"Sie müssen die ganze Geschichte kennen"
Junge Namibier nennen sich freeborn - in Freiheit geborene. Das afrikanische Land war 100 Jahre unter Fremdherrschaft, erst unter deutscher, dann unter südafrikanischer. Unabhängig ist Namibia erst seit 28 Jahren. Die koloniale Vergangenheit wollen die Namibier nicht vergessen.
Wind überall. In Namibia ist Wüste, wohin das Auge blickt. Roter Sand und gelber Sand. Es wundert kaum, dass Namibia nach der Mongolei das am dünnsten besiedelte Land der Welt ist. Und doch war es reizvoll für die deutschen Siedler. Sie kamen, um zu beweisen: auch Deutsche können mit Schiffen das andere Ende der Welt erreichen und Gebiete zu ihren machen. 1884 begann, was 31 Jahre dauerte: die deutsche Kolonialherrschaft.
Alltag im Überfluss hieß es für die Deutschen, diesen Prunk teilten die einheimischen Volksgruppen, die Herero und die Nama, nicht. Vom opulenten Leben in der Wüste ist nicht mehr viel zu sehen. Keine 20.000 Deutsch-Namibier gibt es noch, sie machen nicht mal mehr ein Prozent der Bevölkerung aus. Und doch haben sie es an sich: sie reden deutsch, sind pünktlich und zuverlässig, werfen Müll nicht auf die Straße, essen Graubrot mit Schinkenwurst und brauen Bier. Sie sind eine Minderheit, und Hartmut Helbig aus der Hafenstadt Lüderitz sagt: das wird immer weniger.
Aufstände wurden blutig niedergeschlagen
Nur noch Fassaden erinnern an das Deutsche. Es werden Kulissen, scheint es. Obgleich es noch ein paar altdeutsch-Konservative in Namibia gibt, die der Kolonialzeit ein wenig nachzutrauern scheinen. Wer die Deutschen im Sinn hat, der muss aber auch an Tausende Tote denken. Die deutsche Schutztruppe schlug Aufstände der einheimischen Volksgruppen, der Herero und der Nama, blutig nieder. Das ist nicht vergessen.
Immer noch fordern Nachkommen der Herero Entschädigungen der Bundesregierung. Und die namibische Regierung schuf in den vergangenen Jahren Tatsachen. Städte und Straßen wurden umbenannt, Denkmäler abgeschraubt. Tangeni Amuphadi ist Chefredakteur von Namibias größter Tageszeitung , "The Namibian". Er schätzt das so ein:
"Es sieht so aus, als sei die Regierung aufgewacht. Offensichtlich will sie die kolonialen Überbleibsel loswerden, die einem ins Gesicht springen."
Weiße Namibier stammen meist aus Südafrika
Aber auch die südafrikanische Verwaltung hat Spuren hinterlassen. Von den weißen Namibiern stammen mehr aus Südafrika als aus Deutschland. Denn im Ersten Weltkrieg wurde die deutsche Kolonie von Südafrika besetzt. Nach Kriegsende entschied der Völkerbund – und teilte das Land der Südafrikanischen Union als Mandatsgebiet zu. Der deutsche Einfluss nahm ab, und es folgte eine Art Südafrikanisierung.
Nicht zuletzt waren es Gesetze der Rassentrennung, die dort gelebt werden mussten – die Apartheid reichte bis zu den roten Dünen von Sossusvlei. Der Internationale Gerichtshof musste die südafrikanische Verwaltung für illegal erklären – erst danach, 1972 nämlich, war Südafrika bereit, Südwestafrika, wie es damals offiziell genannt wurde, in die Unabhängigkeit zu entlassen. Leere Worte waren das aber. Was folgte, war ein Befreiungskampf der Unabhängigkeitsbewegung SWAPO.
Nach 100 Jahren Fremdbestimmung wurde das Land unabhängig
Generalsekretär Sam Nujoma beschrieb das in den 70er Jahren so: "Wir sind Freiheitskämpfer, wir bereiten uns darauf vor, die Macht in Namibia zu übernehmen, wenn die Zeit kommt."
Sam Nujoma wurde später der erste Präsident Namibias. Davor aber lag ein langer Kampf – mit dem Ziel, die Südafrikaner abzuschütteln. Erst im März 1990 erhielt Namibia die Unabhängigkeit – nach mehr als 100 Jahren Fremdbestimmung. Der Name Namibia wurde ausgewählt, um keines der hier lebenden Völker zu benachteiligen.
Namibia strebt nach einer eigenen Identität
Er leitet sich von der Namib-Wüste ab und wurde bei der Unabhängigkeit einstimmig angenommen. Die Regierung, die immer noch von der SWAPO geführt wird, strebt seitdem nach einer eigenen Identität. Tangeni Amuphadi, der Chefredakteur des Namibian sagt: deutsche oder südafrikanische Straßen umzubenennen, sei wenig hilfreich.
"Es hilft niemandem, wenn man versucht, Geschichte loszuwerden. Man kann das doch nicht ändern! Man muss es neu ordnen. Die Kolonialmacht Deutschland etwa kann nicht mehr sowas sagen wie 'Deutsche über alles' – wenn jemand schon patriotisch ist, dann sollte es heißen 'Namibia über alles'".
Kein Groll gegen die deutschen oder südafrikanischen Verwalter
Viele Namibier stehen hinter der Vergangenheit, so kritisch diese auch ist. Sie hegen kaum noch Groll gegen die deutschen oder die südafrikanischen Verwalter, auch kaum gegen die Weißen. In Lüderitz haben viele junge Schwarze gegen die Umbenennung der Stadt demonstriert. Denn die Deutschen gehören nach Meinung vieler genauso zu Namibia wie die Südafrikaner. So sieht es ein Passant aus der Hauptstadt Windhuk. Einfach auf der Straße befragt, was er davon hält, dass mehr und mehr Spuren der Vergangenheit im Sand verwehen, sagt er:
"Das ist Teil unserer Geschichte. Wir müssen sie mit den anderen Teilen verknüpfen. Wenn man sie einfach wegradiert, lernen unsere Kinder nicht, was hier alles passiert ist. Das wäre nicht gut. Sie müssen die ganze Geschichte kennen."
Gute Handelsbeziehungen zu Südafrika
Nach der Unabhängigkeit wurde die Uhrzeit abgeschafft, die Südafrika jahrzehntelang aufgedrückt hatte. Namibia führte die Winterzeit ein wie in Deutschland. Erst vor einem Dreivierteljahr wurde das ad acta gelegt – nun gilt wieder ganzjährig dieselbe Uhrzeit in dem Wüstenland. Denn es ist einfacher, mit südafrikanischen Geschäftspartnern zu verhandeln, wenn man nicht eine Stunde zu früh der zu spät anruft. Die Handelsbeziehungen sind gut zwischen Südafrika und Namibia. Denn ein neues Selbstbewusstsein hat sich ausgeprägt.
Junge nennen sich freeborn - in Freiheit geboren
Die jüngeren Leute sind stolz, Namibier zu sein. Sie nennen sich freeborn, in Freiheit geborene Menschen. Namibia, das gerade mal 28 Jahre alt ist, ist Mitglied der Afrikanischen Union, im Commonwealth und auch bei den Vereinten Nationen. Und nicht umsonst lautet die Nationalhymne "Nambia- land oft he brave." – "Namibia – Land der Mutigen."