beeinflusst von Musikern, würde ich fast sagen, von Cage und von Charlotte Moorman und von den anderen.
Die amerikanische Cellistin Charlotte Moorman wurde zu seiner wichtigsten künstlerischen Partnerin. Zwei Performances mit ihr machten Paik weltberühmt - und entfachten einen Skandal: Denn die schöne Musikerin spielte darin oben ohne Cello. Paik selbst ließ sich zwischen Moormans Beine klemmen, von ihr über seinen nackten Rücken streichen - und das bürgerliche Publikum nach Luft schnappen, so Kuratorin Coelewij.
"Moorman hatte sich einen Namen als oben-ohne-Cellistin gemacht, in New York ist sie deshalb 1969 von der Polizei verhaftet worden. Daraufhin machte Paik für sie den 'TV Bra', einen BH aus zwei winzigen Fernsehgeräten. Mit dem ist sie dann aufgetreten."
Monumentaler Abschluss der Schau ist die "Sistine Chapel", ein Werk, das Paik 1993 auf der Biennale in Venedig im Deutschen Pavillon gezeigt hatte, das ihm den Goldenen Löwen einbrachte - und das nun erstmals wieder zu sehen ist: eine schwindlig machende Multimedia-Installation aus 34 Beamern, die Elemente aus Paiks Œuvre an Decke und Wände projezieren - sodass dem Zuschauer Hören und Sehen vergeht.
"Meine Kunst soll nicht langweilig sein", lautete Paiks Credo, "meine Ausstellungen sollen nicht so starr und öde sein wie die meisten anderen Ausstellungen, die im Museum vor sich hinstauben."