Nanospikes und feinster Kaffee

Von Susanne Billig |
Das Kunstwort Bionik vereint Biologie und Technik. Bioniker übertragen ihre Ideen in technische Verfahren. Dabei geht es aber nicht um simple Kopien, sondern darum, die Grundprinzipien der Evolution zu verstehen und in Neuerungen einfließen zu lassen.
"Das ist also hier unsere große Bionik-Versuchshalle, mit zwei, einem etwas kleineren und einem recht großen Windkanal. Und wenn ich jetzt mal diese Anlage hier einschalte, dann sehen wir, dass dort eine enorme Steigerung der Rotationsgeschwindigkeit auftritt."

Eine ehemalige Fabrikhalle im Herzen Berlins. Flugzeugflügel hängen an der Decke und durch Wasserbecken gleiten Modell-Pinguine. Hier betreiben Forscher der Technischen Universität "Bionik" - sie ergründen die Natur und bilden sie technisch nach. Fachbereichsleiter Professor Ingo Rechenberg ist Vorreiter der Bionik in Deutschland und war schon als junger Mann vom Vogelflug fasziniert:

"Wenn jetzt der Luftstrom kommt, dann biegen sich aufgrund der aerodynamischen Auftriebskräfte die Federn in solch einer gestaffelten Form. Diese aufgespreizten Flügelenden, die haben nun die Eigenschaft, dass sie den sogenannten Randwiderstand beträchtlich abmindern - nämlich den Energieinhalt, den der Wirbel sonst hätte, wenn wir diese Aufspreizung hier nicht hätten."

Alt ist der Traum, wie die Vögel zu fliegen; schon der griechische Held Ikarus war davon beseelt. Doch die Sonne schmolz das Wachs seiner künstlichen Flügel, die angeklebten Federn lösten sich - und Ikarus stürzte ins Meer. Was lässt sich daraus lernen? Professor Rechenberg hat eine Windkraftanlage gebaut, die Luftverwirbelungen erzeugt und achtmal mehr leistet als konventionelle Anlagen. Seine Maschine sieht einem Vogelflügel nicht einmal von Ferne ähnlich. Dennoch:

"Es ist genau das gleiche Prinzip. Jede Schwungfeder erzeugt für sich einen kleinen Wirbel, dass sie die Strömung dann im Inneren beschleunigen. Das ist für uns gerade die richtige Bionik, nicht wahr: Nicht Äußerlichkeiten wollen wir nachahmen, sondern wir wollen versuchen, ein Prinzip zu verstehen. Wenn man‘s verstanden hat, kann man diese Wirkung auch mit durchaus anderen Formen dann auch erzeugen, was wir hier getan haben."

Im 15. Jahrhundert plante Leonardo da Vinci erste Flugmaschinen mit aerodynamisch sinnvollen Flügelprofilen. Er machte sich Gedanken über Antriebsmechanismen und Notwasserungen. Manche seiner Konstruktionen fliegen tatsächlich, wie Nachbauten zeigten. Mit seiner Flugspirale gilt Leonardo auch als Vater des Helikopters. Vielleicht stand die Libelle dem Universalgenie Pate - und genau so klein sollen die Mini-Hubschrauber werden, an denen heute Bioniker in aller Welt tüfteln.

"Fliegendes Handy, sag ich immer. Denn die Handytechnik, die gibt uns überhaupt die vielen Möglichkeiten, mit den ganz kleinen Batterien, den kleinen Kameras, und eben auch mit der Infrastruktur, die da ja schon da ist. Man muss nicht in dies Objekt noch einen eigenen Sender einbauen, sondern da kann man ja gleich alles ins Mobilfunknetz einspeisen, was ja alles schon vorhanden ist. Also mein Traum ist es wirklich, wir wollen das kleinste Micro Air Vehicle der Welt bauen - und neun Zentimeter ist zurzeit das weltkleinste."

Voller Ideen steckt die Natur - man muss sie nur erkennen. Bachforellen ummanteln sich mit einem Schleim aus Polyoxid-Ethylen, um ihr Schwimmtempo zu erhöhen - mit derselben Substanz machen Feuerwehrleute in den USA den Löschwasserstrahl schneller. Bienenwaben und Schildkrötenpanzer sind nicht zufällig sechseckig konstruiert. Verpackungsfirmen sparen heute schon Material, indem sie Oberflächen mit robusten, sechseckigen Wölbungen ausstatten.

Wo die Umwelt eiskalt ist oder glühend heiß, finden Bioniker die interessantesten Organismen. Vor kurzem entdeckte Ingo Rechenberg in der Namib-Wüste eine Spinne, die das Rad erfunden hat - sie formt Körper und Beine zu einem Kreis und rollt aktiv durch den Sand. In Extremregionen begünstigt die Evolution innovative und energiesparende Lebewesen. Und deren Tricks lassen sich - mit viel Geschick - in technische Verfahren übersetzen. Nachwuchsforscher Simon Zimmermann:

"Das ist eine Eidechse, gehört zur Familie der Skinke. Und das Besondere ist eben am Sandfisch, dass man, wenn man sich den anschaut - der glänzt unheimlich. Der hat eine ganz glatte, glänzende Schuppenhaut. Und das ist doch sehr beachtlich, gerade wenn man bedenkt, dass eigentlich sämtliche Gegenstände, die mit Sand in Berührung kommen, unglaublich schnell verschleißen und ganz matt werden."

Lange konnten Biologen den Sinn solcher Mikro-Ornamente bei Reptilien nicht erklären. Skinke tauchen blitzschnell in Dünen ein, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Sie "schwimmen" im Sand, leicht und elegant wie Fische im Wasser - hilft die Haut dabei? Das zu erforschen ist nicht einfach:

"Das Problem ist, dass man da in einem Bereich ist, wo man nicht mehr basteln kann. Das ist schon technisch sehr anspruchsvoll: Diese reliefartigen Erhebungen, wir sagen Grate dazu, die haben einen Abstand von sieben Mikrometern zueinander und eine Höhe von Null komma fünf bis ein Mikrometer. Also, ein Mikrometer ist ein tausendstel Millimeter - also diese Struktur ist sehr klein."

Simon Zimmermann erzeugt 3-D-Modelle der Hautoberfläche im Computer und lässt darauf virtuelle Kräfte einwirken. Jetzt gibt die Skink-Haut ihr Geheimnis preis:

"Also das sind jetzt zwei dieser Grate. Und man sieht eben auch hier auf den Spitzen noch mal eine ganz feine Wellenstruktur, also es sind noch mal sogenannte Nanospikes vorhanden. Wichtig sind jetzt die Relationen. Wenn man sich jetzt ein Sandkorn dazu vorstellt, ein Sandkorn hat ungefähr 100 bis 120 Mikrometer, das heißt, ein Sandkorn liegt schon auf 10 bis 20 dieser einzelnen Grate auf und berührt immer nur die Spitzen und gleitet gar nicht mehr auf der ganzen Grundfläche, sondern nur noch auf den Spitzen dort oben."

Fast ohne ihn zu berühren, kann der Skink deshalb den Sand durchgleiten. Klebrige Tonpartikel lässt das Tier in den Furchen der Nano-Ornamente verschwinden, hält sie aus der Reibung heraus und stößt sie später wieder ab. Simon Zimmermann wäre kein Bioniker, würde ihn die technische Umsetzung dieser Erkenntnisse nicht reizen:

"Interessieren tut‘s die Leute, bei denen Festkörperreibungen eine Rolle spielt und bei denen es sich um ungeschmierte Systeme handelt, in denen keine Flüssigkeit zum Schmieren verwendet wird. Eine große Anwendungsmöglichkeit liegt in Bereichen zum Beispiel von Rohrleitungen. Aber eben nicht Rohrleitungen, die Wasser fördern, sondern Granulate. In der Lebensmittelindustrie - Körner, solche Sachen. Oder auch Sand und Kiesel. Zum einen, weil Energie gespart wird, und zum anderen eben, dass der Verschleiß der Rohre hinausgezögert wird."

Das Auge - ein Photonenmessgerät. Das Ohr - ein Luftdruckwellenmessgerät. Die Nase - ein Molekülmessgerät. Fantastisch genau und empfindlich. Wie macht die Evolution das? Lässt sich ihre Optimierungsstrategie auch ins Labor übertragen? Genau dafür wurde Professor Ingo Rechenberg in der Fachwelt berühmt:

"Das gehört nämlich auch zur Bionik: dass man jetzt die Regeln der biologischen Evolution - die nämlich auch nicht einfach so Zufall sind, sondern das sind ganz raffinierte Regeln, die man in Vererbungsbüchern ja nachlesen kann, Mendelsche Regeln und was es da alles gibt - dass die im Laufe der Evolution auch so gut wie nur irgendwie möglich gemacht worden sind. Es hat eine Evolution der Evolution gegeben - und wir haben nun daraus die sogenannte Evolutionsstrategie entwickelt."

Alle Organismen pflanzen sich fort und jeder Nachkomme sieht ein bisschen anders aus: Das ist die Variation. Das schwierige Leben lässt manche Formen erfolgreicher gedeihen: Das ist die Selektion. Generation um Generation kann sich Leben auf diese Weise optimieren: Das sind die langen Zeiträume der Evolution. Und heute können diese Prinzipien helfen, die Probleme der Industriegesellschaft zu lösen.

"Kaffee reift sehr lange, er ist sehr stark abhängig von Wetter- und Bodenverhältnissen, das heißt, mit jeder Ernte schmeckt die gleiche Mischung wieder etwas anders, so dass man jedes Mal, wenn man neuen Kaffee geliefert bekommt, auch neu abmischen muss, um wieder den gleichen Markenkaffeegeschmack zu bekommen."

Michael Herdy ist Industrieforscher. Mit Hilfe der Evolutionsstrategie optimiert er Produktionsabläufe. Bislang bezahlen Markenkaffee-Firmen Experten fürs Mischen: Die wissen aus Erfahrung, welche Bohnen aus welchen Anbauländern sie in welchen Verhältnissen mischen müssen, damit der Kaffee wieder so schmeckt, wie es der Kunde erwartet. Michael Herdy beschritt einen anderen Weg: Er mischte die Bohnen nach dem Zufallsprinzip, fischte den ähnlichsten Geschmack heraus, vermengte ihn wieder nach dem Zufallsprinzip mit anderen Ernten, suchte erneut den ähnlichsten heraus. Und gelangte - per Variation und Selektion, ganz wie Mutter Natur - schon nach elf Generationen zum gelungenen Markengeschmack. Allerdings in einer ganz anderen Mischung als die Experten.

"Die Experten sind immer zur gleichen Mischung gelangt, weil sie immer wieder nach dem gleichen Muster vorgegangen sind - wenn das und das so und so schmeckt, dann muss ich das und das machen. Diese Regeln kennt die Evolutionsstrategie nicht. Und wir haben auch zwischendurch Verschlechterungen gehabt, wir haben uns nicht immer nur verbessert - das würde ein Experte auch nie akzeptieren. Aber manchmal kommt man nur durch Verschlechterungen zu weiteren Verbesserungen."

Bioniker träumen gerne, von einer bionischen Zukunft: Darin erzeugen wir kaltes Licht, wie Glühwürmchen, auf chemischem Wege. Myriaden von Nanorobotern fangen Luft-Schadstoffe auf - oder dringen bei Operationen in Gefäße und Organe vor. Materialien heilen sich selbst, wie unsere Haut. Und im Weltall leisten intelligente Aufklärungssatelliten Dienst, die vor ihren Dahinscheiden ein Nachfolgemodell gebären, ganz autonom. Wir hier unten aber - wir werden auch noch in hundert Jahren unseren Kaffee genießen: nach den Regeln der Bionik gemischt.